„Lieber in Deutschland ehrlich sterben als in Kalifornien verderben“

Die Tagebücher der deutschen, seit langem zum Christentum konvertierten Jüdin Hedwig Pringsheim aus Berlin werfen ein Schlaglicht auf finstere NS-Jahre: Die vor allem in der Kaiserzeit erfolgreiche Schauspielerin wollte trotz des Drängens ihrer eigenen Kinder lange Zeit nicht aus Deutschland fliehen. In letzter Sekunde konnte sie 1939 schließlich doch noch zur lebensrettenden Flucht in die Schweiz bewegt werden.

Von Theodor Joseph

Hedwig Pringsheim (1855-1942), war die Tochter der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm, ehemalige Schauspielerin und Saloniére in Berlin sowie durch ihre Tochter Katia seit 1905 die Schwiegermutter von Thomas Mann, oder, wie sie es selbst nannte, die „Schwieger-Tommy“ des berühmtesten Schriftstellers seiner Zeit. Das Verhältnis Thomas Mann/Hedwig Pringsheim war gleichwohl bestimmt von „emotionsloser Dürre“.

Hedwig Pringsheim war eine kultivierte Frau, eine „femme de lettres“, eine Frau der Briefe – und der Tagebücher. Sie war eine fleißige Tagebuchschreiberin: 57 Jahre, von 1885 bis 1941, notierte sie nahezu täglich, was ihr wichtig erschien. Und damit war sie eine bedeutende Chronistin ihrer Zeit. Hedwig Pringsheim war eine lebenskluge, souverän belesene Frau, eine weltläufige, selten mutlose, gleichwohl elegante Tagebuchschreiberin.

Der größte Teil ihrer Tagebuch-Bändchen befand sich im Nachlass von Golo Mann, Hedwig Pringsheims Enkel. Die Jahre 1939-1941 waren aus unbekannten Gründen seinerzeit entnommen worden und in den Nachlass von Katia Mann geraten, der Lieblingstochter von Hedwig Pringsheim. Herausgeberin Cristina Herbst legt – wie schon in der von ihr vorzüglich edierten Tagebuchsammlung der Jahre 1929-1934 – mit feinem Gespür die täglichen Notizen der „Nachrichtenüberträgerin“ Pringsheim frei und erschließt der Nachwelt ein literarisches Kleinod.

Die Pringsheims – welch eine Familie! Hedwig Pringsheim war seit 1878 die Ehefrau des Mathematikprofessors, Kunstmäzens und -sammlers Alfred Pringsheim. Beide führten ein gesellschaftlich bedeutendes Leben in München. Der kritische Wagnerianer Pringsheim verstand es, Wagners Partituren zu bearbeiten und war bereit, sich gar ein Pistolenduell für die Bayreuther Sache zu liefern.

Hedwig Pringsheims Tagebücher spiegeln die katastrophischen NS-Jahre wider, die über die gesellschaftlich hochangesehene, geachtete, großbürgerliche und -zügige Familie Pringsheim mit dem Jahre 1933 hereinbrach. Die Pringsheims hatten nämlich jüdische Wurzeln, waren gleichwohl ausgestattet mit einem antijüdischen Dünkel. Emanzipiert, assimiliert und akkulturiert hatten die Pringsheims – er war „confessionslos“, sie evangelisch getauft – das Judentum hinter sich gelassen und sahen sich durch die Nürnberger Rassegesetze des Jahres 1935 mit einem Mal auf ihr ererbtes Judesein zurückgeworfen. Bei Hedwig Pringsheim liest sich das in ihrem Tagebucheintrag vom 15. September 1935 so: „Abend aus Nürnberg die Eröffnung des Reichstags am Radio gehört (…) u. die schmählichsten Judengesetze zur Tatsache schmiedete!“

Alfred Pringsheim war nach dem Nürnberger Parteitag nunmehr wieder in den Stand eines Juden gesetzt und die Nazigesetze trafen ihn mit voller Wucht. Hedwig Pringsheim dagegen wurde als „Mischling“ eingestuft, was nur partiell eine Besserstellung bedeute. Die neuen Rasse-Gesetze verboten es Juden auch, „arische“ Hausangestellte zu beschäftigen. Es bedurfte guter Beziehungen, dass die „Dienstmädchenfrage“ doch noch günstig gelöst werden konnte. Das hatte zudem den Vorteil, dass das nichtjüdische Hauspersonal in allen Geschäften einkaufen konnte, um nicht „beim Juden“ einkaufen zu müssen.

