Naftali Bennett: die Geschichte einesAufstiegs um den Preis des Verrats
Premierminister Bennett hat eine auf den ersten Blick beeindruckende Karriere hinter sich. Doch an der Spitze Israels steht jemand, der seine Versprechen gegenüber seiner eigenen Wählerzielgruppe um der Position des Ministerpräsidenten willen und des politischen Wohlwollens der linken israelischen Medien wegen gebrochen hat. Der bei seinem Weg in das Amt des Ministerpräsidenten an den Tag gelegte Opportunismus hat ihm bereits einen erheblichen Vertrauensverlust bei seiner Wählerschaft eingebracht (JR).
Naftali Bennett freudig am Ziel, das er durch Betrug an seinen Wählern erreichte© MENAHEM KAHANA, AFP
Naftali Bennett kam 1972 in Haifa, in einer Familie von Repatriierten aus den USA zur Welt. Seine Eltern Jim und Mirna trafen einen Monat nach dem Sechstagekrieg in Israel ein; sie lernten im Kibbuz Hebräisch und waren in der Freiwilligenarbeit tätig. Im Gegensatz zu ihrem Mann fühlte sich Mirna Bennett nicht wohl in der israelischen Gesellschaft und so ging die Familie 1973 zurück in die USA. Als der Jom-Kippur-Krieg (6.-25. Oktober 1973, - Anm. d. Übers.) ausbrach, flog Jim jedoch nach Israel und kämpfte als Artillerist auf dem Golan.
10 Jahre später kam die Familie Bennett erneut nach Israel. Zunächst gehörten sie in Haifa einer liberalen (Reformjudentum-)Gemeinde an, später, als zwei weitere Kinder geboren wurden, wechselten sie zum „modern-orthodoxen“ Judentum. Naftali ging in den Chabad-Kindergarten (Chabad ist eine chassidische Gemeinschaft im Rahmen des orthodoxen Judentums, gegründet im 18. Jahrhundert in Litauen, -Anm. d. Übers.), später in eine staatliche religiöse Schule und war ein Madrich (ein freiwilliger Gruppenleiter einer Kindergruppe, – Anm. d. Übers.) bei dem religiös-zionistischen Jugendverband Bnei Akiva.
Die Biographie des heutigen Premierministers enthält wechselnde Phasen von Konformismus und Nonkonformismus. Nach seiner Einberufung steckte der Soldat Bennett seine „Kippa Struga“ – „gestrickte/gehäkelte Kippa“ – in die Hosentasche („Kippa Strugá“, Hebr. כיפה סרוגה, ist die Kopfbedeckung der orthodoxen, vielmehr nationalreligiösen Juden, - Anm. d. Übers.). Später erzählten seine Kommandeure, sie hätten Bennetts religiöse Wurzeln nicht erahnt. Nach der Ermordung von Yitzak Rabins am 4. November 1995 und der Kampagnen in den linken Medien gegen das nationalreligiöse Lager zog er die Kippa jedoch wieder auf.
Der Gärtner, der eine Zuckerbäckerin heiratete
1999 heiratete Naftali die säkularere Israelin Gilat, eine Zuckerbäckerin. Bennetts berufliche Laufbahn ist bunt: Gärtner, der parallel an der Hebräischen Universität in Jerusalem Jura studierte, Softwaretester, Handelsvertreter und schließlich Generaldirektor des Startups Cyota; die Firma beschäftigte sich mit Betrug im Netz und wurde 2005 für 145 Mio. US-Dollar verkauft, woraufhin sich der Multimillionär in Ra’anana, in Zentralisrael, eine Luxusvilla baute.
Es folgte ein weiteres Startup; finanzielle Ambitionen wurden durch politische ersetzt; 2005 lernte Bennett Ayelet Schaked kennen, damals die Chefin des Büros des Oppositionsführers Benjamin Netanjahu. Bennett und Netanjahu hatten viel gemeinsam: der amerikanische Hintergrund, Militärdienst in einer Spezialeinheit, Erfahrung in der Wirtschaft. Bennett half Netanjahu – ehrenamtlich; bald gewann Netanjahu die Vorwahlen und leitete weiterhin die Likud-Partei. 2008 jedoch mussten Schaked und Bennett ihre Posten räumen; den Gerüchten zufolge war das die Forderung von Netanjahus Frau Sara, die die beiden nicht mochte. Für Bennett, der eigentlich mit einem guten Posten hätte rechnen können, war das ein Schlag ins Gesicht. Auf eine ähnliche Weise wurden auch einige andere zu Netanjahus Gegnern, seien es Avigdor Liberman oder Gideon Sa‘ar.
Als es mit den säkularen Rechten nicht klappte, beschloss Bennett, sich die Unterstützung der Religiösen zu sichern. 2010 wurde er zum Vorsitzenden des YESHA-Siedlungsrates, der die jüdischen Siedler von Judäa und Samaria vertritt. Gleichzeitig gründeten Bennett und Schaked die Bewegung „Mein Israel“ (Israel Scheli, Hebr. ישראל שלי, – Anm. d. Übers.), die Aufklärungsarbeit im Ausland betrieb.
