Der Tod des kleinen Simon

Wie der erfundene Vorwurf des Ritualmords zur Auslöschung der jüdischen Gemeinde in Trient führte und das entsetzliche antisemitische Narrativ bis weit in die Gegenwart hineinreicht.

Altstadt von Trient© AFP

Von Michael G. Fritz

Trient, die Hauptstadt des Trentino, wurde von den Kelten gegründet, von den Römern erobert und Tridentum genannt. Im 14. Jahrhundert wanderten jüdische Ärzte und Kaufleute aus Franken und Mitteldeutschland ein; zuvor waren bereits Juden aus der Po-Ebene ins Trentino gekommen. In Trient gab es kein Ghetto, was an der aufgeklärten Atmosphäre der Stadt ebenso gelegen haben mochte, wie an der Zahl der Zugewanderten: Sie belief sich auf dreißig, aufgeteilt auf drei Familien – angesichts der 8.000 Einwohner der Stadt keine nennenswerte Größe. Sie hatten die gleichen Rechte wie alle Bewohner, das Recht, innerhalb der Stadt zu wohnen, Waffen zu tragen und Knechte haben zu dürfen. Es war ihnen auch gestattet, an der Volksversammlung teilzunehmen, auf der der Magistrat der Stadt gewählt wurde.

Einer der herausragenden Köpfe der ebrai war Tobias aus Magdeburg, ein unter den Bewohnern der Stadt sehr beliebter Arzt. Das Zusammenleben gestaltete sich für alle Seiten ersprießlich, bis 1473 der Franziskaner Bernardino da Feltre, in Oberitalien bekannt als ebenso bedeutender Prediger wie glühender Antisemit, in Trient einzog. Er bekämpfte das Prinzip des Geldverleihens durch Juden, indem er ihnen durch Pfandhäuser Konkurrenz machte, wodurch auch ärmere Bevölkerungsschichten Kredit erhielten, ohne dass ein Zins anfiel. Seine antijüdischen Hetzpredigten, die er im Dom von Trient, der Kathedrale San Vigilio, hielt, erreichten indes die Gemeinde nicht. Kurz vor Ostern 1475 rief er von der Kanzel herab: „Passt auf eure Kinder auf, Pessach steht vor der Tür.“ Als jedoch am 23. März 1475 der dreijährige Simon Unverdorben verschwunden war, kommt tatsächlich Unruhe auf, die in eine Massenhysterie ausarten sollte.

Sein Vater Andreas, Gerbermeister und Angehöriger der deutschen Minderheit, meldete am nächsten Tag, Karfreitag, seinen Sohn beim Fürstbischof von Trient, Johannes Hinderbach, als vermisst. Was lag näher, als an einen Unfall zu glauben, der Junge hätte beim Spielen in den Gerbergraben in der Via del Fossato fallen und ertrinken können, die heute Via del Simonino heißt, in dessen Nähe die Familie wohnte. Der Bach mündete in die Etsch, die damals dort entlangfloss, wo nun die starkbefahrene, breite Via Torre Verde in Sichtweite des Bahnhofs verläuft. Aber es kam anders.

 

Ritualmordgerücht

Die Häuser der jüdischen Familien wurden wegen des bereits kursierenden Ritualmordgerüchts durchsucht, was indes kein Ergebnis brachte. Ausgerechnet am Ostersonntag, dem höchsten christlichen Feiertag, am 26. März, fand Samuel aus Nürnberg, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde, tatsächlich den bekleideten Leichnam Simons in der Nähe seines Hauses in einem Graben. Das Unheil nahm seinen verhängnisvollen Lauf, indem er den Leichnam dem Bürgermeister übergab, um das Seine zur Klärung des Falls beizutragen. Ihm hätte Dank gebührt. Der Junge wies zahlreiche Wunden auf, die bei der ersten Untersuchung von Ärzten in Gegenwart von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde bluteten, was als Indiz für deren Schuld gedeutet wurde. Acht jüdische Männer, darunter Tobias, Samuel und Angelo aus Verona, der einzige Italiener, wurden sofort festgenommen.

Ein Ertrinken des Kindes schlossen die Ärzte aus, die Wunden führten sie auf Einstiche zurück, die auf den von vorneherein unterstellten Ritualmord hindeuteten. Daraufhin wurden weitere Mitglieder der jüdischen Gemeinde verhaftet. Zeugenaussagen belasteten die Juden schwer, bei der angewandten Folter ging es nicht darum, die Wahrheit ans Licht zu bringen, sondern die Anschuldigungen zu bestätigen. Schließlich gestanden alle ebrai: Tobias, der Arzt, der als einziger Jude während der Kartage das Haus verlassen durfte, hätte Simon entführt, um ihn zu töten. Der Ritus hätte dazu gedient, den Juden christliches Blut zu beschaffen, um damit Matzen (das zum Pessachfest gegessene ungesäuerte Brot) zuzubereiten, um Wunden zu heilen und Frauen vor Frühgeburten zu schützen.

