Als die Sonne stehen blieb

Vor 80 Jahren wurden die Kinder des Warschauer Ghettos deportiert und ermordet. Janusz Korczak war Kinderarzt und Pädagoge, er begleitete seine Schützlinge aus seinem Waisenhaus freiwillig in das Todeslager Treblinka-II, obwohl er nach Palästina hätte fliehen können. Bis in den Tod gab er den Kindern Zuversicht und Mut.

Janusz Korczak© WIKIPEDIA

Von Ester Ginsburg

Warschau, den 5. August 1942. Im Ghetto begann ein scheinbar gewöhnlicher Tag. Um 7 Uhr in der Früh wurden die Tische im „Dom sierot“, dem Haus der Waisen, gedeckt. Man freute sich dessen, was man hatte: einiger Kartoffelschalen, der trockenen Brotreste, sowie der sorgfältig in eine kleine Kanne abgemessenen Kaffeebrühe. Die Direktorin des Hauses, Stefania Wilczyńska, oder wie man sie hier nannte, Pani Stefa, sowie die Erzieher und Kinder begannen bereits mit dem Essen. Korczak, der gerade in der Nähe war, dachte darüber nach, wie man den Tag am besten gestalten kann. Das karge Frühstück näherte sich dem Ende, man begann schon die Tische zu räumen, als zwei scharfe Pfiffe, die von unten, von der Eingangstüre kamen sie zusammenzucken ließen. Für einen Augenblick herrschte die hier so unübliche unheilverheissende Stille. Und plötzlich wurde diese Stille durch das rücksichtslose Türenschlagen, sich nähernde Stiefelschritte auf der quietschenden Treppe und ohrenbetäubendes deutsches Gebell „Alle Juden raus!“ gestört. Alle Menschen im Haus verfielen in eine Schockstarre.

Die Deutschen unternahmen alles unerwartet, ohne jegliche Ankündigung. Das war ihre Strategie. An jenem Morgen haben sie die Deportation der Kinder aus 30 Waisenhäusern im Kleinen Ghetto geplant. Die Śliska-Strasse war bereits von den SS-Männern, den ukrainischen „Polizajen“ und der Judenrat-Polizei blockiert. Korczak und Stefa mussten unbedingt die Kinder beruhigen. Jetzt ging es darum, wie auch sonst, an einem Strang zu ziehen, ohne die äußere Ruhe zu verlieren. Stefa gab den Lehrern schnell das Signal, den Kindern beim Packen zu helfen. Korczak indessen besprach sich mit den Polizisten des Judenrats, er bat sie um die Zeit für die Kinder, damit sie in Ruhe packen konnten. Man gab ihnen 15 Minuten und teilte mit, dass das pädagogische Personal nicht gezwungen ist, an der Deportation teilzunehmen. Es sei ihnen freigestellt, Kinder nur bis zum Danziger Bahnhof zu begleiten.

 

„Ausflug“ in den Tod

Dass die Endstation das Vernichtungslager Treblinka sein wird, wussten die Erwachsenen, und vor allem Korczak bereits. Ende Juli begann die Massendeportation aus dem Warschauer Ghetto. Speziell für die Umsetzung der „Endlösung der Judenfrage“ wurde von den Deutschen 80 Kilometer vor Warschau das Todeslager Treblinka-II eröffnet. Dieses Lager musste unter anderem durch diejenigen „befüllt“ werden, die aus dem Ghetto deportiert wurden. Befüllt zur augenblicklichen Vernichtung.

Pani Stefa und Korczak bereiteten die Kinder wie nur möglich vor. Sie erzählten ihnen von einem Ausflug in eine Art Sommerlager. Was aber genau dort passieten wird, das konnten sie ihnen nicht sagen.

Auf die Polizisten angstvoll blickend, stellten sich Kinder in eine Kolonne, in den Händen blaue Taschen aus dem Zelttuch, die sie stelbst in der Werkstatt des Waisenhauses genäht haben. In den Taschen hatten sie ihre Lieblingsbücher und -spielzeuge mitgenommen.