Als Bennett zwei Jahre später endlich das Image einer aktiven Persönlichkeit des öffentlichen Lebens erlangt hatte, kündigte er die Gründung der Partei „Ha Israelim“ – „die Israelis“ an. Als Ziele wurden benannt: Zionismus, die Umsetzung der „Stabilitätsinitiative“ (chaotische Vorschläge zur Ausweitung der israelischen Gerichtsbarkeit auf separate Teile von Judäa und Samaria) und das gegenseitige Verständnis zwischen Religiösen und Säkularen. Der ehemalige Oberrabbiner der IDF, Avihai Rontski, repräsentierte die Religiösen, Schaked die Säkularen und Bennett die goldene Mitte.
Lapid und Bennett als zwingendes Doppelpack
Es ist schwierig, ein neues Unternehmen an die Börse zu bringen. Noch schwieriger ist es, die Wähler von Grund auf neu zu gewinnen, und bald beschloss Bennett, eine schon bestehende Struktur in der Knesset zu finden, um seine Pläne umzusetzen. Die nationalreligiöse Partei MAFDAL nannte sich seit 2006 HaBajit haJehidi – „Jüdisches Heim“ (Hebr. היהודי הבית, – Anm. d. Übers.); so wurde die Bewegung HaIsraelim in diese Partei eingegliedert. Nicht, dass es geholfen hätte – neun Parlamentssitze sind auf drei geschrumpft. Die einander ähnelnden älteren Männer in Kippot Strugot, die versuchten, keine harten Erklärungen abzugeben, beeindruckten die Wähler nicht. Mit 67 % Stimmen wurde Bennett zum Vorsitzenden von HaBajt gewählt. 2013 bekam die Partei 12 Parlamentssitze, jedoch beeilte sich Netanjahu nicht, seinen ehemaligen Mitarbeiter in die Koalition zu holen. Und dann fand Bennett einen neuen strategischen Verbündeten – den Fernsehjournalisten Yair Lapid, den Gründer der Mitte-Links-Partei Jesch Atid (Hebr. עתיד יש , zu Deutsch „Es gibt eine Zukunft“, eher eine liberale säkulare Partei, - Anm. d. Übers.). Bennett und Lapid unterschrieben eine Vereinbarung, die besagte, dass keine der beiden Parteien allein, ohne die andere, an den Koalitionsgesprächen teilnehmen und der Regierung beitreten würde. Netanjahu wurde somit gezwungen, Bennet als Zugabe „zu übernehmen“.
Als Resultat erhielt der kreative Politiker für seine Partei drei Ministerposten bei der Regierung: für Wirtschaft, Religionsangelegenheiten und für Jerusalem und Diaspora-Angelegenheiten. Bennett kämpfte gegen staatliche Monopole und hohe Preise, und setzte auch seine Linie „Friede zwischen Juden aller religiösen Richtungen“ fort, was allerdings von Parteikollegen und den Rabbinern des nationalreligiösen Lagers nicht nur positiv aufgenommen wurde. Er traf sich mit Vertretern des konservativen Judentums und betonte die Notwendigkeit des Dialogs; er initiierte auch den Aufbau einer Plattform an der Klagemauer, auf der Mitglieder unorthodoxer Bewegungen beten konnten.
Die Koalitionsregierung erwies sich als nicht sehr langlebig, zwei Jahre später fanden Neuwahlen statt. Umfragen versprachen zunächst eine zweistellige Zahl von Sitzen für das Jüdische Heim. Doch dann kündigte Bennett an, dass der Fußballer Eli Ohana auf der Liste erscheinen würde. Später erklärte Ayelet Schaked, Bennett brauchte „einen orientalischen Juden aus einer armen Familie, der eine atemberaubende Karriere hatte“. Die Zielgruppe des Jüdischen Heims protestierte: Ohana sei nicht religiös, habe sich nie an sozialen Aktivitäten beteiligt und habe sich in der Vergangenheit für den Rückzugsplan aus Gaza ausgesprochen. Inmitten des Skandals gewann die Partei schließlich nur acht Sitze. In der nächsten Regierung wurde Bennett Bildungsminister. Er entwickelte ein Programm, das die Schulen dazu bringen sollte, Mathematik auf dem höchsten Niveau zu unterrichten. „Dies wird zu einer Verringerung der sozialen Ungleichheit führen und den Bewohnern der Peripherie als Sprungbrett dienen“, versprach der Minister. Leider reichten Rundschreiben und Aufrufe nicht aus, um die schlechten Schüler zu Überfliegern zu machen. Die Ergebnisse der Reform zeigten, dass die soziale Ungleichheit fortbestand. Im Zentrum des Landes, das von wohlhabenden Israelis bewohnt wird, stieg die Zahl derer, die die Abschlussprüfungen in Mathematik mit der besten Note bestanden, von 12 auf 18 %, in der Peripherie von 8 auf 10 %. Bennetts Pläne kosteten den Steuerzahler 75 Millionen Schekel.
