„Sprache ist mehr als Blut“
Zum 140. Geburtstag des jüdischen Literaturwissenschaftlers Victor Klemperer
Victor Klemperer (1952 in der DDR)
Der Name Klemperer ist nicht nur in Deutschland bekannt: Das sind der Dirigent Otto Klemperer, die Ärzte (die unter anderem auch Lenin behandelten) Felix und Georg Klemperer und natürlich der Literaturwissenschaftler, Schriftsteller, Cousin des Dirigenten und leibliche Bruder der beiden Ärzte, Victor Klemperer. Ihm ist dieser Artikel gewidmet. Der Familienname stammt aus Böhmen und bedeutete ursprünglich „der Klopfer“ – der Gemeindediener, der morgens an die Türen und Fenster der Frommen klopft, um sie zum Frühgebet zu wecken. Alle vier Erwähnten legten jedoch das Judentum ab, und konvertierten zum Christentum.
Zwangsläufig Jude
Victor Klemperer wurde am 9. Oktober 1881 in Landsberg an der Warthe als das jüngste, neunte Kind von Rabbiner (später Reformrabbiner) Wilhelm Klemperer geboren. Dennoch hatte das Judentum offenbar keinen großen Einfluss auf ihn: Victor bemühte sich „deutsch zu leben“ und konnte nicht einmal das Kaddisch – das Totengebet – rezitieren. Nach dem Abitur 1902 in Landsberg studierte er Philosophie sowie romanische und germanische Philologie in München, Genf, Paris und Berlin. 1906 heiratete er die Protestantin Eva Schlemmer, Pianistin, Malerin und Übersetzerin.
Zunächst arbeitete Klemperer als freier Publizist; 1912 promovierte er über den Romanisten Friedrich Spieltagen – dafür und um eine Stelle an der Universität zu bekommen, konvertierte er zum Protestantismus. Später schrieb er: „Jetzt wusste ich deutlicher, dass ich den Wunsch, Deutscher zu sein, voll und ganz teile. Aus Erfahrung war ich nicht mehr davon überzeugt, dass Juden und Deutsche unter allen Umständen miteinander auskommen können ... Die Deutschen begannen mir alles zu bedeuten und Juden – nichts.“
1915 ging Klemperer freiwillig an die Front, diente als Artillerist in der deutschen Armee, wurde verwundet. Nach dem Krieg arbeitete er als Dozent in München, 1920 als Professor für Romanistik an der Technischen Hochschule in Dresden.
In dieser Zeit veröffentlichte Victor Klemperer Artikel über Rousseau, Voltaire, Diderot und arbeitete an zahlreichen anderen Werken.
Gleichzeitig begann er regelmäßig ein Tagebuch zu führen und zeigte sich als kritischer und selbstkritischer Beobachter seiner Zeit.
1933 ereignete sich etwas, was Klemperer als absurd wahrnahm: die Nazis kamen an die Macht. Die Tagebücher des Professors aus den ersten Monaten ihrer Regierungszeit sind voller Sätze: „Das kann nicht lange dauern!“, „Bald geht das zu Ende!“. Doch Hitlers Diktatur erstarkte, und Klemperer notierte mit wachsender Verzweiflung: „Wie konnte es sein, dass gebildete Menschen einen solchen Verrat an Bildung, Kultur, Menschlichkeit begingen?“
Und doch legte Klemperer entgegen seiner Überzeugung im Februar 1934 aufgrund elender Umstände einen „Eid auf den Führer“ ab, was ihn allerdings nicht vor den Repressalien der Nazis rettete. Nachdem das Reichsbürgergesetz seine Gültigkeit erlangte, wurde der 54-jährige Professor Anfang 1935 entlassen und in den vorzeitigen Ruhestand geschickt. Später lag Victor sein Verhalten schwer auf der Seele, wie er „kasuistisch sein Gewissen beruhigte, obwohl für das Gewissen ja alles klar war“, dem Nazismus die Treue schwor und an seinem vor langer Zeit beschmutzten Platz an der Universität festhielt. „Habe ich das Recht, andere dafür verantwortlich zu machen? Ich, der Hitler den Treueid geleistet habe; Ich, der in diesem Land geblieben ist – ich bin wirklich nicht besser als meine arischen Landsleute.“ (16. Mai 1936).