 

Die jüdische Sara mit dem „arischen“ Pass

Ab August 1938 trat das Gesetz über die Änderung von Vornamen in Kraft. Juden mussten ihrem Vornamen den Namen „Israel“, Jüdinnen den Namen „Sara“ beigeben. Alfred Pringsheims Gesuch, in Anbetracht seines Alters und seiner Leistungen für das Allgemeinwohl, diesen Zusatz zu seinem Namen nicht führen zu müssen, wurde abgewiesen. Bei Hedwig Pringsheim lagen die Dinge anders: Zwar musste sie in ihrer Kennkarte, „in die saure ‚Sara‘ beißen“, doch im Pass war sie von dieser Zwangsmaßnahme befreit. Sie war „stolze Besitzerin eines arischen Passes“ und kommentierte es mit der ihr eigenen Ironie: „Wat ick mir davor koofe!!“

Ihres „arischen“ Passes konnten sich die Pringsheims nicht lange erfreuen: Im Januar 1937 bekamen sie „Besuch eines sehr höflichen und netten Beamten“, der ihre beiden Pässe abholte. Ins Ausland konnten sie fortan nicht mehr reisen und ihre inzwischen in der Schweiz lebende Tochter Katia und ihren Schwiegersohn Thomas Mann sollten sie nie mehr wiedersehen.

Aus den Tagebüchern der Hedwig Pringsheim lässt sich herauslesen, wie den Pringsheims nach und nach Heimat, Haus und Vermögen geraubt wurden. In ihren Aufzeichnungen verbindet sie auf einzigartige Weise das Familiäre und Politische. Die Nürnberger Gesetze hatten die Pringsheims wieder zu Juden gemacht, was nichts daran änderte, dass Hedwig Pringsheim Hitlers Politik mit einem gewissen Verständnis und Duldsamkeit gegenüberstand, und es Thomas Mann dadurch schwerfiel, seine Schwiegermutter weiterhin zu besuchen. Mit der national-konservativen Meinung und dem Eigensinn der alten Dame mit ihrer „zarten Bewunderung Hitlers“ konnte und wollte Mann nichts zu tun haben. Das Pringsheimsche Geld anzunehmen, hatte Thomas Mann allerdings keinerlei Bedenken. Der Gedanke, diese im Exil für seine Familie so notwendige Unterstützung in ein bisschen Dankbarkeit und Nachsicht für die beiden alten Schwiegereltern umzumünzen, kam ihm allerdings nicht.

Hitler, der „Fürer“ und seine Reden, finden in Hedwig Pringsheims Tagebuch, immer wieder verständnisvolle Aufmerksamkeit: „Er sprach 1 ¾ Stunden, sehr gut und bedeutsam, für die Außenpolitik gradezu sensationell … sehr überraschend, sehr aufregend“. (7.3.1936)

Am 30. Januar 1939 feierte das nationalsozialistische Regime, wie in jedem Jahr seit 1933, den Jahrestag der „Machtergreifung“. An diesem Abend versammelten sich in der Berliner Kroll-Oper die Abgeordneten des Reichstags zur traditionellen Sitzung. Hitlers Rede, immer wieder unterbrochen durch Begeisterungsstürme, dauerte mehr als zweieinhalb Stunden. Erst im letzten Teil seiner Rede kam Hitler auf sein eigentliches Thema zu sprechen – die „jüdische Frage“. Er ging im folgenden Passus seiner Rede deutlich über das oft Wiederholte hinaus. Er sei in seinem Leben „sehr oft Prophet“ gewesen und „meistens ausgelacht“ worden. Nun wolle er „wieder ein Prophet“ sein und sagte dann die oft zitierten furchtbaren stakkatohaft herausgeschrienen Sätze: „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“ Nie zuvor hatte Hitler seinen Vernichtungsantisemitismus so unverhohlen ausgedrückt.

