Vor 30 Jahren: Der Sowjetputsch von 1991
Im Sommer 1991 versuchten kommunistische Funktionäre das Rad der Geschichte zurückzudrehen und die Sowjetunion zu erhalten. Doch die Bürger waren der maroden Diktatur überdrüssig und beendeten den Putsch bereits nach wenigen Tagen. Drei Menschen bezahlten ihre Zivilcourage gegen die Panzer damals mit dem Leben – darunter der 28-jährige jüdische Architekt Ilja Kritschewski (JR).
Eine Frau hält am 20. August 1991 ein Plakat mit der Aufschrift „Nein zur kommunistischen Junta!“.© MENAHEM KAHANA, AFP
…Ich muss etwas weit ausholen. Die Perestroika ermöglichte die Entstehung verschiedenster neuer Formen des öffentlichen Lebens, und so bildeten sich zahlreiche legale – im Gegensatz zur kommunistischen Zeit – jüdische Organisationen. In Kaliningrad (Königsberg) öffnete die Gesellschaft für jüdische Kultur, und ich war sofort dabei. Eigentlich lockte mich die plötzliche Möglichkeit, als jüdischer Aktivist auf diverse Seminare ins Ausland zu reisen. Noch wenige Jahre zuvor war das ohne die Parteiinstanzen zu durchlaufen undenkbar. Jetzt erreichte mich eine Einladung zur „Sommeruniversität der jüdischen Studenten der EU“ – in Süddeutschland! Das bedeutete, ich benötigte ein Visum, ausgestellt in Moskau. Also nichts wie hin!
Moskau, 19. August 1991: Das Stadtzentrum ist voll mit gepanzerten Fahrzeugen. Die Sympathien der Mehrheit der Bevölkerung liegen eindeutig auf der Seite Jelzins – der Reformen Gorbatschows ist man bereits überdrüssig –, aber noch viel weniger sympathisch sind die Hardliner aus der oberen Partei-„Nomenklatura“ mit ihrem Bestreben, Gorbatschow zu stürzen. Vor einem Café steht ein Fernseher – man kann beobachten, wie der Oberste Sowjet (der Oberste Rat) der Russischen Teilrepublik auf seiner Sitzung das Geschehen bewertet. Vor dem Redaktionsgebäude der Zeitung „Moskauer Nachrichten“ ist viel los, Menschen versammeln sich. Überall kleben Flugblätter – Jelzins Erlass darüber, dass das sogenannte „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“ (der Name, den sich die Putschisten-Gruppe gegeben hatte) außerhalb von Recht und Gesetz steht und geächtet sei.
Rechts gleich böse
Panzer in Moskau im August 1991© WIKIPEDIA r
Der Putsch wurde als Versuch eines „rechts-reaktionären“ Staatsstreichs bezeichnet. Warum eigentlich „rechts“? Immerhin waren die Putschisten eingefleischte, starrsinnigste Kommunisten, und der rechtere Teil des politischen Spektrums waren gerade die Anhänger von Gorbatschow und Jelzin, die den Bereich zwischen Sozialdemokraten und Liberalen füllten. Aber das war das politische Vokabular, das der sowjetische Agitprop entwickelt hat: die Linke sei gut, fortschrittlich, tut alles zum Wohle des Volkes, und die Rechte sei böse, reaktionär, volksfeindlich...
Ich übernachtete bei meinen Bekannten. Es war ein schöner warmer Augustabend, überall strömte aus den offenen Fenstern die Musik von Tschaikowski – „Der Schwanensee“ (Der „Schwanensee“ wurde ausgerechnet zu dieser Zeit legendär; tagelang, von früh bis spät lief im Radio ausschließlich „Der Schwanensee“; von Zeit zu Zeit wurde die Musik durch Reden der Putschisten unterbrochen. Noch Jahre später, als im Radio Tschaikowski ertönte, fragte man einander: „Haben wir etwa wieder einen Staatsstreich?“ - Anm. d. Übers). Dann hörte ich eine Rede, die Worte „mein Freund, Präsident Gorbatschow wird in den Reihen sein, wir werden zusammenarbeiten“ – sagt der Vizepräsident der UdSSR, Gennadij Janajew, (einer der Putschisten; der Putsch war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zerschlagen, daher der Hinweis auf den Präsidenten, als wäre alles rechtmäßig, - Anm. d. Übers.). Ich hatte seine sagenumwobenen, vor Angst zitternden Hände nie live gesehen, später wurden diese Aufnahmen aber oft genug wiederholt.
