Im Interview: Der israelische Finanzminister Avigdor Lieberman

Avigdor Lieberman© ABBAS MOMANI / AFP

«Es wird keine vorgezogenen Wahlen geben!» versicherte Avigdor Liebermann trotz anhaltender Destabilisierungsgerüchte bei der Frage nach der Regierungsfähigkeit der Acht-Parteien-Koalition unter Ministerpräsident Bennett. Das Parteien-Bündnis steht angesichts anhaltender arabischer Terroranschlägeund massiver Preissteigerungen vor großen Herausforderungen. (JR)

Herr Minister, sollen wir uns auf Neuwahlen vorbereiten, wie die Mehreit der politischen Kommentatoren in Israel behauptet?

Ich denke, dass der Größteil politischer Kommentatoren sich heutzutage nicht gebraucht fühlt; möglicherweise hoffen sie deshalb auf die vorgezogenen Wahlen. Diese wird es jedoch nicht geben. Heute zählt die Koalition 60 Abgeordnete, bei Netanjahu gibt es aber viel weniger. Um das Gesetz über die Auflösug der Knesset und die Neuwahlen zu verabschieden, bedarf es 61 Stimmen; für ein Misstrauensvotum ebenfalls 61 Stimmen. Also müssen alle, inklusive des Abgeordneten Aiman Uda von der Gemeinsamen Arabischen Liste, die Kandidatur Netanjahus für den Posten des Ministerpräsidenten unterstützen (das Parteienbündnis Gemeinsame Arabische Liste (Ra'am) stellt eine arabisch-antizionistische Kooperation dar; Ende April drohte Ra'am seine Mitgliedschaft in der Regierung «einzufrieren» und somit die Koalition zu sprengen, so wurde die Möglichkeit der vorgezogenen Wahlen diskutiert, - Anm. d. Übers.). Das hätte Netanjahu vielleicht gepasst, ich denke allerdings, dass Uda nicht für Netanjahu stimmen würde… (Aiman Uda (Ayman Odeh) ist arabischer Knessetabgeordneter, der Hauptgegner der arabischer Integration in Israel, insbesondere des Dienstes arabischer Israelis bei der Polizei und IDF (israelischen Verteidigungsstreitktäften). Er spricht offen auch beispielsweise darüber, dass «über die Mauer von Jerusalem palästinensische Flaggen wehen» sollen, - Anm. d. Übers.).

Uda zeigt jedoch mit seinem Verhalten, dass er auch nicht vorhat, die gegenwärtige Koalition zu unterstützen; bei jeder Gelegenheit würde er ihr Steine in den Weg legen.

Ich hoffe, dass nach seinen neusten Aussagen Aimal Uda seinen Personalausweis auf den Tisch legt und Israel verlässt (vor dem Hintergrund der neusten gewaltsamen Unruhen und Zusammenstößen auf dem Tempelberg rief der Knesset-Abgeordnete Aiman Uda arabische Soldaten auf, die IDF zu verlassen, mit den Worten: «Werft ihnen die Waffe zurück, ins Gesicht. Sie demütigen unser Volk, unsere Familien und alle, die in die Al-Aqsa-Moschee kommen, um zu beten.» - Anm. d. Red.).

Wäre es möglich, ihn strafrechtlich zu belangen? Wurde das bereits in der Knesset diskutiert?

Diese Frage steht immer im Raum. Das Problem besteht darin, dass es nicht die Knesset ist, die die Abgrordneten strafrechtlich belangen kann, sondern die Staatsanwaltschaft. Und in solchen Fällen sind unsere Erfahrungen leider ausschließlich negativ. Bei allen Versuchen, die Knesset-Abgeordneten für eine Anstiftungshandlung, für haltlose Anschuldigungen zu sanktionieren wurden wir mit der Antwort konfrontiert, das sei natürlich unangenehm, befinde sich aber noch im Rahmen der freien Meinungsäußerung.

Ich möchte aber zurück zu den vorgezogenen Wahlen kommen. Diese wird es nicht geben, und, was ganz wichtig ist, die wären das Letzte, was der Jüdische Staat heute braucht.

Aber spätestens im März 2023 werden Sie gezwungen sein, den Haushalt für das kommende Jahr zu verabschieden. Es werden 61 Stimmen benötigt, es gibt aber keinerlei Unterstützung seitens der Opposition. Werden Sie diese eine fehlende Stimme bei der Likud-Partei oder bei der Gemeinsamen Arabischen Liste suchen?

Die 60 Stimmen werden ausreichen: um den Haushalt zu verabschieden, ist eine absolute Mehrheit nicht erforderlich.

