Die Damaskus-Affäre
Eine Ritualmordanklage gegen in Damaskus lebende Juden im Jahr 1840 führte zum Tod und zur Folter eines Teils der zu Unrecht Anklagten. Der vor Vorverurteilung und Fehlern nur so strotzende Fall zog derart große Kreise, dass sich selbst die damaligen europäischen Großmächte in den nebulösen Justizskandal einschalteten.
Moritz Daniel Oppenheim: Jüdischer Gefangener in der Damaskusaffäre (Gemälde 1851).
Die Damaskus-Affäre ging als die erste Ritualmordanklage gegen die Juden auf islamischem Boden in die Weltgeschichte ein. Zuvor waren antisemitisch motivierte Ritualmordbeschuldigungen ausschließlich in christlichen Ländern bekannt geworden. Die Affäre war auch der traurige Beginn einer ganzen Reihe von Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden in der islamischen Welt. Bis zum heutigen Tage erzählt man sich in Syrien, dass dort im 19. Jahrhundert ein Priester und sein Diener von Juden zwecks Blutgewinnung in einem religiösen Ritual zum Passahfest abgeschlachtet wurden. Weltweit hält sich hartnäckig das absurde Gerücht, dass Juden durch nicht-jüdische Menschenopfer und das Trinken von Blut versuchen würden Gott näherzukommen.
Am 5. Februar 1840 verschwanden der aus Sardinien stammende Mönch Pater Tomaso und sein muslimischer Bediensteter in Damaskus. Seine Ordensbrüder meldeten beide Männer noch am selben Tag als vermisst und wandten sich an den für die Katholiken in Syrien zuständigen französischen Konsul Ratti-Menton mit der Bitte, den Fall aufzuklären. Pater Tomasos Ordensbrüder waren es auch, die als Erste einen jüdischen Ritualmord hinter dem Verschwinden der beiden Männer vermuteten, da Bewohner des jüdischen Viertels ihnen gegenüber behauptet hatten, Pater Tomaso dort am Vorabend noch gesehen zu haben. Insbesondere der Ordensbruder Pater Tusti, ein stadtbekannter fanatischer Judenhasser, war der Überzeugung, die Juden hätten die beiden Männer umgebracht, da sie das Blut von Menschenopfern für das bevorstehende Pessachfest benötigt hätten.
Pater Tomaso war als Arzt und Apotheker unter den Einwohnern von Damaskus bekannt und beliebt. Sowohl Juden als auch Moslems zählten zu seiner Stammkundschaft. Ein Zeuge erzählte den Ermittlern nach dessen Verschwinden, eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen ihm und einem türkischen Maultierhändler mitbekommen zu haben. Bei dieser habe sich Pater Tomaso abfällig über den Islam geäußert und damit den gläubigen Muslim verärgert. Der habe daraufhin gerufen: „Dieser Hund eines Christen wird durch meine Hand sterben!“ Nur kurze Zeit nach seiner Aussage fand man den Zeugen, einen türkischen Kaufmann und Moslem, erhängt auf. Ob er durch seine eigene Hand oder durch die von Dritten starb, ist bis heute nicht bekannt.
Hinrichtung auch ohne Beweise wurde abgelehnt
Der französische Konsul hielt die Behauptung der Ordensbrüder, die Juden der Stadt seien für das Verschwinden von Pater Tomaso und seinem Knecht verantwortlich, für berechtigt und übergab die Untersuchung des Vermisstenfalles dem örtlichen Gouverneur Sherif Pascha. Dieser ließ alsbald einen jüdischen Barbier namens Salomon Negrin festnehmen und foltern. Unter Folter gab der schließlich an, er habe den Pater und seinen Diener am Tag ihres Verschwindens in ein jüdisches Haus gehen sehen. Nach dieser Aussage wurden zunächst acht der gesellschaftlich am meisten geachteten Juden des Viertels verhaftet. Mit Hilfe von Folter, Erpressung und Nötigung versuchte die Polizei, sie zum Geständnis des angeblichen Ritualmordes zu bewegen. Einer von ihnen, ein 80-Jähriger, verstarb dabei. Ein anderer trat zum Islam über, um weiteren Strapazen zu entgehen. Die Übrigen legten trotz Folter nicht das gewünschte Geständnis ab. Um den Druck weiter zu erhöhen, ließ Sherif Pascha auf Geheiß des französischen Konsuls Benoît Ulysse de Ratti-Menton 63 jüdische Kinder als Geiseln nehmen, um die Inhaftierten doch noch zu einem Geständnis zu bringen. Der Gouverneur bat außerdem den ihm übergeordneten Generalgouverneur von Ägypten, Muhammad Ali Pascha, um Erlaubnis, die angeklagten Juden auch ohne Geständnis und sonstige Beweise hinrichten zu lassen, was dieser jedoch ablehnte.
