Verfasserin von „Schindlers Liste“ mit 107 Jahren verstorben: Ein Nachruf auf Carmen „Mimi“ Reinhardt

Erst im Alter von 92 Jahren erzählte Mimi Reinhardt öffentlich von der Zeit im Nationalsozialismus
© GIDEON MARKOWICZ / AFP

Oskar Schindlers Sekretärin Carmen „Mimi“ Reinhardt ist in Israel im Alter von 107 Jahren gestorben. Im Zweiten Weltkrieg tippte sie die Liste mit 1200 Namen jüdischer Zwangsarbeiter und half damit, hunderte Menschen vor dem Vernichtungstod durch die Nationalsozialisten zu retten. (JR)

Von Julian M. Plutz

Wenn eine Floskel stimmt, dann wohl diese: Die Geschichte von Mimi Reinhardt passte auch in mehrere Biografien. Am 8. April schlug das Herz der israelisch-österreichischen Jüdin das letzte Mal. Sie hinterlässt eine Geschichte von 107 Jahren. Eine Geschichte der Hoffnung und des Mutes. Aber auch der Erniedrigung und des Leides.

Geboren wurde sie 1915 als Tochter von Emil und Frieda Koppel in Wien. Ihre Kindheit war unbeschwert. Schon früh entdeckte sie ihre Leidenschaft und ihr Talent: Sprachen. Um im Studium an der Universität zu Wien besser mitschreiben zu können, lernte sie Stenografie. Eine Kenntnis, die ihr später noch einmal helfen sollte. Wien war auch die Stadt, in der sie ihren Mann kennenlernte. 1936 zog das Ehepaar ins polnische Krakau.

 

„Menschenverachtende Zustände“

Als die Nazis einmarschierten, wurden beide zunächst ins Krakauer Ghetto gesperrt. Als dieses aufgelöst wurde, kam sie ins KZ Plaszów. Allein. Ihr Mann wurde bei einem Fluchtversuch von den Deutschen erschossen. Ihr Sohn, der 1939 zu Welt kam, lernte seinen Vater kaum mehr kennen. Mit falschen Papieren konnte er mit vier Jahren von den Großeltern nach Ungarn geschmuggelt werden.

Im Konzentrationslager Plaszów kam ihr ihre Fähigkeit als Stenografin zugute. So wurde sie von den Nazis in der Lagerverwaltung eingesetzt und lernte dort Oskar Schindler kennen. Dieser war zu dem Zeitpunkt ein aufstrebender Großindustrieller, der sich mit seiner NSDAP-Mitgliedschaft Aufträge der Partei sicherte, die in Wahrheit aus Enteignungen entstammten. Doch als er die menschenverachtenden Zustände in den Lagern sah, schmolz sein Karrierewillen und wandelte sich in Mitgefühl und Wut, aber auch den festen Entschluss, so viele Menschen, wie möglich, aus den Lagern zu befreien, was er bereits im KZ Krakau tat, in dem auch Mimi Reinhardt inhaftiert war.

 

Umetikettieren der Mitarbeiter

Dort wurde die Deutsche Munitionsfabrik DEF errichtet, in der Zwangsarbeiter vor allem Granatenhülsen produzierten. Sein guter Ruf als Industrieller ermöglichte ihm lukrative Verträge abzuschließen und dadurch so viele jüdische Arbeiter anzufordern, die er benötigte und die vormals unter der Kontrolle der SS standen.

Erfolgreich konnte er die Nazis täuschen, seine Fabrik erfülle kriegswichtige Aufträge und seine Arbeiter seien unabkömmlich. Durch diese Lüge konnte er viele Ausnahmen erwirken, sobald Juden den Transport in Vernichtungslager drohten. Hierbei half auch der Zufall. Oskar Schindler nutzte die Namensgleichheit mit einem hohen SS-General, um an Informationen zu kommen und Dokumente zu fälschen. So wurden Kinder, oder Hochschullehrer zu qualifizierten Metallarbeitern umetikettiert, um so der Todeshölle zu entkommen.

Ein Wunder, dass Schindler nicht aufgeflogen ist

Als Krakau vom Arbeitslager in ein Vernichtungslager umgewandt wird, kam er ins besagte KZ Plaszów. Um seine Mission dort fortzusetzen, freundete sich Schindler mit dem Lagerkommandanten Amon Göth an, der für seine Brutalität bekannt war. Durch den direkten Draht konnte er „seine“ jüdischen Arbeiter in einem eigens errichteten Lager unterbringen. Die Arbeitsbedingungen waren etwas humaner, die von Göth angeordneter systematische Mangelernährung kompensierte Schindler mit eigenen Lebensmitteln, die er auf dem Schwarzmarkt kaufte. Denn schon damals wurden in sozialistischer Manier Nahrungsmittel rationiert und waren legal nur mit staatlichen Essensmarken erhältlich.

Er und seine Mitarbeiter riegelten selbst ihr eigenes Lager ab. Es wurden Wachtürme errichtet, falls ungebetener Besuch drohte, wurden die Arbeiter mit einem Signalton vorgewarnt, was jedoch aufgrund des engen Verhältnisses mit Amon Göth selten vorkam. Im Nachhinein scheint es ein Wunder zu sein, dass Oskar Schindler, der 1974 in Hildesheim verstarb, mit seinen Heldentaten nicht aufgeflogen ist.

 

Letzte Station Brünnlitz

Mehrmals wurde Oskar Schindler von der Gestapo vernommen, die ihn wegen Unregelmäßigkeiten, Bestechung der SS und Begünstigung von Juden verdächtigen. Ein Zeitzeuge beschreibt Schindler, den man hedonistische Verschwendungslust nachsagte, als einen charismatischen Menschenfänger. So konnte er wohl die SS überzeugen, wie die Gestapo, aber auch seine Belegschaft, die er immer als seine Mitarbeiter bezeichnete, für die er als Vorgesetzter die Verantwortung trägt, motivieren.

