Der Einzelne und das System: Angela Merkels Erbe
Mit dem Weggang Merkels ist für Putin der letzte Ansprechpartner und Garant für die Durchsetzung seiner russischen Großmachtphantasien in Europa von der Bühne getreten. © Sergei GUNEYEV / SPUTNIK / AFP
Politik läuft durch die Zentrierung auf nur eine Person Gefahr, dass der Lebensentwurf des Machthalters zum Entwurf der gesamten Nation wird. Auch die zerstörerische Selbstverwirklichung von Angela Merkel war dafür ein Beispiel. Ihre Agenda war ein grandios angelegtes Zerstörungswerk. Sie nutzte die hysterische Kraft der Grünen für die staatsgefährdende Energiewende und die Kräfte der Antifa, um in der „Flüchtlingskrise“ ihre „Willkommenskultur“ durchzudrücken, die das jüdische Leben in Deutschland existenziell bedrohte und zunehmend bedroht. (JR)
Systeme haben keine Postadresse und dennoch existieren sie als ideelle und vertragliche Verbindlichkeiten zwischen Menschen, Gesellschaften und Nationen. Die EU ist ein solches System, die Nato ebenfalls, und natürlich ist auch Deutschland ein System, das sich im Idealfall durch Regierungskontrolle und unabhängige Gerichtsbarkeit auszeichnet. Das Individuum – man könnte auch sagen: der Mensch – hat im System einen fest zugewiesenen Platz, der sich durch die Funktion innerhalb des Systems definiert und auszeichnet. Im idealen System ist der Einzelne austauschbar, ohne dass sich dadurch das System verändern würde. Der Einzelne – sei es als Mensch oder als Nation – ist der große Widersacher des Systems.
Die Wirkungsweise von Systemen, die sich über nationale Selbstbestimmung und demokratische Prozesse erheben, konnte man recht anschaulich im Zuge der Eurokrise beobachten. Als Griechenland am 25. Januar 2015 seine Euroschulden-Eliten krachend abgewählt und eine Regierung aus Kommunisten und Rechtsradikalen ins Amt gewählt hatte, änderte sich an der Euro-Politik Griechenlands: nichts! Selbst als der damalige griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras ein halbes Jahr später eine Volksabstimmung initiierte, die ganz eindeutig die Ablehnung der Politik der Euro-Zone zum Ergebnis hatte, änderte sich in der Folge genau: nichts! Das System aus Euro und EU ging schlicht über die demokratische Willensbildung der Griechen hinweg.
Nun haben Systeme die Tendenz, schwerfällige Dickschiffe zu sein mit einem über Jahre angelegten Bremsweg. Das verleiht ihnen Stabilität und Verlässlichkeit, lässt sie aber hilflos agieren gegenüber disruptiv angelegten Konkurrenten, die auf einen einzigen Menschen hin zugeschnitten sind und die man in der Regel Autokratien, Despotien oder Diktaturen nennt. Auf das Launische und Willkürliche eines Einzelherrschers können Systeme, die in einem starren Formalismus gefangen sind, nicht reagieren. So verlässt sich das System auf sich selbst, das sich im Zuge von Vereinbarungen, Abkommen und Verträgen zurechtgeschnürt hat, kann aber nur mit moralischer Empörung reagieren, wenn Autokraten oder Diktatoren dieses Regelwerk, dessen Überbau immer das Völkerrecht sein soll, brechen.
Politik läuft durch die Hinzentrierung auf nur eine Person Gefahr, dass der Lebensentwurf des Herrschers zum Entwurf der gesamten Nation wird, und das ist nicht nur eine Eigenschaft von Autokratien und Diktaturen. Die Besonderheit von Demokratien ist, dass dieser Prozess der Engführung auf einen Herrscher mehr Zeit in Anspruch nimmt, dafür aber auch systemisch stabiler ist. Die fünfzehn Jahre Kanzlerschaft Angela Merkels sind in dieser Hinsicht ein komplettes Debakel. Je länger sie Kanzlerin war, desto tiefer und umfassender konnte sie das politische System des Landes ihrer eigenen Lebensaufgabe anpassen. Man nennt das auch Selbstverwirklichung, und genau dieser Selbstverwirklichung eines Herrschers stehen die rechtsstaatlichen Institutionen eines Landes entgegen. Aber in Deutschland widerstanden sie nicht, und das sowjetisch geprägte Selbstverwirklichungsprojekt Merkels konnte seinen Lauf nehmen. Mehr als zu Putins Statthalter in der Mitte Europas hat es dann nicht gereicht.