Um etwas seelische Ruhe zu finden, tauchte er in die Arbeit ein: es war ein Werk über die Geschichte der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Bald jedoch wurden für Juden Verbote erlassen: zu veröffentlichen, Bibliotheken zu besuchen, zuhause „nicht-jüdische“ Literatur aufzubewahren, deutsche Zeitungen zu abonnieren etc., die die Arbeit des Philologen enorm erschwerten. Dennoch blieben Victor und Eva Klemperer in Deutschland; sie wohnten jetzt in ihrem Landhaus, Victor konzentrierte sich auf seine Tagebücher und Eva brachte die subversiven Hefte zu einer Freundin, die diese, jederzeit mit einer grausamen Vergeltung rechnend, bis Ende des Krieges aufbewahrte.
Klemperers Aufzeichnungen dieser Zeit bezeugen die Verstärkung der Angst, mit der die Juden tagtäglich konfrontiert waren. Als Jude durfte Victor weder einkaufen, noch die Cafés oder Kinos besuchen, ebenfalls kein Auto benutzen. Er war gesundheitlich angeschlagen und verlor die Hoffnung auf das nahe Scheitern der nationalsozialistischen Politik: „Hitler ist in der Tat der würdige gewählte Vertreter seines Volkes... Ich bin von der Überzeugung durchdrungen, dass sein Regime gefestigt ist und noch viele Jahrzehnte bestehen wird. Es gibt so viel Lethargie, Immoralität und vor allem so viel Dummheit im deutschen Volk.“
Die Verfolgung beginnt
1940 mussten Victor und Eva aus ihrer eigenen Villa in ein enges „Judenhaus“ mit gemeinsamer Küche, Toilette, Flur und Dusche und mit ewigen häuslichen Konflikten umziehen; solche Verlegungen ins Ghetto mussten sie dreimal durchmachen, eine schlimmer als die andere. Victor wurde als Arbeiter zu einer Briefumschlagfabrik geschickt, dann als Packer und Verlader zu einer Teefabrik. Er fühlte sich doppelt fremd – unter den Deutschen und unter den Juden. Jeden Moment könnte ihn ein Nazi beleidigen: „Dreckiger Jude“. Für Eva, seine ältere kranke Frau, war es nicht viel einfacher – nicht selten hörte sie an sie adressierte Drohungen und Beschimpfungen wie „Jüdische Hure“.
Bereits im November 1938, kurz nach der Kristallnacht, tauchte in Victors Tagebuch eine Notiz auf:
„Wir beide werden stets von der Frage gequält: Sollen wir gehen oder bleiben? Ist es zu früh zu gehen, zu spät? In völlige Ungewissheit hingehen? Bleiben und zugrunde gehen? Wohin ich nur meine Briefe und SOS-Rufe nicht geschickt habe... Aber die Hoffnung, dass uns wenigstens einer von all denen hilft, ist mehr als zweifelhaft.“
Ein weiterer Eintrag im September 1939:
„Die jüdische Gemeinde fragt, ob ich ihr angehöre, da sie die Reichsvereinigung der Juden vertritt; ebenfalls fragen Vertreter der evangelischen Kirche, ob ich bei ihnen bleibe. Ich habe geantwortet, dass ich evangelisch sei und bleibe, und an die jüdische Gemeinde schicke ich überhaupt keine Antwort.“
Eineinhalb Jahre später notiert er noch einmal:
„Wir hatten ein Gespräch mit einem Umsiedlungsberater der Jüdischen Gemeinde, das Ergebnis ist der absolute Nullpunkt: Sie müssten weg, aber es bestehe momentan keine Möglichkeit. Amerikanische jüdische Komitees setzen sich nur für jüdische Gläubige ein.“
Und ab Oktober 1941 wurde die Ausreise von Juden aus Deutschland und den besetzten Ländern komplett verboten – ihre Vernichtung begann. Am 16. Februar 1945 war die Deportation aller Juden Dresdens in die Vernichtungslager geplant. Und in der Nacht zum 14. Februar überlebten die Klemperers eine massive Bombardierung der Stadt durch die Alliierten, kamen mit schwerem Stress aber nur leichten Verletzungen davon. Am Morgen flüchteten sie aus dem brennenden Dresden – dies gelang auch deshalb, weil während des Bombenangriffs eine große Zahl von Gestapo- und SS-Angehörigen zu Tode kamen. Das Paar versteckte sich mehrere Tage bei den mit den Juden sympathisierenden Lausitzer Bauern und flüchtete dann nach Oberbayern in das bald von den alliierten Truppen eingenommene Gebiet.