Am Morgen des 20. Augusts ging ich zur deutschen Botschaft – mein ersehntes Visum musste ich noch bekommen, Weltereignisse hin oder her. Aus dem Büro des Beamten sah man das Weiße Haus.
Über dem Gebäude des russischen Parlaments hing ein Luftschiff mit einer riesigen Trikolore – ein Symbol des unabhängigen Russlands. Auch die Menge der Verteidiger des Weißen Hauses ist zu sehen (im Weißen Haus, dem Regierungsgebäude, befanden sich Boris Jelzin und seine Verbündeten; die Putschisten agierten aus dem Kreml, - Anm. d. Übers.). „Na sowas; unfassbar, was los ist“ – mit diesen Worten beginnt der Deutsche das Gespräch. Als meine Angelegenheit geklärt wurde, war ich wieder draußen. Unterdessen eskalierte die Lage auf den Straßen Moskaus. Die Logik der Ereignisse ließ eine Kollision erwarten, das hing förmlich in der Luft. Die Moskauer versuchten, die Panzersoldaten „aufzuklären“, verteilten Essen und steckten Blumen in die Mündungen ihrer Waffen. Es gab Gerüchte, dass es nachts einen Angriff auf das Weiße Haus geben würde, und Aufrufe, sich zu versammeln, um es zu verteidigen. Es war zu spüren, dass die selbsternannte Führung der UdSSR – das Staatskomitee – etwas ins Stocken geraten war; die Regierung der Teilrepublik Russland, die Behörden in den Unionsrepubliken weigerten sich, ihm zu gehorchen; alles schien jetzt davon abhängig zu sein, auf wessen Seite die Streitkräfte stehen würden.
Drei Tote
Die Ereignisse entwickelten sich wie eine symphonische Dichtung, und nach den Gesetzen der Komposition stand ein Höhepunkt bevor, nach dem die Spannung nachlassen würde. Und dieser Höhepunkt kam. Am frühen Morgen wurde in den Nachrichten berichtet, dass auf den Straßen Moskaus Blut vergossen und drei junge Männer von Panzern überrollt und gestorben seien. Dieses Ereignis war die tragischste Episode in der Geschichte des Putsches. Der blutige Überfall auf Jelzins Residenz und das russische Parlament fand nicht statt. Alles entwickelte sich zu Ungunsten der Putschisten, ihre Führer mussten den Kreml verlassen, sie flogen nach Foros zu Gorbatschow und wurden schließlich verhaftet. Informationen über die Anreise der Führer der UdSSR und Russlands, angeführt von [Putschist und KGB-Chef] Krjutschkow von Moskau nach Foros auf der Krim, wurden live übertragen, die Verabschiedung historischer Entscheidungen fand vor den Augen des ganzen Landes statt.
Die Helden dieser Geschichte waren damals Boris Jelzin, Ruslan Chasbulatow, Alexander Ruzkoi, Gawriil Popow und andere russische Führer. Damals konnte man sich nicht vorstellen, dass diese Retter des neuen Russlands in zwei Jahren gegeneinander kämpfen und einige von ihnen im selben Weißen Haus aus Panzern auf andere schießen würden.
Es gibt keinen Moment des öffentlichen Lebens in meinen Erinnerungen, der so pathetisch und feierlich wäre. Es lag ein Gefühl von Freiheit und Heilung in der Luft. In den kommenden Tagen würden wir einen der Putschisten, Marschall Jasow, im Fernsehen beobachten, wie er verhaftet wird und sich in einem Ferienheim nahe Moskau befand. In einem Sportanzug sagte er in die Kamera, der Teufel müsse ihn wohl geritten haben, und wandte sich an Gorbatschow: „Lassen Sie doch mich, den alten Blödmann, nach Haus!“
Ilja Kritschewski auf einer Briefmarke
Der Sieg über die Putschisten wird im Kalender durch den nicht allzu gefeierten, aber dennoch festlichen „Tag der russischen Flagge“ markiert – den 22. August, an dem die Trikolore in dieser Eigenschaft offiziell ausgerufen wurde.