Wie umfassend die deutsche Kanzlerin ihre Alleingänge durchziehen konnte, wird ja an dem Umgang mit der Ukraine deutlich: Es war die deutsche Kanzlerin persönlich, die 2008 unterband, dass die Nato Georgien und der Ukraine einen Beitrittsprozess formulieren durfte. Es war die deutsche Kanzlerin, die 2014 eine militärische Unterstützung der Ukraine im hybriden Krieg mit Russland verhinderte. Es war die deutsche Kanzlerin, die genau ein Jahr nach der Annexion der Krim den Startschuss zum Bau von Nord Stream 2 gab und damit alle Bedenken der Nachbarländer in den Wind blies. Und es war wieder die deutsche Kanzlerin höchstselbst, die sich auch noch 2020/21 weigerte, die Ukraine mit militärischem Gerät aus NVA-Beständen auszustatten. Kurzum: Jede falsche Entscheidung, die zur Schwächung der Ukraine führte, geht auf die deutsche Ex-Kanzlerin zurück. Dahinter nicht die Formen eines Merkelschen Großprojekts zu erkennen, fällt wahrlich schwer.
Der disruptive Ausstieg aus der Kernkraft, die disruptive Flüchtlingspolitik, die Zerstörung Deutschlands als Industriestandort, die sogenannte „De-Nazifizierung“ der Streitkräfte und militärischen wie polizeilichen Eliteeinheiten, die Hinführung auf eine komplette Abhängigkeit von russischem Gas – all das fällt unter das große Selbstverwirklichungsprojekt Angela Merkels, das unter stehenden Ovationen ihrer Partei seinen Fortgang nahm. Und da haben wir von der faktischen Abschaffung deutscher Verteidigungsfähigkeit und der sturen Weigerung, das 2%-Ausgabenziel der Nato umzusetzen, noch gar nicht gesprochen.
Selbstzerstörung Deutschlands durch Umkrempelung des politischen Systems eingeleitet
Das Herausdrängen des Militärischen aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens hat unter Merkel Blüten getrieben, die jedem von Russland bezahlten Pazifisten die Freudentränen in die Augen hätten schießen lassen. Die Abschaffung der Wehrpflicht war dabei nur der Startschuss, in dessen Folge sich kein ranghoher Politiker noch mit Soldaten gemeinsam fotografieren lassen wollte, die Bundeswehr von Schulen und Kongressen ausgeschlossen wurde und selbst den in Afghanistan gefallenen deutschen Soldaten die Bestattung in einem Kriegsgrab verwehrt blieb. Und als die deutschen Soldaten aus einem hastig und chaotisch abgelaufenen Rückzug aus Afghanistan in die Heimat zurückkehrten, da hätte die deutsche Politik sie am liebsten klammheimlich und ohne viel Aufhebens in der Versenkung verschwinden lassen wollen. Federführend an der Demontage allen Soldatischen war übrigens mit ihren Verteidigungsministerinnen die CDU, das sollte man dabei nicht in Vergessenheit geraten lassen.
Angela Merkel fand ein politisches System in Deutschland vor, das sie spätestens im Lauf ihrer zweiten Amtszeit umzumodellieren begann, so dass es ihrer Agenda zuträglich war und sich Deutschland außerhalb des alten westlichen Wertesystems selbst zerstören konnte. Sie nutzte die hysterische Kraft der Grünen für die Energiewende, sie nutzte die Kräfte der Antifa, um die Flüchtlingskrise durchzudrücken, sie nutzte den antiwestlichen und antiamerikanischen Kurs der SPD, um Deutschland immer näher an Russland heranzurücken, sie nutzte das stalinistische Instrument des Kampfes gegen den Faschismus, um jeden Gegner aus dem politischen Feld zu kegeln und sogar demokratische Wahlen rückgängig zu machen. Sie nutzte Fridays for Future, die neuen deutschen Medienmacher und all die anderen undemokratischen Vorfeldorganisationen im Verbund mit den aktivistischen Medien, um ihr Projekt gesellschaftlich abzusichern. Vor allem aber nutzte sie die Feigheit ihrer Partei, um mit dem Versprechen des Machterhalts eben jenen zu zementieren.