Der Nazi-Sprech
Als seinen rettenden Ausgleich, der ihn all die Jahre des Hitlerismus als Seiltänzer über dem Abgrund hielt, betrachtete Viktor Klemperer seine soziolinguistische Studie der „Sprache des Dritten Reiches“, Lingua Tertii Imperii (LTI), der deutschen „Neusprache“. In seinen Notizbüchern hat er, ein professioneller Philologe, Veränderungen im Stil, im Vokabular und in der Intonation der Nazi-Propaganda, der Medien, der Belletristik und der Alltagssprache akribisch dokumentiert und analysiert. Im Gegensatz zu Talleyrand glaubte er, dass Sprache unfreiwillig alles verrät, was Menschen denken und fühlen. Daher nahm er den Ausspruch des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig als Inschrift zu seinem Buch: „Sprache ist stärker als Blut“.
Die Amtssprache des Dritten Reiches, die das Wesen der Ideologie und Psychologie seiner Spitze ausdrückte, beeinflusste gleichzeitig die Alltagssprache, die Denkweise und Emotionen der einfachen Deutschen, bemerkte Klemperer. Die von nazistischer Ideologie geprägten Begriffe wie „Arier“, „Volk“, „Historisch“, „Groß“, „Ewig“, „Heroisch“, mit einer perversen Bedeutung gefüllt, gingen lange Zeit in das Lexikon der Nazi-Reden und -Darstellungen und dann in die Umgangssprache ein, die notwendigen Stereotypen des Denkens bildend. Der Wissenschaftler betonte die erschreckende Monotonie, Dürftigkeit, Armseligkeit dieser Klischees.
„Alles, was in Deutschland gesagt und gedruckt wurde, durchlief eine tyrannische Ordnungsarbeit in den Parteibehörden... Bücher und Zeitungen, Amtskorrespondenz und bürokratische Formulare – alles schwamm in derselben braunen Soße. Diese vollständige Standardisierung der schriftlichen Sprache brachte die Einheitlichkeit der mündlichen Rede mit sich... Der Nationalsozialismus hat sich durch einzelne Wörter, Redewendungen, Satzkonstruktionen in Fleisch und Blut der Massen eingefressen, durch Millionen von Wiederholungen in die Menge gehämmert und von ihr mechanisch und unbewusst absorbiert.“
Sogar Anzeigen über die Familienereignisse wurden in pompös-sentimentaler Form verfasst: „Mit Freude geben wir bekannt, dass unser Torsten in Deutschland, das eine bedeutsame Zeit durchmacht, ein Brüderchen bekommen hat“; „Mit Stolz und Trauer verkünde ich den Tod meines einzigen Sohnes an der Front im heroischen Kampf um das Vaterland“; „Ich gebe meine Heirat mit einem Gefreiten, Panzerschützen, Ritter des Eisernen Kreuzes bekannt.“
Antisemitismus – Zionismus – Bolschewismus
Der Antisemitismus, analysierte Klemperer, war „das wirksamste Propagandainstrument der Nazis, die effektivste Konkretisierung der Rassenlehre in den Köpfen der Deutschen“. Das Besondere des Antisemitismus im Dritten Reich sah Klemperer darin, dass er heißer denn je aufflammte und sich in den perfektesten organisatorischen und technischen Formen manifestierte. Jegliche Feinde wurden im Bild eines Juden personifiziert: „Er ist das zugänglichste Ziel und der Sündenbock für das gemeine Volk, der Feind, der dem Plebs am verständlichsten ist... Ohne die düstere Gestalt eines Juden hätte es nie eine Lichtgestalt eines nordischen Germanen gegeben.“ Der assimilierte Jude Klemperer versuchte dem Antisemitismus „das Vertrauen in sein Deutschtum, seinen zur Menschheit gehörenden Europäismus, seine Zugehörigkeit zum 20. Jahrhundert“ entgegenzusetzen. Der nationalen Isolation und Selbstidentifizierung der deutschen Juden konnte er nichts Positives abgewinnen. Er vermied es sogar, das Wort „Judentum“ zu verwenden, da es ihm eine Erfindung der Nazis schien. Er gab zu, dass er „vorher nichts von allen jüdischen Publikationen gelesen hatte“. Und nachdem er die Werke von Theodor Herzl kennengelernt hatte: „…war ich zuerst schockiert und erlebte gleichzeitig ein Gefühl, das der Verzweiflung nahe war.“
Der Zionismus schien ihm, einem Westjuden, fremd und für die Masse der jüdischen Schtetl-Bewohner irgendwo in Galizien bestimmt, die in freiwilliger Isolation wie in einem Ghetto verharrte und ihre Sprache und Bräuche beibehielt. Er hielt die messianischen Vorstellungen der Zionisten über ein einiges jüdisches Volk und sein Recht auf einen eigenen Staat für eine Form extremen Nationalismus. „Ich führe einen schwierigen inneren Kampf um meine deutsche Identität“, schrieb Klemperer im Mai 1942. „Ich muss an der Überzeugung festhalten: Der Geist entscheidet, nicht das Blut... Der Zionismus wäre für mich eine Komödie, aber meine Taufe war keine Komödie.“ Später verstand er jedoch: Herzl geht nirgendwo davon aus, dass fremde Völker unterdrückt und ausgerottet werden sollen, nirgendwo verteidigt er die Idee der Auserwählung und des Anspruchs einer Rasse oder eines Volkes, die gesamte Menschheit zu beherrschen, die angeblich auf einer niedrigeren Ebene steht, - all das, was die Grundlage der Nazi-Verbrechen bildet. Er [Herzl] fordert lediglich gleiche Rechte und einen spärlich bemessenen sicheren Raum für die Gemeinschaft, die schikaniert und verfolgt wird.