Dabei werden bereits jetzt Kompromisse geschlossen, vor Kurzem bezüglich des Vorschlags Ihrer Partei, die Zuschüsse für die Kinderkrippe für die nichterwerbstätigen orthodoxen Juden und die Studenten der Jeschiwot zu canceln (Jeschiwa, Pl. : Jeschiwot, ist eine jüdische Hochschule, wo sich die strengreligiösen jungen jüdischen Männer mit dem Torah- und Talmudstudium beschäftigen, - Anm. d. Übers.). Diese Initiative haben Sie um ein Jahr verschoben. In den anderen Projekten strebt Ihre Partei ebenfalls die Kompromisslösungen an, damit niemand verärgert wird und die Koalition nicht zerfällt. Jetzt wird jeder Abgeordnete Sie aufsuchen und Sie und Ihre Kollegen werden sich verpflichtet fühlen, ihnen entgegenzukommen.

Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Noch während des Wahlkampfes haben wir unsere Ziele offengelegt: ein Regierungs- und Premierminister-Wechsel, eine Koalition ohne die Parteien Schas und Vereinigtes Torah-Judentum (die Schas-Partei vertritt die Interessen religiöser sephardischer Juden (Juden, die im 15. – 16 Jh. von der Iberischen Halbinsel vertrieben wurden). Vereinigtes Torah-Judentum stellt eine Allianz aus zwei orthodoxen aschkenasischen Parteien dar; aschkenasische Juden stammen aus Osteuropa, - Anm. d. Übers.). Der Finanzminister kommt aus unseren Reihen. All diese Versprechungen haben wir eingehalten und bekamen sogar einen Bonus – den Finanzausschuss.

Außerdem versprachen wir vor den Wahlen, den Rentnern, die eine Sozialzulage beziehen, die Renten auf bis zu 70 % des Mindestlohns anzuheben. Das haben wir gemacht. Wir haben außerdem versprochen, die monatlichen Zahlungen an die Soldaten um 50 % zu erhöhen. Wir haben versprochen, die Situation der Holocaust-Überlebenden zu verbessern, und wir haben ihren jährlichen Zuschuss um 60 % - von 4.000 Schekel auf 6.500 Schekel erhöht. Wir haben kürzlich den Benzinpreis um einen halben Schekel gesenkt, Zölle auf Autoteile, Möbel und Textilien abgeschafft. Jeden Tag tun wir etwas. Wir haben eine Tarifreform in den öffentlichen Personenverkehr durchgeführt: Ab Juni werden Personen über 75 Jahre von den Fahrkartenzahlungen befreit und ab dem 1. Januar 2023 fahren alle Rentner – Männer über 67 und Frauen über 62 – kostenlos mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Wir haben im Wahlkampf nicht über Kindergärten und Kinderkrippen gesprochen. Ja, ich wollte es tun, aber wenn wir vorgezogene Neuwahlen auf die eine Waagschale legen und die Entscheidung, diese Reform um ein Jahr zu verschieben, auf die andere, denke ich, dass ich eine vernünftige Entscheidung getroffen habe. Natürlich ist eine Koalition von 60 Personen nicht die bequemste, und die wichtigste Prüffrage ist: was gelingt uns schließlich? Die Knesset kehrt am 10. Mai zur Sommersitzung zurück (das Gespräch fand am 21. April statt, – Anm. d. Red.), und die Arbeit wird beginnen. Ich denke, wir werden in der Lage sein, innerhalb von zwei Monaten unsere Ergebnisse zu präsentieren. Diese Woche haben wir endlich eine Entscheidung im Finanzausschuss verabschiedet, um denjenigen zu helfen, die den Mindestlohn bekommen: Sie erhalten eine einmalige Zahlung von 1.600 Schekel. Außerdem wurde den berufstätigen Eltern von Grundschulkindern eine Steuerermäßigung von 5.300 Schekel gewährt.

Ein historisches Ereignis war die Senkung des Spritsteuer. Das war stets «die heilige Kuh». Es gab Proteste wegen den hohen Lebenskosten, das berührte aber nie die Spritpreise. Warum wurde es jetzt möglich?

Was sind hohe Lebenskosten? Das ist die Inflation. Heute liegt sie in Israel bei 4 %. In den USA sind das über 8 %, in Deutschland - über 7 %. Man sollte auf Fakten achten, nicht auf Dogmen. Beispielsweise kostet ein Kilowatt Strom in Deutschland im Vergleich zu Israel fast das Dreifache. Heute ist die Inflation nur in zwei Ländern der Welt niedriger, als in Israel: das sind die Schweiz und Japan. Dabei kann man Japan nicht mit uns vergleichen, denn dort schrumpft die Bevölkerung jedes Jahr, während in Israel die Bevölkerungswachstumsrate sehr hoch ist. Unsere wirtschaftliche Entwicklungsrate liegt bei 8,2 %, solche Zahlen gibt es in anderen Ländern einfach nicht. Neulich wurde ein Bericht der renommierten Ratingagentur Moody's veröffentlicht, in dem die Wachstumsrate unserer Wirtschaft mit der besten Note bewertet wurde...