Sir Moses Montefiore aus England, im August 1840 nach Alexandria entsandt, um eine unabhängige Untersuchung des Falles zu erzielen.© WIKIPEDIA
Im gesamten Nahen Osten verbreitete sich währenddessen das Schauermärchen vom mordenden und bluttrinkenden Juden, und es kam zu Pogromen gegen zahlreiche jüdische Gemeinden. In Damaskus verwüstete ein aufgehetzter Mob eine Synagoge und zündete die sich darin befindlichen Thora-Rollen an. Die jüdischen Gemeinden in Europa und den USA solidarisierten sich nach den Ausschreitungen öffentlich mit ihren bedrohten Glaubensgeschwistern in Nahost. 15.000 amerikanische Juden demonstrierten in sechs Großstädten der USA für die Freilassung der angeklagten Juden in Damaskus. Auch in Paris und London gingen Juden für ihre gefangenen Glaubensbrüder in Syrien auf die Straße.
Österreich hilft
Der französische Justizminister Adolphe Crémieux konnte die britische Regierung unter Lord Palmerston schließlich dazu bringen, sich in den Fall rund um den verschollenen Mönch einzuschalten. Neben den Briten engagierte sich vor Ort lediglich der österreichische Konsul von Damaskus, Merlatto, für die Freilassung der inhaftierten Juden. Er erhob gegenüber dem französischen Konsul, Benoît Ulysse, schwere Vorwürfe. So unterstellte er ihm unter Anderem, antisemitische Hetzschriften an die Bevölkerung von Damaskus verteilt zu haben, um den gesellschaftlichen Hass auf die Juden zu schüren.
Der achte Präsident der vereinigten Staaten, Martin van Buren, ließ den US-Konsul in Ägypten offiziell Protest gegen die Inhaftierung der Juden einlegen. Außerdem wurden auf Geheiß des Londoner Bürgermeisters mehrere Vermittler, darunter auch der Orientalist Solomon Munk aus Frankreich und Sir Moses Montefiore aus England, im August 1840 nach Alexandria entsandt, um eine unabhängige Untersuchung des Falles zu erzielen. Nach wochenlangen Verhandlungen mit dem ägyptischen Gouverneur konnten sie seine Zusage erwirken, die Gefangenen bedingungslos freizulassen und ihre Unschuld öffentlich zu verkünden. Danach reisten sie nach Konstantinopel weiter und erhielten dort auch vom Sultan die offizielle Erklärung, dass die Anklage auf Ritualmord fallengelassen werde. Leider waren zu diesem Zeitpunkt bereits vier der mittlerweile dreizehn Hauptangeklagten im Gefängnis zu Tode gekommen. Die Restlichen wurden wieder in die Freiheit und Arme ihrer Familien entlassen. Das Schicksal von Pater Tomaso und seinem Leibeigenen konnte bis heute nicht aufgeklärt werden. Auch ihre Leichen wurden nie gefunden.
Die Damaskus-Affäre zeigte den jüdischen Gemeinden weltweit ihre Gefährdung und Isolation in nicht-jüdischen Ländern auf. Dies hatte ein stärkeres Zusammenrücken der jüdischen Weltgemeinschaft und eine internationale Solidarisierungswelle mit den Juden zur Folge. So wurden noch während der Affäre weltweit viele – zum Teil bis heute bestehenden – jüdische Zeitungen gegründet, die Gegen-Narrative schaffen wollten zu grassierenden antisemitischen Verschwörungsmythen. Im Jahre 1860 entstand als Folge der Damaskus-Affäre auch die von französischen Juden gegründete „Alliance Israélite Universelle“ (AIU), eine kulturelle jüdische Vereinigung, die sich international für die Rechte der Juden stark macht und antijüdischen Hass bekämpfen will.
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