Verklärung der Sowjetunion
Während der Nazizeit hegte Klemperer als Liberaler Sympathien für die deutschen Kommunisten-Antifaschisten. Gleichzeitig idealisierte er diese, da er in der Sowjetunion eine reale Kraft sah, die Deutschland vor dem Nazismus retten konnte. Und 1939 schrieb er in sein Tagebuch: „Der Bolschewismus, im Gegensatz zum Nationalsozialismus, technisiert sein Land, um den Menschen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, ihnen unter Verminderung der erdrückenden Arbeitsbelastung die Möglichkeit der geistigen Entwicklung zu bieten... Seitdem der Marxismus sich zum Marxismus-Leninismus entwickelte, verlagerte sich der Schwerpunkt der europäischen Zivilisation nach Moskau.“
Nach dem Krieg beschlossen Klemperer und seine Frau, in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR zu bleiben: ihre Wahl schien ihnen „das kleinere Übel“ zu sein. Die Villa wurde ihnen zurückgegeben, beide traten der SED bei. Victor beteiligte sich an der Entnazifizierung, leitete das Bildungszentrum Dresden, hielt Vorlesungen beim Kulturbund, lehrte an den Universitäten Halle und Berlin. Er wurde Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Abgeordneter des Parlaments der DDR. Er veröffentlichte Memoiren und Tagebücher, eine Monographie „Geschichte der französischen Literatur im 19.-20. Jahrhundert“, eine Studie in zwei Bänden über die französische Aufklärung. Er erhielt Orden und Titel, Filme und Theaterstücke entstanden über ihn. Dennoch räumte Klemperer ein: „Alles ist so schwankend“; „Ich sitze zwischen den Stühlen“; „Meine Vorlesungen und Seminare sind ein verzweifelter Kampf um die Freiheit des Geistes.“ Und in dem Buch „Die Sprache des Vierten Reiches“ sah er in der Phraseologie der Kommunisten „reinen Nazismus“.
Er war empört über Zensur, Repression, Demagogie in der DDR, zog es allerdings vor, darüber zu schweigen. Und nach einer Reise nach China wurde ihm klar, dass „der Kommunismus gleichermaßen dazu geeignet ist, primitive Völker aus dem archaischen Dreck zu ziehen und zivilisierte Völker wieder in urtümlichen Dreck zu treiben... ich wurde schließlich ein Antikommunist.“ Nach dem Tod von Eva heiratete Victor die junge Germanistin Hedwig und half ihr bei ihrer Doktorarbeit. Sie schaffte ihrem Mann Bedingungen für wissenschaftliches Arbeiten, begleitete ihn auf Vortragsreisen ins Ausland und sorgte anschließend für die Herausgabe seiner Tagebücher. Viktor Klemperer starb am 11. Februar 1960. Das Volkshochkolleg in Berlin ist nach ihm benannt; regelmäßig findet ein nach ihm benannter Jugendwettbewerb für Demokratie und Toleranz statt. Zum Gedenken an den herausragenden Philologen wurden in Dresden Gedenkstätten errichtet.
Übersetzung aus dem Russischen von Irina Korotkina
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