Im Juli 1944 wurde bekannt, dass das KZ Plaszów aufgelöst werden sollte, ebenso wie Schindlers eigens errichtete Nebenlager. Oskar Schindler fasste den Entschluss, gemeinsam mit Mimi Reinhardt, die damals noch nach ihrem verstorbenen Mann Weitmann hieß, und vielen anderen Widerstandskämpfern, wie Miecyslaw Pemper, oder Itshak Stern und den Arbeitern mit umzuziehen. Der geplante Ort war Brünnlitz, im Bezirk Zwitter, Tschechien, was kein Zufall war. Schindler war dort geboren und aufgewachsen.

 

Viele Juden vor der Vernichtung gerettet

Die SS hatte Schindler 800 Männer und 300 Frauen als Arbeiter bewilligt. Der Transport führte über Auschwitz, da eine Vorschrift verlangte, dass alle Häftlinge mindestens zwei Wochen in Quarantäne kamen, bevor sie in andere Länder verlegt wurden. In dieser Zeit entstanden die Listen der sogenannten „Schindler-Juden“, die Mimi Reinhardt abtippte. Auch ihren Namen setzte sie darauf: „Weitmann, Carmen, 15.1.1915, Schreibkraft“ steht an Nummer 279 der Liste.

Am Ende waren es 297 Frauen und 781 Männer, die so vor Auschwitz gerettet wurden. Ein Foto des Schreibmaschinendokuments, das Mimi Rheinhardt übrigens mit zwei Fingern erstellte, ist heute bei Yad Vashem öffentlich zugänglich. Von A wie Szyja Abramoczyk, bis Z wie Jenta Zwteschkenstiel verdankten die „Schindler-Juden“ der Liste ihr Leben.

 

„Er war immer gut zu den Juden“

Maßgeblich lag es auch am Vertrauen, die Mimi Reinhardt in Oskar Schindler hatte. Obwohl er oft nächtelang mit SS-Offizieren getrunken habe, sei er morgens immer pünktlich im Büro gewesen. Er war „immer gut“ zu den Juden, sagte sie in einem Interview. „Wir waren uns nicht sicher, ob Schindler uns retten kann. Aber ich habe an ihn geglaubt und deshalb wollte ich mit ihm nach Brünnlitz kommen“.

Wie sie die Liste erstellte, erzählte sie nüchtern, wie beklemmend. "Erst tippte ich die Namen der Fabrikarbeiter auf die Liste, dann die Namen von ihren Familienangehörigen und ihren Freunden. Zum Schluss meinen Namen und einiger meiner Freunde, dann war die Quote erfüllt", so Reinhardt.

 

Wiedersehen mit Oskar Schindler

Über Schindler, der in Israel als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt wurde, sagte sie in einen ihrer letzten Interviews: "Er war kein Engel. Wir wussten, dass er der SS angehörte. Aber er konnte nicht mitansehen, was man uns Juden angetan hat. Es hat ihn angewidert." Eine Frage, die sie mit ins Grab nahm, war die, weshalb es nicht „mehr Menschen wie Schindler“ gegeben hat, die Geld, Ruhm und am Ende ihr Leben riskiert haben, um Juden zu retten. Schindler, so Mimi Rheinardt, „muss ein Herz aus Gold gehabt haben“.

Nach dem Krieg fand sie ihren Sohn in Ungarn und zog mit ihm nach Tanger in Marokko. Dort lernte sie ihre zweite große Liebe, Albert Reinhardt kennen, ein Hotelier, den sie heiratete. Die Familie zog in die USA, genauer gesagt nach New York. Eine Tochter aus dieser Ehe starb im Jahr 2000.

Als Mimi Reinhardt einige Jahre später nach Wien flog, um ihre Tante zu besuchen, passierte das Unglaubliche. Es war ein warmer Tag und sie flanierten durch die Innenstadt, als plötzlich ein Mann ihren früheren Namen rief: „Carmen Weitmann?“ Es war Oskar Schindler. „Er hatte mich wiedererkannt. Er saß in einem Café mit anderen Juden, die für ihn gearbeitet hatten. Meine Tante fragte mich irritiert, woher ich diesen Mann kenne.“

 

Ein Vermächtnis der Menschlichkeit

In den letzten Jahren ist es ruhig um Mimi Rheinhardt geworden. Sie zog nach Herzlia, Israel und verbrachte ihre letzten Jahre wohlverdient in einem Altenheim. Zur Premiere des Films „Schindlers Liste“ lud sie Steven Spielberg ein. Sie sagte jedoch ab. Sie sei noch nicht bereit, den Film zu sehen. Etwas später sah sie ihn dann doch. Göth und Schindler seien sehr gut getroffen, weniger aber die Juden, befand Frau Rheinhardt: „Die waren alle zu gut gekleidet.“

Nun ist Mimi Reinhardt mit 107 Jahren gestorben. Die Erinnerung bleibt an eine starke Frau, die zur richtigen Zeit, den richtigen Menschen vertraute und so überlebte und vielen anderen Juden das Leben rettete. Vielleicht ist ihr Vermächtnis, neben dem, dass man über 100 Jahre alt werden kann, eben das: Vertrauen ehrt nicht nur, es macht uns erst menschlich. Nur so können wir gemeinsam leben. „Keep me searching for a heart of gold“, sang Neil Young. Das ist, was wir in den dunkelsten Zeiten brauchen. Mimi Reinhardt und Oskar Schindler gehörten dazu. Mögen sie in Frieden ruhen.

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