Für jedes der Kinder bereitete Stefa die nötigste und die beste Kleidung aus dem, was man hatte. Sie wollte, dass die Kinder, wenn sie das Waisenhaus für immer verlassen werden, gut aussahen und sich wohl und sicher fühlten. Das war wohl das einzige, was sie für sie machen konnte. Sie und alle anderen Pädagogen waren sich einig: Kinder mussten das Haus in Ruhe und Würde und ohne Angst verlassen können, damit das genauso von den deutschen Soldaten und Polizisten gesehen und wahrgenommen wird.

Die Popularität und Beliebtheit Korczaks in Warschau war so immens, dass nach der Besetzung der Stadt weder der alte Doktor selbst, noch jemand anderer glauben konnte, dass man das Haus der Waisen anrühren wird. Sogar als man sie ins Ghetto umsiedelte, dachte Korczak immer noch, dass er die Kinder und das Waisenhaus retten können wird. Er war in ständiger Suche nach Geld und Essen für seine Schützlinge. Jetzt hatte er aber keine Wahl mehr: er war gezwungen, alle Kinder und Mitarbeiter des Waisenhauses in das komplette Unbekannte zu führen. Und trotzdem flackerte in seiner Seele die schwache Hoffnung, dass er mit seinem Charme, seiner Bekanntheit und seiner Überzeugungskraft es schaffen wird, ein wenig Brot und Medikamente für die Kleinen zu beschaffen.

Die Deutschen begannen mit dem Appell. Kinder wurden in Reihen aufgestellt, vier in jeder. Jüdische Polizisten eskortierten sie von beiden Seiten. Korczak führte die erste Reihe an. Abwechselnd trug er oder hielt an der Hand die kleine Romcza, die an Kinderlähmung litt, und an der anderen Hand hatte er den Szymonek Jakubowicz, dem er einst eine Erzählung über den Planeten Ro widmete.

Vorne vor der Kolonne wehte die grüne Fahne des Königs Maciuś mit dem goldenen Kleeblatt darauf, dem Symbol der Freude. Auf der Rückseite der Fahne auf dem weißen Hintergrund strahlte der blaue Davidstern. Die älteren unter den Kindern trugen die Fahne feierlich und voller Stolz, sie regelmäßig einander übergebend. Der König Maciuś selbst trug diese Fahne vermutlich genauso stolz, als er zu dem Ort seiner vermutlichen Hinrichtung ging.

„Wenn man die Sonne anhalten könnte, müsste man es genau jetzt tun“, schrieb Korczak kurz davor in sein Tagebuch.

 

Selbstlose Helfer

Hinter Korczak ging, zwei ältere Kinder an der Hand, die große, hochgewachsene Pani Stefa – das Herz, das Hirn, die Mutter und die Pflegerin des Waisenhauses. Nach Berichten der einstigen Zöglingen hat sie mit der Genauigkeit einer schweizer Uhr dreißig Jahre lang an der Seite Korczaks für den reibungslosen Ablauf des Haus der Waisen gesorgt – dabei bekamen die beiden keinen einzigen Groschen für diese Arbeit. Verhalten, bescheiden, mit großen traurigen Augen, war sie, wie immer, an seiner Seite, jedoch immer etwas im Hintergrund. Das britische Zertifikat für die Einreise nach Palästina in der Hand, könnte Pani Stefa ihr Leben retten. Diese Chance nutzte sie aber nicht. Wie könnte sie denn die Kinder in einer solch schrecklichen Zeit alleine lassen? Sie wird selbstredend dort sein, wo sie sind, egal was passiert. Auch Korczak hätte diese Gelegenheit. Auch er blieb aber bei den Kindern.

Pani Stefa musste bereits einige Male alleine in Korczaks Abwesenheit mit den Kindern bleiben. Das war während des Ersten Weltkrieges, als er an die Front in der Funktion des Feldarztes abkommandiert war, sowie während seiner Reisen nach Palästina vor dem Krieg. So musste sie wieder in den schwersten Ghetto-Bedingungen das Waisenhaus alleine leiten, als Korczak in das Pawiak-Gefängnis geworfen wurde, weil er sich weigerte die Armbinde mit dem Davidstern zu tragen.

