Keith Gessen: Rückkehr nach Russland

In seinem neuen Roman führt Gessen zwei junge jüdische Brüder aus Amerika zurück nach Russland in die Heimat ihrer Eltern (JR)

Von Filip Gaspar

„Sie legte viel Wert auf die Betonung des offensichtlich jüdischen Nachnamens meiner Großmutter. Die beiden anderen Frauen kicherten zustimmend.“ Diese Erfahrung macht Andrej Kaplan mit einigen Moskauer Rentnerinnen, mit denen er versucht hatte ins Gespräch zu kommen. In seine Geburtsstadt Moskau, die er 1981 zusammen mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder Dima Richtung USA verlassen hatte, kehrt er 2008 mitten in der Weltwirtschaftskrise zurück, um sich um seine Großmutter Sewa zu kümmern. Die Kaplans sind aschkenasische Juden, was im Buch zwar nur gelegentlich thematisiert wird, aber dennoch eine Rolle für die Handlung spielt. Aus dem damals sechsjährigen Andrej wird in den USA der Amerikaner Andrew. Ganz aber lässt ihn die alte Heimat nicht los. Schließlich hat er einen Doktor in Russian studies erlangt. Das Problem ist nur, dass er versucht eine Professorenstelle zu ergattern, um damit seine wissenschaftliche Karriere zu krönen.

Das ihm das bisher nicht gelungen ist, beweist sein bisheriges Leben. Er wohnt in einer WG, kommt finanziell gerade so über die Runden und seine letzte Freundin hat ihn verlassen, weil er, gelinde gesagt, das Bild eines Verlierers vermittelt. Sein Bruder Dima ist das Gegenteil seines kleinen Bruders. Dima, der bei der Auswanderung bereits 16 Jahre alt war und immer ein Russe blieb, kehrt kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurück nach Moskau. Dort wird er mit an der Grenze zur Legalität liegenden Geschäften reich. Leider war zuletzt ein halblegales Geschäft zu viel darunter, was ihn dazu zwingt, die Flucht ins Ausland anzutreten. Leider muss sich noch jemand finden, der auf Großmutter Sewa aufpasst, die immer stärker an Demenz zu leiden beginnt.

Und hier kommt Andrej ins Spiel, der das letzte Mal für kurze Zeit zehn Jahre zuvor in Moskau zu Besuch gewesen war. Jetzt erkennt er die Stadt und vor allem den Boulevard-Ring, wo seine Großmutter wohnt, kaum wieder. Auch wenn er nach Hause kommt, so kommt er dennoch in ein fremdes Land zurück, denn die Hauptstadt der ehemaligen Sowjetunion hat sich mehr als nur verändert. Zu Gessen, der selbst in jungen Jahren mit seiner Familie aus Russland in die USA ausgewandert sind, werden sich gewiss einige Parallelen im Buch finden lassen.

Sein Roman ist auch seiner mittlerweile verstorbenen Großmutter Rosa, nicht Sewa, gewidmet. Er vermittelt dem Leser ein facettenreiches Bild von Russland, auch wenn er dafür öfters Klischees bedient und die Figuren manchmal überzeichnet. Dima hat nur Verachtung für Schwächlinge übrig und sagt über den Homo sovieticus: „Im Kommunismus aufgewachsene Menschen haben eine Sklavenmentalität.“

Andrej bleibt ein Fremder in der alten Heimat. Für die Russen bleibt er ein Amerikaner, ein Westler. Außerdem, auch wenn er religiös alles andere als verankert ist, bleibt er ein Jude, wie der folgende Dialog mit einem Taxifahrer aufzeigt:

„‚Woher kommen Sie? Argentinien?“ []… ‚Ich bin von hier.‘ Was ja auch stimmte. ‚Aber ich bin Jude.‘ ‚Ach, echt? Ich bin auch Jude.‘ […] ‚Toll‘, sagte ich und meinte es auch so.“

Die Großmutter Sewa lebt in einer Wohnung, die sie einst von Stalin geschenkt bekommen hat. Trotzdem empfindet sie keine Liebe zu Russland und bezeichnet es in vielen Gesprächen mit ihrem Enkel als „schreckliches Land“. Da es in der Wohnung kein WLAN gibt und Andrews Laptop zu alt ist, um das Signal vom Nachbarn zu empfangen, begibt er sich täglich in ein Café, nippt den ganzen Tag an einem Getränk, um dort ins Internet zu kommen.

