Erol Ünal: Der Abtrünnige
Der türkische Aussteiger Erol Ünal berichtet aus seinen 15 Jahren in Moscheegemeinden in Deutschland und welche Rolle dort der Antisemitismus spielt. Seine Einblicke in eine Welt von Fundamentalisten und türkischen Rechtsextremen sind nun als Buch erschienen.
Erol Ünal hat es geschafft, sich von einem Hinterhofmoschee-Gänger zum Agnostiker zu wandeln. Der in Baden-Württemberg aufgewachsene Türke beschreibt in seinem Buch „Der Abtrünnige. 15 Jahre in Moscheegemeinden.“ wie es zu seinem Sinneswandel kam. Dem Leser wird nicht nur Einblick in eine, sondern gleich mehrere Parallelgesellschaften geboten, denn die Moscheegemeinden in Deutschland sind bunt und vielfältig. „Der Eintritt in die Parallelgesellschaft“ ist deswegen auch ein treffender Titel für das erste Kapitel des Buches, in dem der Initiationsritus der Beschneidung beschrieben wird, der ihn erst zu einem vollwertigen Mitglied der „türkisch-muslimischen Community“ macht, und in einer Esslinger Hinterhofmoschee der Millî Görüş durchgeführt wurde. Auf diese einleitende Anekdote folgen zehn Kapitel, in denen Önal seinen religiösen Werde- und Abgang vom Islam nachzeichnet.
Doch er lässt nicht nur eigene Erfahrungen mit einfließen, sondern auch die Erlebnisse seines Bruders Ömer und die von Verwandten und Freunden, anhand derer die volle Bandbreite der unterschiedlichen Strömungen der türkisch-muslimischen Gemeinden in Deutschland aufgezeigt wird. Es wird deutlich, dass eine Moschee mitnichten bloß ein Ort zum Beten ist, sondern darüber hinaus Einkaufsmöglichkeiten, ein Friseur, etwas zum Essen angeboten wird. Eine selbsterrichtete Parallelgesellschaft, mitten in Deutschland, die alles „Notwendige eines Zusammenlebens“ zu bieten hat. Den Moscheeverbänden wird jeweils ein Kapitel gewidmet und die jeweilige Geschichte und politisch-religiöse Ideologie aufgezeigt. Unterschiedlich sind diese in Äußerlichkeiten, der Autor verwendet gar den Ausdruck „Uniformen“, um dies zu beschreiben. Damit meint er zum einen die Art der Kleidung, aber auch die Form der Bärte und der Begrüßungen. Ein Engagement in der Gemeinde kann auch förderlich für die eigene berufliche Karriere sein, oder umgekehrt, diese auch zerstören.
Die türkischen Nazis von den „Grauen Wölfen“
Das erste Kapitel zu den Moscheegemeinden widmet sich den nationalistischen „Grauen Wölfen“. Ünals Vater ist ein glühender Anhänger dieser türkischen Nazis. Er war es auch, der seinen siebenjährigen Sohn in einen Korankurs steckte, und den ersten Schritt zur „Indoktrinierung“ einleitete. Weil ihn der Kurs langweilte, fing er an diesen zu schwänzen und fand über einen Schulfreund zu einem anderen Korankurs, der in einer Gemeinde vom Islamverband Millî Görüş, der seit Jahren im Verfassungsschutzbericht erwähnt wird, stattfand. Das darauffolgende Kapitel widmet sich eben jener Millî Görüş. Mit einer Abspaltung von Millî Görüş, der mittlerweile in Deutschland verbotenen Kaplan-Gemeinde, befasst sich ein kürzeres Kapitel. Hierzulande ist einigen vielleicht noch Metin Kaplan, der Kalif von Köln, bekannt. Als nächstes werden die Sekten der „Süleymancilar“ und der „Menzil“ thematisiert. Erstere führen „Jahrtausende alte Praktiken […], die im Geheimen“ praktiziert und weitergegeben werden. Dazu zählt auch das sogenannte „Dhikr“, ein mystisches Element, das „bei Gott vereinfacht ausgedrückt ein gutes Wort für den Betenden“ einlegen, bedeutetet.