Mit großer Mühe gelang es ihr damals, etwas größere Portionen Nahrung für die Kinder von dem Wohltätigkeitszentrum des Ghetto zu bekommen. Sie schaffte es, einen kleinen Garten anzubauen, in welchem die Kinder selbst die Ernte sammelten um sich davon zu ernähren. Genauso wie Korczak, bemühte sich Stefa, das Leben der Kinder zu normalisieren, in dem sie unterschiedliche Unternehmungen und Veranstaltungen organisierte. Dank ihr und Korczak blieb das Haus der Waisen für lange Zeit eine Insel, eine Oase in der eine familiäre Athmosphäre herrschte, inmitten von dem Schrecken des Krieges und des Todes.

Jedoch nicht nur der Kinder wegen blieb Stefa in Warschau und ging nicht nach Palästina. Der andere wichtige Grund war Korczak.

Es ist schwer zu sagen, ob zwischen ihm und der acht Jahre jüngeren Stefa eine Liebesbeziehung bestand. Am wahrscheinlichsten ist es, dass es eine freundschaftliche, wertschätzende und meistens auf die Arbeit bezogene Beziehung war. Korczak selbst bezeichnete ihre Verbindung als «pädagogische Liebe». Jedoch bezeugte Igor Newerly, Korczaks einstiger Sekretär, dass Stefa Korczak liebte und diese unbeantwortete Liebe ihre persönliche Lebenstragödie war.

Wie auch immer, Stefa war für Korczak stets eine Stütze und Hilfe in allem. Ihre Anwesenheit gab nicht nur den Kindern, sondern auch ihm ein Gefühl des Beschütztwerdens und der Sicherheit.

Sie kam im Rahmen eines Volontariats in dieses, damals noch kleine jüdische Waisenhaus, eine Universitätsausbildung in Belgien und der Schweiz im Rücken. Die 26-jährige widmete ihr ganzes Herz den Waisenkindern und wurde bald zur Leiterin des ganzen Waisenhauses. Esterka Waintraub, eine 13-jährige Waise, war ihre Lieblingsassistentin. Stefa behandelte sie wie eine eigene Tochter. Als Esterka 1914 aus Belgien zurückkam, wo sie, wie auch Stefa an der Universität Liège studierte, setzte sie ihre Arbeit im Haus der Waisen fort, jedoch verstarb sie nach zwei Jahren während der Typhus-Epidemie. Für alle, besonders aber für Stefa war ihr Tod eine unfassbare Tragödie. Damals versprach sie sich selbst, die Leiden der Kinder nicht an sich nah ranzulassen. Aber es gelang ihr nicht…

Darüber, das Ghetto ohne Kinder zu verlassen, dachte der Doktor erst gar nicht nach. Dabei hätte er mehrmals die Gelegenheit dazu gehabt. Das Mitglied der polnischen Wiederstandsbewegung, Kazimierz Dębicki erinnerte sich: «Im Herbst 1940 schlugen wir Korczak vor, aus dem Ghetto zu fliehen und sich bei Freunden abzusetzen. Korczak lehnte ab. Er konnte seine Schützlinge und Mitarbeiter nicht dem ungewissen Schicksal überlassen.»

Alle weiteren Rettungsvorschläge für ihn lehnte er genauso vehement und entschieden ab. Die Waisenkinder ersetzten ihm die Familie. Alle seine Unternehmungen, Bemühungen und sein Ansinnen war Kindern gewidmet. Egal, ob als Arzt, als Schriftsteller oder als Radiosprecher. Sie waren für ihn das Leben selbst. Und nun stand es ihm bevor, dies in der nun herrschenden brutalen und unmenschlichen Wirklichkeit zu beweisen.

 