Vier Wahlen hintereinander
Am 29. Dezember 2018 erwartete die Wähler des Jüdischen Heims ein Schock. Schaked und Bennett verkündeten, dass sie die Partei verlassen und eine neue Bewegung gründen würden. Dann kamen die bekannten Schlagworte: Gleichheit, Brüderlichkeit, Zionismus, einen Konsens Religiöser und Nicht-Religiöser erreichen etc. Bei den Wahlen 2019 konnte ihre neue Partei Jamina (Hebr. ימינה , „nach rechts“, – Anm. d. Übers.) die Sperrklausel jedoch nicht überwinden. Dank der parlamentarischen Instabilität endete Bennetts politische Karriere trotz dieses schlechten Ergebnisses nicht. Bald darauf fanden die erneuten, zweiten Wahlen statt, Jamina trat zusammen mit den Überresten des Jüdischen Heimes in die Knesset ein und Naftali Bennett wurde zum Verteidigungsminister ernannt. Dann kamen die dritten Wahlen und der Prozess gegen Netanjahu. Wahrscheinlich erkannte Bennett in dieser Zeit, dass eine weitere Karriere in der Likud-Koalitionsregierung für ihn kaum möglich sein würde; er suchte nach neuen Verbündeten. Bennett weigerte sich demonstrativ, der Regierung beizutreten, und begann energisch, Bücher und Pläne zu schreiben. Sein Buch „Coronavirus bekämpfen“ wurde überall angeboten, war jedoch nicht populär. Während Bennett clever verpackte Pläne von „differenzierten Lockdowns“ vorschlug, verhandelte Netanjahu in zahlreichen Telefonaten mit dem Pfizer-Chef über die Lieferung von Impfstoffen.
Nach den vierten vorgezogenen Knesset-Wahlen häuften sich Gerüchte, Bennett habe sich an Lapid gewandt: Der Likud (die Partei von Netanjahu, – Anm. d. Übers.) hat 30 Sitze (von insgesamt 120, – Anm. d. Übers.) und seinen Vorsitzenden erwartet eine gerichtliche Verhandlung, Yesch Atid hat 17, aber mit Hilfe kleiner sowie arabischer Parteien kann die Zahl der erforderlichen 61 Sitze erreicht werden. Bennett behauptete, dass keine Verhandlungen mit Lapid geführt würden und unterzeichnete sogar live im Fernsehen einen Eid, dass er nicht mit Yesch Atid und den arabischen Parteien in die Regierung eintreten würde. Als Netanjahu bekanntgab, es sei ihm nicht gelungen, eine Regierung zu bilden, tauchte eine Chimäre aus nominell rechten und Mitte-Links-Parteien, der radikalen Linken Meretz und der islamistischen RAAM auf. Laut Umfragen meinten 52 % der Jamina-Wähler, dass Bennett seine Wahlversprechen gebrochen habe. Sie sagten, dass sie bei der nächsten Wahl einer anderen Partei ihre Stimme geben würden. Die Zahl der Jamina-Abgeordneten wurde auf sechs reduziert, Amichai Schikli verließ aus Protest die Reihen der Partei.
Ein ehemaliger Soldat einer Spezialeinheit und Millionär wurde Premierminister, und Lapid, erfahren in politischen Spielen, wird ihn ersetzen. Kommentatoren sehen Bennett als abhängigen Kandidaten. Eine besondere Überraschung verursachten die Worte von Nir Orbach, Bennetts engstem Verbündeten. „Wir haben uns entschieden ... äh ... ein wenig von dem abzuweichen, was wir versprochen hatten“, stammelte Orbach gegenüber Reportern. „Ich war auf einem Konzert, wo Abraham Fried [der chassidische Sänger] und Aviv Geffen [der nicht-religiöse Rockmusiker] auftraten, eine solche Vereinigung war noch vor ein paar Jahren nicht möglich. Wir sind alle für Einigkeit und Veränderung, trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten.“
Fazit: In Israel kam ein Mann mit Kippa an die Macht, der in der Spezialeinheit gedient, Millionen verdient hat und strategisch denken kann. Und gleichzeitig ist er jemand, der seine eigenen Versprechen um einer hohen Position willen und der Liebe der Mainstream-Medien wegen gebrochen hat; also ein Opportunist, dem man nicht viel Vertrauen schenken kann. Ariel Scharon kam mit den Stimmen der rechten Wähler an die Macht und, um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen, setzte er ein Programm zum Abbau jüdischer Siedlungen im Gazastreifen um. Das Ergebnis sind Raketenwerfer der Hamas, die das halbe Land beschießen. Würde Bennett etwas Ähnliches machen wollen angesichts der baldigen Ablösung durch Lapid?
Aus dem Russischen von Irina Korotkina
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