Das Kapitel über „Menzil“ führt in eine Derwisch-Tekke (Türkisch: Orden). Der größte Ableger in Deutschland sitzt in Castrop-Rauxel. Ünal bekommt jedoch keine Erleuchtung, sondern ist durch nicht ausreichenden Platz im Gebetsraum auf seinen Allerwertesten konzentriert. Eine lustige Episode, in dem sonst eher trocken geschriebenen Buch.
Danach wird es wieder ernster. Es geht um den mit ca. 900 Gemeinden in Deutschland vertretenen Moscheen-Dachverband DITIB, der seinen Sitz in Köln hat. Dieser ist direkt dem türkischen Präsidium für Religionsangelegenheiten und damit der türkischen Regierung unterstellt. Von einem „Ort, der oft von liberalen Muslimen, Aleviten oder Muslimen, die keiner Gemeinde oder Sekte angehören, besucht wurde“ zeichnet Ünal dessen Weg zum Sprachrohr der konservativen bzw. der Islamisten nach. Man muss wissen, dass Kemal Atatürk, der laizistische Staatsgründer türkischen Republik, dieses Ministerium einst ins Leben rief, und es bis dato die Freitagspredigten der deutschen Ditib-Moscheen herausgibt.
Die „letzte Station in meinem (Ünals) Marathon“ handelt von der Gülen-Gemeinde. Diese ist nach ihrem in den USA lebenden Oberhaupt Fethullah Gülen benannt. Dessen politischer Ziehsohn war lange Recep Tayyip Erdoğan, bis es zu deren Bruch kam. Das Symbolbild für deren gescheitere Beziehung ist der gescheiterte Putschversuch vom 15. Juli 2016. Die Gülen-Anhänger befürchteten, nachdem sie den Marsch durch die Institutionen vollbracht und Erdogan zur Macht geholfen hatten, ihre Macht einzubüßen und suchten Rettung in einem dilettantischen Putschversuch. Damit ist die These, hinter dem Putsch stünden die letzten Verteidiger des Laizismus, und keine konservativen Muslime, obsolet. Seitdem gelten Gülen und seine Anhänger als Staatsfeinde.
Das dubiose „House of One“
Ünal nahm jahrelang an Gesprächszirkeln in der Gülen-Gemeinde teil und ist mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass diese „eine Agenda vorantreibt, die weder etwas mit freiheitlichen noch demokratischen Werten gemein hat.“ Über Gülen meint er, dass dieser nicht der „in der westlichen Welt oft als liberale, friedliche muslimische Prediger“ sei. Für Ünal ist es mehr als befremdlich, dass die Bundesregierung das interreligiöse „House of One“ mit mehreren Millionen Euro fördere, obwohl die Gülen-Bewegung involviert sei. Bei dem „House of One“ handelt es sich um ein interreligiöses Projekt. Unter einem Dach sollen eine Kirche, Synagoge und eine Moschee Platz finden. Der Grundstein ist Ende Mai auf dem Petriplatz im Zentrum von Berlin gelegt worden.
Das eher unbekannte Theaterstück von Erdoğan, das er zwischen 1975 und 1980, also während seiner Zeit als Jugendvorsitzender der MSP, der Vorgängerpartei der AKP, schrieb und den Titel „Mas-Kom-Yah“ trägt, wird erwähnt. Die Kürzel „Mas-Kom-Yah“ stehen für „Mason, Kümünist, Yahudi“ und bedeuten „Freimaurer, Kommunist und Jude“ und „strotz nur so von antisemitischen, antikommunistischen und islamistischen Vorstellungen“.
Im letzten Teil geht es um die Partei des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan, die AKP. Diese hat es geschafft, konservative Muslime und Nationalisten an einen Tisch zu bringen, um den türkischen Staat schrittweise von seinen laizistischen Grundpfeilern zu entfernen.
Günal beschreibt auch, wie er seine gelebte Identität, die auf dem Islam und dem türkischen Nationalismus basierte, verlor und schließlich den Absprung schaffte. Er vermeidet eine Pauschalisierung von Moscheebesuchern und weist auf die Gefahren einer Indoktrination von Kindern und Jugendlichen durch die Vermischung von islamistischer und nationalistischer Ideologie hin.
Erol Ünal: Der Abtrünnige.
15 Jahre in Moscheegemeinden.
Meine Einblicke in eine Welt von Fundamentalisten und Rechtsextremen über Radikale bis zu Sufis. Angelika-Lenz-Verlag, Neu-Isenburg 2021, 256 Seiten,
19,90 Euro
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