Der letzte gemeinsame Gang

Stefa führte die zweite Gruppe der neun bis zwölfjährigen Kinder an. Darüber schreibt Korczaks Biograf Betty Jean Lifton in ihrem Buch „The King of Children“: „Da war Genja mit traurigen dunklen Augen, wie bei ihrer ermordeten Mutter; da war Eva Mandelblat, deren Bruder vor ihr ebenfalls im Waisenhaus lebte; da war Halinka Pinczenson, die es vorzug, mit Korczak zu gehen, statt bei ihrer Mutter zu bleiben. Neben ihnen ging Jakub, der ein Poem über Moses geschrieben hat; Leon mit einer Schatulle aus poliertem Holz; Mitek, der den Siddur seines verstorbenen Bruders in den Händen hielt. Da war die sich immer beeilende Hella; die große Hanna, die an Asthma litt; die kleine Hanna mit blassem Lächeln auf den von Schwindsucht zeugenden Lippen. Da war Mendelek, der immer wieder den gleichen schlechten Traum träumte; da war ein unruhiger Junge, der seine sterbende Mutter nicht verlassen wollte. Da war Abrasza, der die Rolle des Amal spielte. Er trug eine Geige. Da waren Irzyk, der Fakir, Haimek, der Doktor, Adek, der Festungskomandant und alle anderen Schauspieler im Stück von Rabindranath Tagore „Die Post“. Am 18 Juli 1942 wurde die letzte Aufführung dieses Stückes gegeben. Korczak wählte dieses Stück, da er überzeugt war, dass die Kinder lernen sollen, dem Todesengel mit Mut und Gelassenheit zu Begegnen. Nun gingen sie dem Pan Doktor nach, um den König Maschiach zu treffen.

Kinder wurden von den Lehrern und dem ganzen Personal des nun ehemaligen Haus der Waisen begleitet. Unter ihnen waren auch frühere Zöglinge des Hauses, die sich kein Leben ohne Korczak vorstellen konnten. Betty Jean Lifton erzählt folgendes über sie: „Da war Róża Sztokman, Mutter von Romcza, mit zwei schönen langen Zöpfen, so ganz wie ihre Tochter sie hatte, und auch ihr Bruder Henryk, der blonde, athletisch gebaute Lehrer, Liebling aller Mädchen des Hauses, der auch Kopien von Korczaks Tagebuch abtippte. Henryk hätte noch vor dem Fall von Warschau nach Russland fliehen können, blieb aber bei seinem Vater, dem alten Schneider. Da war Balbina Gryzb , deren Ehemann an diesem Tag auf der Arbeit war. Er war noch als Junge zum König des Waisenhauses gewählt. Da war Heryk Asterblum, der Buchhalter des Hauses, der dort 30 Jahre lang arbeitete; da war Dora Solnicka, Schatzkammermeisterin; da war Sabina Leizerowicz, eine Gymnastin und Schneiderlehrerin; da war Róża Lipić-Jakubowska, die selbst im Haus der Waisen aufgewachsen war; da war Natalia Poz langjährige Sekretärin des Hauses, die in der Kindheit an Poliomyelitis erkrankt war.

Hiner Stefa führte Salomea Broniatowska die dritte Gruppe mit den älteren Kindern an. Sie war eine der vier Krankenschwestern des Waisenhauses. Hinter ihr ging Pani Szternfeld mit den Jugendlichen zusammen. Sie war Erzieherin an dem Internat in der Twarda-Strasse. Da waren viele andere Mitarbeiter.

Stefania Wilczyńska

Die Jugendlichen, die die Kolonne schlossen, verstanden anscheinend, wohin man sie führte. Jedoch war auf ihren Gesichter, sowie auf den Gesichtern der anderen Kinder keine Angst zu sehen. Aber trotz des Stolzen aussehens sah man ein Zeichen der Hoffnungslosigkeit in ihren Augen. Ab und zu schauten sie fragend ihre Lehrer und Erzieher an.

Gehsteige waren voll von Leuten, meistens Nachbarn, denen es befohlen wurde, neben Ihrer Häusern zu stehen während der ganzen Aktion. Plötzlich, dem Beispiel eines Lehrers folgend, fingen Kinder, und mit ihnen nach und nach die Erwachsenen, ihr Lieblingswanderlied zu singen. „Soll der Sturm um uns herum wüten, wir werden unsere Köpfe nicht senken!“, klang und schallte es auf den Strassen.

Korczak ging und lächelte. Seine Augen waren nach vorne und nach oben gerichtet. Was ging in dieser Stunde in ihm vor? Worüber sprach er mit den Kindern? Hat er ihnen die ganze Warheit erzählt? Lehrte er sie doch immer ganz aufrichtig zu sein. Er selbst, ihr Freund und Lehrer, könnte niemals ein Kind anlügen. Bestimmt log er sie auch jetzt nicht an. Wahrscheinlich unterstützte er sie nicht so sehr mit den Worten, sondern mit der eigenen Sicherheit, Gelassenheit und seinem Lächeln.