Die Ritualmordlegende entspricht genau dem Empfinden einer Zeit, in der die Leiden Christi eine immer beherrschendere Stellung innerhalb der Bibelauslegung einnahmen. Die Juden galten als Verursacher dieser Leiden, als Mörder von Jesus, ohne zu beachten, dass Jesus selbst Jude war. Der Grundtenor der judenfeindlichen Stimmung lautete: Jesus wurde nun zum zweiten Mal getötet, was nicht folgenlos bleiben darf.

 

18 jüdische Männer sterben qualvoll für nichts

Der anschließende Prozess war von Anfang an umstritten. Papst Sixtus IV., der als intelligent und gelehrt galt, wusste, dass es sich um ein Komplott gegen Juden handelte, der Vorwurf des Ritualmordes vorgeschoben war. Er ließ den Prozess unterbrechen, ebenso der über dem Fürstbischof stehende Herzog Sigismund von Österreich-Tirol. Beide konnten aber aus realpolitischen Erwägungen heraus den Prozess nicht abbrechen, Hinderbach hätte sein Gesicht verloren. Die erzwungenen Geständnisse führten im Juni 1475 und Januar 1476 zum Todesurteil gegen insgesamt 18 jüdische Männer.

Der Leichnam des zuerst Hingerichteten, Tobias aus Magdeburg, wurde von Pferden gezogen um den Dom geschleift unter dem Beifall der Einwohner. Vier Todeskandidaten erwarben durch ihre Entscheidung, zum Christentum zu konvertieren, das Anrecht auf eine „humanere“ Hinrichtung, also einen Tod durch Erhängen statt durch Verbrennen. Dem Fürstbischof fiel der eingezogene Besitz aller Juden zu.

Die jüdischen Frauen wurden auch unter Folter verhört, jedoch begnadigt und aus der Haft entlassen, nachdem sie zum Christentum konvertiert waren. Sie kamen in Klöster unter und mussten die Stadt verlassen; manche konnten ihre Kinder behalten, anderen wurden sie entrissen und fortgegeben. Zwei Frauen starben nach Haft und Folter.

Der Fürstbischof erhielt später vom Papst trotz aller Bedenken die Bestätigung, dass der Prozess in Trient korrekt verlaufen ist. Jüdischen Bürgern wurde fortan das Betreten der Stadt auf unbestimmte Zeit verboten. Schon bald nach Simons Tod und dem hanebüchenen Prozess entwickelte sich eine Pilgerbewegung, aber erst 1588 erlaubte Papst Sixtus V. den Kult um den Jungen. Es wurden Wunderheilungen vermeldet und notariell bestätigt, Wallfahrten fanden statt, ein enormer Geldsegen ergoss sich über die Stadt. Die Kirche San Pietro konnte neu gebaut, das auf einem Felsvorsprung über der Stadt thronende Castello del Buonconsiglio, in dem später das Trienter Konzil stattfindet, renoviert werden. Es wird heute darüber spekuliert, dass vor allem Finanznöte des Fürstbischofs hinter der Intrige gegen die jüdische Gemeinde gestanden haben könnten, die selbst allerdings nicht besonders vermögend gewesen sein soll.

Der um den kleinen Simon entstandene Kult gipfelte in antijüdischen Prozessionen, die alle zehn Jahre ausgerichtet wurden, bis 500 Jahre später, erst 1965, die Prozessakten nochmals untersucht wurden, unter anderem von Iginio Rogger, einem Pfarrer und Historiker aus Trient, der erkannte, dass es keinerlei Basis für einen Prozess gegeben hatte. Im Gegensatz zu vielen anderen ähnlichen Verfahren ist die Quellenlage ausgesprochen umfangreich und detailliert, sämtliche auf Latein verfassten Akten sind erhalten geblieben. Die fällige Prozession durch die Stadt mit dem einbalsamierten Simon musste gegen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerung abgesagt werden, was zu beträchtlichem Unmut führte. Die Kirchentür der Pfarrkirche San Pietro, „ein Juwel im Herzen von Trient“, so die Werbung, zeigt ein Relief, das den kleinen lockenköpfigen Simon darstellt, in dessen Hand ein Wappen mit den Folterwerkzeugen. Links neben dem Altar befindet sich weiterhin eine Kapelle für den Jungen: Aula del piccolo Simone.

1992 treffen Reisegruppen aus Israel in Trient ein, es fällt die Bemerkung, es sei nun wohl endlich erlaubt, diese Stadt zu besuchen. Ist der Bann aufgehoben, auf dass zum ersten Mal seit 1476 offiziell Juden wieder Trient betreten dürfen? Antijüdische Hetze, einmal in die Welt gesetzt und auf fruchtbaren Boden gefallen, scheint auf immer fortzuleben.

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