Aber in der Gorki-Straße (Moskaus Stadtzentrum, - Anm. d. Übers.) verflüchtigte sich das Ozon der Freiheit, verlor an Frische. Aus dem Nichts tauchten plötzlich Plakate auf, die den Putsch als Provokation Gorbatschows und des Weltzionismus bezeichneten. Die demokratischen Diskussionen wurden schnell zu national-kommunistischen und antisemitischen...
Am Freitag habe ich mein Visum bei der deutschen Botschaft abgeholt. Und am Samstag wurden die toten Jugendlichen in Moskau beigesetzt.
Begräbnis am Schabbat
Vielleicht hat Jelzin selbst eine kirchliche Zeremonie angeordnet, nicht wie ein traditioneller Abschied der Generalsekretäre. Aber eines der Opfer, Ilja Kritschewski, war Jude. Offenbar hat jemand dann doch erklärt, dass Kritschewski nicht in einer orthodoxen Kapelle begraben werden kann. Wenn wir uns an die Gesetze der jüdischen Religion gehalten hätten, wäre es unmöglich gewesen, am Samstag – am Schabbat – zu begraben. Es wurde allerdings der Oberrabbiner der Moskauer Choral-Synagoge, Adolf Schaewitsch, von der Jelzin-Administration angerufen, mit der Forderung, in Moskau den Donnerstag anstelle des Schabbats einzurichten. „Wissen Sie was“, sagte Schaewitsch „kontaktieren Sie Zinowi Kogan.“ Der Führer der Bewegung des progressiven Judentums in der UdSSR konnte die Wünsche der Organisatoren der Beerdigung erfüllen und das durchführen, wofür der Talmud schwere Strafen vorschreibt. Er nahm als Kohen (Priester) an der Beerdigung teil, er tat es zusammen mit Geistlichen einer anderen Religion, er begrub am Samstag einen Juden, er brach den Schabbat, indem er mit einem Mikrofon zum Gedenkgebet aufrief, zur Musik einer Geige vor Fernsehkameras.
Nachdem Michail Gorbatschow als Präsident der Sowjetunion und Generalsekretär der Kommunistischen Partei in den Jahren davor einige Reformen eingeleitet hatte, darunter Glasnost (Pressefreiheit und Offenheit der Staatsleitung gegenüber dem Volk) und Perestroika, die die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen wie größere Selbstbestimmung und andere Freiheiten für die sowjetischen Republiken beinhalteten, schmiedete eine Gruppe reaktionärer Vertreter der Kommunistischen Partei die Pläne zur Umkehrung dieser Entscheidungen. Hochrangige Funktionäre wie der damalige Premierminister Walentin Pawlow, Verteidigungsminister Dmitri Jasow, UdSSR-Vizepräsident Gennadi Janaew, der KGB-Vorsitzende Wladimir Krjutschkow u. a. bildeten das selbsternannte „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“ und versuchten, die Macht in Moskau zu ergreifen und Gorbatschow, der sich zu diesem Zeitpunkt mit seiner Familie im Urlaub in Foros auf der Krim befand, zu isolieren und zu entmachten. Die Putschisten rechneten dabei mit der Unterstützung der Streitkräfte, die ihnen jedoch größtenteils verweigert wurde. Der Großteil der Bevölkerung in den größten Städten Russlands, Moskau und Leningrad (bald darauf wieder, wie vor dem Ersten Weltkrieg, Sankt Petersburg genannt, - Anm. d. Übers.), wo zehntausende gegen den Putsch demonstrierten, stand währenddessen hinter Boris Jelzin, dem Präsidenten der Russischen Teilrepublik, der in Moskau den Widerstand gegen Putschisten aus dem Regierungsgebäude heraus – genannt Weißes Haus – leitete. Der Putsch scheiterte und markierte das Ende der Sowjetunion. Drei Todesopfer waren zu beklagen. - Anm. d. Übers.
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