 

Der erste russische Kuss

Um seinen Lebensunterhalt aus der Ferne zu verbessern, unterrichtet er in Onlinekursen. Doch das Glück ist zu Beginn nicht auf seiner Seite. Vor einer Diskothek verwechselt ihn ein eifersüchtiger Ehemann und bricht ihm mit einem Pistolenknauf die Nase. Auf seinem ersten Date mit der Russin Sonja kommt er in den Genuss eines russischen Kusses.

„Mein erster russischer Kuss! Er war wie ein amerikanischer Kuss, nur besser, intensiver, und er war in Russland.“ Doch um mit in Sonjas Wohnung zu kommen, verlangt sie eine „Reinigungsgebühr“. Sein erstes Date entpuppt sich also als Prostituierte. Als wenn das alles nicht schon genug wäre, verschlimmert sich die Demenz seiner Großmutter zunehmend und die beiden reden aneinander vorbei. Entweder erkennt sie „den Fremden“ in ihrer Wohnung nicht, und wenn doch, dann nimmt sie ihn nicht für voll, weil er immer noch freiwillig in diesem schrecklichen Land weilt.

Doch nach den anfänglichen Schwierigkeiten beginnt sich das Schicksal für Andrej zu wenden und er findet sich immer besser in Moskau zurecht. Indem er mehr auf seine Großmutter eingeht, öffnet sie sich und erzählt aus dem nicht immer einfachen Leben in der Sowjetunion, das geprägt war von Krieg, dem noch immer vorhanden Alltags-Antisemitismus, der Firmenpleite ihres Ehemanns und der Auswanderung ihrer einzigen Tochter, also Andrejs Mutter. Er selbst findet Gefallen an ihren Geschichten, aus denen er eine wissenschaftliche Arbeit machen möchte, um so seine akademische Karriere voranzubringen. Außerdem schließt er sich einem Eishockeyteam an, das sich aus Hobbyspielern zusammensetzt, die sich nach Feierabend treffen. Diese sind eine bunte Mischung aus Anwälten, Immobilienunternehmern und Öl-Managern, die einen Einblick ins postsowjetische Leben und dessen Ansichten geben. Darunter ist auch Sergej, der seine Anstellung an der Universität aufgab, um gegen die Privatisierung des Bildungssystems zu protestieren. Dieser nimmt Andrej mit zu einer Diskussionsveranstaltung und stellt ihn seinen Freunden vor, die auch schnell Andrejs Freunde werden. Vor allem die Aktivistin Yulia hat es ihm angetan, die ihm ihre Vorliebe für marxistische Theorien näherbringt, und Andrej einen kritischen Blick auf Russland werfen lässt.

Emma Abramowna, ihre beste und einzige Freundin, warnt den jungen Andrej bei einem gemeinsamen Tee davor, Sympathien für den Sozialismus zu entwickeln.

„Dieses Land hat den Sozialismus schon einmal ausprobiert. Ich habe ihn am eigenen Leib erfahren. Und ich kann dir sagen: Noch schlimmer ist nur der Faschismus.“

Trotzdem wird Andrej zu einem fanatischen Regierungskritiker, organisiert Demonstrationen mit und fühlt sich endlich angekommen. An dieser Stelle könnte der Roman enden, aber der Autor Gessen zeigt dem Leser auch die unangenehme Seite Russlands und lässt sich dafür auf 500 Seiten Zeit. Teilweise ist die Lektüre, vor allem im zweiten Teil, langatmig, aber es lohnt sich dennoch dranzubleiben, denn es ist sonst kein anderer so realistischer Roman zum modernen Russland in den letzten Jahren erschienen.

 

Keith Gessen: „Ein schreckliches Land“, aus dem amerikanischen Englisch von Jan Karsten, CulturBooks Verlag Hamburg, 486 Seiten, 24 Euro.

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