Vergleicht man Angela Merkel mit ihrem großen Widerpart Donald Trump, so findet man mehr Gemeinsames, als man oberflächlich zu denken meint. Auch Donald Trumps Regierungszeit war von disruptiven Entscheidungen und Alleingängen geprägt, was ihm den nicht ganz unberechtigten Verdacht einbrachte, das US-System nachhaltig verändern zu wollen. Aber während in den USA die Präsidentschaft strikt auf zwei Legislaturperioden begrenzt ist, das föderale Prinzip eine starke Eigendynamik besitzt und die Institutionen so unabhängig agieren, dass sie den Handlungsspielraum eines Präsidenten auf Schritt und Tritt einengen, fand Angela Merkel diese beschämende deutsche Bereitschaft vor, jede Institution zum Wohlergehen des Herrschers schleifen zu wollen. Was beide, Angela Merkel und Donald Trump, ebenfalls vereint und auszeichnet, ist ihre Herkunft aus der System-Nonkonformität. Sie waren keine Parteigewächse, die auf dem langen Weg zur Macht glattgeschliffen wurden, sondern der eine kam aus der Bau- und Medienwirtschaft, während die andere eine DDR-Physikerin mit Sowjethintergrund war.
Politik der Einzelherrschaft kollabiert binnen Wochen
Im Moment werden wir Zeuge, wie eine deutsche Politik, die sich über Jahre auf eine Herrscherin allein hin ausgerichtet hatte, innerhalb weniger Wochen kollabiert. Das ist nicht überraschend, denn zum einen wird jede Ideologie irgendwann von der Wirklichkeit überholt, zum anderen musste nach dem Weggang Merkels der Druck, den nur ihre Person gegen das System aufgebaut hatte, entweichen. Sie war eine Meisterin darin, das Bedrohungsbedürfnis des Menschen, das die Politik schon immer für ihre Zwecke instrumentalisierte, von einer modulierten Irrealität aus Klimaszenarien zu besetzen, während die realen Bedrohungen so lange negiert wurden, bis der Knoten disruptiv platzte.
Positiv kann man nun ausrufen: "Endlich, die Hexe ist weg!", negativ bleibt zu bemerken, dass sich mit Joe Biden, Annalena Baerbock und Robert Habeck die Systemlinge wieder an die Herrschaft gekämpft haben. Habecks Auftritt in der Ukraine im Frühsommer 2021, sein pressewirksames Foto unterm Stahlhelm, seine bereits im Mai 2021 erhobene Forderung, die Ukraine zu bewaffnen, und vor allem Baerbocks Hinweis im Wahlkampf, sie käme ja aus dem Völkerrecht, waren Chiffren und Signale an die westlichen Länder, allen voran an die USA, dass unter einer grünen Regierung das westliche System wieder zu seiner vollen Wirksamkeit zurückgeführt wird. Und auf einmal ist dann auch das 2%-Nato-Ziel kein Dissens mehr, über das bis dahin dieselben deutschen Politiker nur laut lachen konnten.
Putin treibt den Westen vor sich her
Herrscher wie Merkel und Trump standen auf Kriegsfuß mit dem System, von dem sie sich eingeengt fühlten, aber beiden wurde die Möglichkeit ihrer Selbstausdehnung nur eine Zeit lang geschenkt. Donald Trump kurz, Angela Merkel viel zu lang. Der nächste im Bunde, Wladimir Putin, verknüpft gerade seine eigene Lebenszeit mit der Lebenszeit Russlands. Das ist brandgefährlich, denn niemand weiß, was aus Russland würde, sollte Putin stürzen. Die Überdehnung des imperialen Anspruchs war in der Geschichte meist der Anfang vom Ende des Einzelherrschers.