Hedwig Pringsheim verfolgte diese, an Missverständlichem nichts zu wünschen übriglassende, Hitler-Rede am Radio. Ihrem Tagebuch vertraute sie nichts Bemerkenswertes an und notierte nachgerade geschäftsmäßig: „Rede von Hitler, die formal recht anständig, auch inhaltlich zum Teil nicht uninteressant, sehr selbstbewußt und von Antisemitismus flammend“. Hitler hatte für ihren Geschmack ganz offensichtlich allzu oft seinen radikalen Antisemitismus verkündet, als dass sich eine Hedwig Pringsheim von diesem Verbalradikalismus noch beeindrucken ließ.

Alfred und Hedwig Pringsheim, 1891 porträtiert von Franz von Lenbach© WIKIPEDIAr

1937 wurden den Pringsheims die Reisepässe entzogen, um eine vorzeitige Ausreise zusammen mit der wertvollen Majolika-Sammlung zu verhindern. Wertvolle Kunstgegenstände, die ebenso seltene wie kostbare Silbersammlung wurden beschlagnahmt, Ende 1938 die Bankkonten gesperrt. Das Münchner „Palais Pringsheim“ musste zwangsverkauft werden. Ihnen blieb nichts erspart: Die Drangsalierung, die Rechtsbeugungen, der blanke Raub, etwa der Lenbach-Bilder der Familie, die erst in jüngster Zeit wiederaufgefunden werden konnten.

Am 21. November 1938 wurde die Pringsheimsche Wohnung geplündert, die Exponate, wie es euphemistisch hieß, zur „Sicherstellung von Kulturgütern“ beschlagnahmt. Hedwig Pringheim notierte im Tagebuch: „Nun geschah’s! Um ½ 9 früh drangen 4 Männer von der ‚Politischen‘ bei uns ein, mit Packern und räumten unsere Wohnung aus, verstauten Bilder, Kunst- und Kulturbestand, Silbersammlung etc. in Kisten und in unten wartende Möbelwagen geschleppt. Die ‚Herren‘ taten ihre Pflicht u. waren im Ganzen recht anständig. Die Procedur dauerte den ganzen Vormittag bis 4 Ur[!] …“

 

Fast Gleichmut

Das Raubgut wurde der Bayrischen Kunsthandelsgesellschaft zur Aufbewahrung übergeben und war für das Hitler-Museum in Linz bestimmt. Nachdem die Möbelpacker die Wohnung verlassen hatten, schrieb Hedwig Pringsheims ihrer Tochter Katia in einer Mischung aus Zynismus und Bitternis: „Also: wir sind gesund, gefaßt und tapfer. Es wird uns weiter nichts geschehen. Man hat uns freundlichst erleichtert: Besitz ist Last …“

Die Majolika-Sammlung wurden im Sommer 1939 in zwei Teilen bei Sotheby’s in London versteigert und ergab insgesamt rund £ 19.500, was umgerechnet etwa 234.000 RM entsprach. Vom Erlös erhielten die Pringsheims einen bescheidenen Anteil mit der Erlaubnis diesen in die Schweiz zu transferieren. Nach seiner „Reichsfluchtsteuerakte“ hat Alfred Pringsheim nach heutigem Kurs 2.479.263 Euro bezahlt. Und das war nicht alles.