 

Die Todeszüge

Unter der Aufsicht der bewaffneten SS-Männer und Ukrainer wurden die Kinder nach und nach durch das Tor zum arischen Territorium durchgeschoben um dann durch das andere Tor auf einen riesigen schmutzigen Platz neben den Bahngleisen verbracht zu werden. Den Umschlagplatz. Tausende von Menschen, weinend, schreiend, betend waren bereits dort, unter der erbarmungslosen Sonne leidend. Alle Familienmitglieder versuchten beieinander zu bleiben, Mütter pressten ihre Kinder an die Brust, die alten saßen wie erstarrt da. Es gab kein Wasser, keine Toiletten und keine Rettung vor den deutschen Peitschen und Flüchen.

Einer der Augenzeugen, der Schriftsteller Jehoszua Perle schrieb: „Unglücklich die Augen, die dieses Schrecken sahen. Janusz Korczak, ohne Hut, mit einem Gurt um den Mantel, in hohen Stiefeln, gebückt, geht vor, zwei Kinder an den Händen führend. Hinter ihnen gehen einige Krankenschwestern in weißen Schürzen und hinter ihnen zweihundert Kinder, frischgekämmt, dem Tode geweiht. Von allen Seiten sind sie von den deutschen, ukrainischen und jüdischen „Polizajen“ umzingelt.“

Die Nachricht, dass die Deutschen Korczaks Kinder deportieren, lief sofort durch das ganze Ghetto. Im Judenrat wusste man auch bereits Bescheid. Nachum Remba, Beamter des Judenrates, platzierte sie im weitesten Winkel des Umschlagplatzes, neben einem niedrigen Zaun. Auf dem Platz befanden sich weitere viertausend Kinder und Erzieher aus anderen Waisenhäusern. Täglich wurden sechs- bis zehntausend Menschen in die Todeszüge gepfercht und abtransportiert.

Remba plante, den Abtransport der Bewohner des Haus der Waisen bis zum Nachmittag hinaus zu zögern. Dann bestünde nämlich die Chance, dass die Kinder bis zum nächsten Tag überleben würden. Er ging zu Korczak und versuchte ihn zu überreden, mit ihm in den Judenrat zu gehen und zu bitten, dass sie eingreifen. Vielleicht würde man wenigstens ein Kind retten können. Korczak aber lehnte ab. Er weigerte sich, die Kinder auch nur für eine Sekunde zu verlassen.

Auf dem Umschlagplatz herrschte Chaos, die Menschen stöhnten und liefen entsetzt hin und her. Die Kinder von Korczak jedoch bewahrten eine gelassene Würde, keines von ihnen weinte.

Der alte Doktor lächelte sie an, für ihn war es das wichtigste, dass die Kinder wenigstens eine Stunde, wenigstens eine viertel Stunde, wenigstens noch eine Minute lang darüber, was sie erwartet nicht erfahren würden.

„Dann begann der Einschieben in die Waggons“, schreibt Nachum Remba in seinen Erinnerungen. „Ich stand neben den Polizisten, die den Durchgang der Menschen zu dem Einstieg kontrollierten, und beobachtete das Geschehen mit dem schwer schlagenden Herzen. Ich hoffte immer noch, dass mein Plan mit dem Hinauszögern des Abtransportes funktionieren würde.“

Mit Schlagstöcken und Tritten trieben die Polizajen die Kinder und Erwachsene in die Viehwaggonss, die schwer nach Chlor rochen. Und plötzlich hörte Remba, dass Schmerling, der dort anwesende Leiter der Ghettopolizei, das Eintreiben des Hauses der Waisen in die Waggons angeordnet hat. Remba spürte sein Herz nicht mehr…

„Ich werde diese Szene bis zu meinem Tod nicht vergessen“, erinnerte er sich, „das Ganze glich nicht dem Einstieg in die Viehwaggons, sondern dem schweigenden Protest gegen das Mörderregime… So eine Prozession hat noch kein Menschenauge gesehen.“

Eine Reise sollten sie antreten, aus der keiner von Ihnen zurückkam. Als sie in die Hölle von Treblinka kamen, gingen sie genauso ruhig und stolz in die Gaskammer. Erwachsene und Kinder blieben dort zusammen bis zum Ende…

Am 7. August 1942 blieb die Sonne stehen.

 

Aus dem Russischen von David Serebryanik

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