Ein Putin verachtet Systeme. Grundsätzliches wie das Völkerrecht, Prinzipielles wie die territoriale Integrität der Nationalstaaten, Formalismus und Verträge interessieren ihn nur solange, wie sie seinen persönlichen und imperialen Interessen dienen. Das ist das Wesen von Einzelherrschern. Solange seine Gegenüber im Westen Donald Trump und Angela Merkel hießen, die sich selbst über ihre Systeme erhoben hatten, war Krieg keine Option für ihn, hätte einer wie Trump doch ohne Probleme und ohne systemische Rückendeckung durch die Nato mit der Bombardierung Moskaus gedroht. Und diese Sprache versteht Putin. Dass mit dem Weggang Merkels der letzte Ansprechpartner und Garant für die Durchsetzung seiner russischen Großmachtphantasien in Europa von der Bühne trat und sich stattdessen wieder das System aus Formalismen und Gesprächsrunden etabliert hatte, ließ die Option auf einen Krieg für Putin immer attraktiver erscheinen. Denn ein System, das sich darauf geeinigt hat, dass Krieg eben nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, hat einem Angriffskrieg nur wenig entgegenzusetzen. Wie unmöglich dem System das Verständnis imperialer Kriege ist, wird in der durchgängigen Bereitschaft deutlich, Putin zu einem Wahnsinnigen zu erklären.
Nach der Lesart des westlichen Systemdenkens ist Krieg das Gegenteil von Politik und nicht ihre Fortführung mit militärischen Mitteln. Krieg, das ist die Hölle, und Herrscher, die Kriege vom Zaun brechen, sind dementsprechend irre oder schlicht böse. Mehr Vokabular des Verständnisses bleibt dann nicht, und bereits in ihm offenbart sich die Hilflosigkeit des Westens in dem Konflikt mit Putin. Daran schließen sich Charakterisierungen des Krieges als barbarisch, völkerrechtswidrig und verbrecherisch an, während Politik als ein diplomatischer Gesprächskreis mit der Kraft der besseren Argumente verstanden wird. Dass diese Illusion im Moment am lautesten zerplatzt, ist nicht das schlechteste, vor allem weil das Diktum des Krieges als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln weiterhin seine Gültigkeit besitzt. Zumindest für Russland und – ehrlicherweise – auch für alle anderen Groß- und Atommächte wie die USA, Frankreich oder China.
Dem Wesen des Alleinherrschers liegt es inne, den eigenen Lebensentwurf und das Schicksal seines Landes in eins gesetzt zu haben. Ob jedoch Putin seine eigene Lebenszeit mit der Weltzeit in eins setzt und ein Welteninferno zu entfachen bereit ist, darüber herrscht Unklarheit. Dabei macht Putin seine Kriegssache besser, als viele Kommentatoren glauben. Putins Umgang mit dem Westen ähnelte bisher dem eines Schulhofschlägers, der die Kinder der niedrigeren Klassenstufen vor sich hertreibt. In den letzten Wochen hat es Putin geschafft, jedes Mal den ersten Schlag zu setzen, dem der Westen dann hinterherhecheln musste. Die Truppenzusammenziehung um die Ukraine, der militärische Angriff mit Panzern und Divisionen, die kurz darauf erfolgte Aktivierung der "Abschreckwaffen", was nur ein Euphemismus für Atomwaffen ist – all das zwang den Westen immer wieder, reagieren zu müssen, statt selbst in den Angriffsmodus kommen zu können. Den Frieden in der Ukraine mag Putin nicht gewinnen können, die Hilflosigkeit des Westens hat er aber bisher geschafft, ganz vortrefflich zu offenbaren, auch wenn der gesamte Westen sich der Sanktionen wegen gegenseitig auf die Schultern klopft.
Und auch wenn der Westen Putin bereits vor seinem Waffengang in der Ukraine zugesichert hatte, nicht direkt einzugreifen zu gedenken – was von der Warte des formalistischen Systems durchaus korrekt war, Putin aber bei seiner Entscheidung für den Krieg bestärkt haben dürfte –, so muss sich Deutschland sehr schnell entscheiden, ob für die kleinen Länder des Baltikums die gleiche Zurückhaltung gilt, oder dort der Bündnisfall wirklich zwingend wäre. „Si vis pacem para bellum“, wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor. Nur: Willkommen in der Realität, denn einsatzbereit wird das deutsche Militär auf Jahre nicht sein.
Markus Vahlefeld wurde 1966 in Hong Kong als Brite geboren und studierte Philosophie in Berlin und Barcelona. Er schrieb Drehbücher und produzierte Filme und ist Autor der Bestseller Bücher „Mal eben kurz die Welt retten“ und „Macht hoch die Tür – Das System Merkel und die Spaltung Deutschlands“. Mehr auf: markus-vahlefeld.de
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