Als man den Pringsheims das gesamte künstlerische Inventar ausräumte, waren gerade einmal elf Tage vergangen, dass brauner Mob reichsweit einen furchtbaren Judenpogrom veranstaltete, die sogenannte „Reichskristallnacht“. Im Tagebuch Hedwig Pringsheims werden die Ereignisse so wiedergegeben: „München steht Kopf, da der von einem 17jährigen jüdischen Idioten ermordete arme Sekretär der deutschen Botschaft in Paris wirklich gestorben ist; u. nicht nur in München, sondern in Alldeutschland förmliche Progrome (!) ausgebrochen scheinen“. Sie blieb an diesem Tag „lieber zuhaus“. Die Ereignisse selbst nahm sie scheinbar gelassen zur Kenntnis als entspräche es einem „normalen“ Alltag im NS-Kalender. Von den Ausschreitungen blieben die Pringsheims unbehelligt. Es gab ja nichts mehr, was NS-Vandalen hätten zerschlagen oder rauben können. Der 10. November 1938 endete für sie so: „Abend gelesen u. Nachrichten. Scheußlich“.

 

Keine Lust auf Flucht

Katia Mann versuchte ebenso verzweifelt wie ergebnislos, ihre Eltern zur Auswanderung zu bewegen. Am 25. November 1938 schreibt ihr die Mutter: „Schau mal, Kind: wie wollen auch wirklich nicht. Überleg’s dir: wir sind zu alt, zu lebensunmutig, um uns zu transplantiren und in der Fremde ein neues Leben zu beginnen.“ Und weiter dann in illusorische Verblendung, als wäre das bislang Erlittene nicht schon schlimm genug gewesen: „Im übrigen ist wol nicht, wie du meinst manches übertrieben. Das gibt’s garnicht, das kann man garnicht. Aber ich habe gelernt, historisch zu sehen und zu denken, weiß also, daß alles vorübergeht. Ob man’s erlebt, ist amende nicht so wichtig“.

Emigration schlossen die alten Pringsheims kategorisch aus: „Ach du Dummerl, du kannst doch nicht im Ernst wänen, daß wir Uralten mit fast 88 und 83 Jahren uns noch, und dazu one Geldmittel, uns noch auf die Auswanderbeine machen können“. Und dann: „Lieber in Deutschland ehrlich sterben“, beschied sie ihre inzwischen in Los Angeles lebende Tochter, „als in Kalifornien jämmerlich verderben“.

Schließlich doch noch die Rettung im Oktober 1939, dank wundersamer Unterstützung durch einen „netten gefälligen“ SS-Sturmbannführer, am „allerletzten Tag“, und mit dem letzten Zug, an der Grenze noch drangsaliert, ins Züricher Exil. An ihre Tochter Katia schrieb Hedwig Pringsheim am 10. Dezember 1939 diese bemerkenswerten Zeilen über die Umstände der Ausreise in die Schweiz: „Nun war dieser Mann, trotz Ober-Nazi, ein liebenswerter, sehr gutartiger, verständnisvoller, und dazu noch ein hübscher jüngerer Herr, der sofort bereitwillig sagte: ‚das will ich schon machen!‘“

„Gott segne den Obersturmführer!“

Zwei Tage später hatten die Pringsheims ihre Pässe und trafen am 31. Oktober 1939 in Zürich ein. Einen Tag später war der letzte Einreisetermin abgelaufen und die Schweiz wäre ihnen verschlossen geblieben. Hedwig Pringsheim dazu: „Gott segne den Obersturmführer! (Sie sind nämlich keineswegs alle Schweine, wie es ein irriger Glaube wänt).“

Nachdem ihr Mann Alfred am 25. Juni 1941 gestorben war, fiel Hedwig Pringsheim in Apathie bei zunehmender Verwirrtheit und starb am 27. Juli 1942.

 

Hedwig Pringsheim: Tagebücher 1935-1941. Bd. 9. Hrsg. u. kommentiert v. Cristina Herbst, Wallstein Verlag 2021, 861 S., 49,90 Euro.

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