Auch ohne Moody's wies unsere Wirtschaft im ersten Quartal dieses Jahres einen Haushaltsüberschuss auf. Daher die Entscheidung, die Spritsteuer zu senken? Weil genug Geld in der Staatskasse ist?

Der Haushaltsüberschuss betrug 24 Milliarden Schekel.Wir haben das Haushaltsdefizit bis zu 1,4 % gesenkt; eine solche Zahl gab es nie seit der Staatsgründung Israels. Ja, das kann man sagen: Es gibt genügend Geld in der Staatskasse, und wir können uns die Senkung der Spritsteuer leisten, auch wenn sie uns 1 Milliarde kostet. Zudem ist eine ganze Reihe der revolutionären Schritte geplant, die in erster Linie das Bauwesen betreffen. Vor Kurzem konnte ich mit dem Bauminister Zeev Elkin unser neues, revolutionäres Programm besprechen.

Sollte man nicht solche Worte wie «revolutionär» meiden? Weil die Revolutionen bisher auf sich warten ließen?

Früher habe ich diesen Begriff nie verwendet, jetzt tue ich das im Bezug auf das Programm, das wir vorbereiten. Als das Haushaltsbudget für 2021–2022 verabschiedet wurde, habe ich immer wieder betont, dass die Hauptaufgabe darin besteht, die Einnahmen für die Staatskasse und die Menge an freien Geldern zu erhöhen. Deshalb können wir heute bei den Ersatzteilen für Autos, Möbeln, Textilien und vielem mehr auf Zölle verzichten.

Was geschieht mit der Landwirtschaftsreform, über die so viel gesprochen wurde?

Sie ist in vollem Gange; die Ergebnisse werden wir vor dem Sommer sehen; der Gegenwind ist bei diesem Gesetz sehr stark – es gibt genug Versuche, es zu boikottieren.

Zu unseren Erfolgen zählt auch, dass es uns gelungen ist, das mächtige Supermarktnetz "Carrefour" nach Israel zu holen (Carrefour ist ein französisches international agierendes Einzelhandelunternehmen, das zweitgrößte in Europa, - Anm. d. Übers.). Ich hoffe, dass die Geschäfte dieses Unternehmens bis Juli eröffnet werden. Es ist um ein Vielfaches größer als alle bestehenden Handelsketten in Israel, das eine starke Konkurrenz hervorrufen wird.

– Apropos Carrefour… Alle unsere Supermärkte sind größtenteils koscher; Carrefour nicht. Wie wird diese Handelskette bei uns funktionieren? Werden die Supermärkte in koschere und nicht-koschere unterteilt? Sie produzieren ihre eigenen Produkte, also müssen sie Kaschrut-Inspektoren in ihren Fabriken anstellen?

Ich belehre sie nicht im Hinblick auf ihr Business. Ich denke, sie kennen sich da besser aus, als wir. Ich kenne keine Deteils, bin dennoch zuversichtlich: Sie werden einen richtigen Konkurrenzkampf auf dem israelischen Markt entfachen.

Naftali Benbett behauptete vor Kurzem, die vorgezogenen Wahlen würden alle wichtigen Errungenschaften der jetzigen Regierung nichtig machen. Worum handelt es sich konkret, welche Errungenschaften sind im Falle eines Machtwechsels bedroht?

Als ich Finanzminister wurde, betrug das Haushaltsdefizit 9,9 %, jetzt sind es 1,4 %. Wir haben all das getan, was die vorherige Regierung versäumt hat. Zum Beispiel was die Beziehungen zu Menschen mit Behinderungen betrifft. Es gab Streiks und Probleme. Jetzt haben wir alles geregelt: Wir haben eine Vereinbarung mit ihnen unterzeichnet, und alles funktioniert. Dasselbe gilt für die Invaliden der IDF; es gibt keine Proteste mehr. Die neue Regierung wird das alles abwickeln. Das Problem ist, sie wussten nicht, wie man arbeiten muss. Als ich Finanzminister wurde, betrug die Wirtschaftswachstumsrate 5 %, die Arbeitslosigkeit war ungeheuer hoch. Heute gibt es keine Arbeitslosigkeit, im Gegenteil, es fehlt an Personal, obwohl es offene Stellen im Hightech-Bereich, in der Wirtschaft und in der Hotellerie gibt. Es gibt praktisch keine Arbeitslosen; diejenigen, die geblieben sind, sind, würde ich sagen, chronische Arbeitslose, die mental nicht bereit sind, zu arbeiten; lieber bekommen sie ein paar Groschen, als arbeiten zu gehen.

Wenn wir unser Gespräch zusammenfassen: Sie sind zuversichtlich, dass uns keine vorgezogenen Wahlen erwarten, zumindest in der nahen Zukunft?

Es wird keine vorgezogenen Wahlen geben.

Herr Minister, vielen Dank für das Gespräch!

 

Das Interview führte Michail Rabinovitsch

 

Aus dem Russischen von Irina Korotkina

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