Ein Hauch des alten jüdischen Istanbuls in Tel Aviv

Ein Gespräch mit drei türkischen Juden, die im Zuge der jüdischen Abwanderung aus der sich stark islamisierenden Türkei Alija nach Israel gemacht haben.

Einige türkische Juden sitzen zwischen zwei Stühlen und haben Heimweh nach ihrer Alijah.© Ozan KOSE / AFP

Von Ilgin Seren Evisen

Im Vergleich zu vielen anderen jüdischen Gemeinden weltweit konnte die jüdische Gemeinschaft in der Türkei frei von staatlich organisierten Pogromen gedeihen. Das gilt vor allem für die sephardische Gemeinde, die den größten Teil der türkischen Gemeinschaft bildet. Die kemalistische Regierung pflegte keine antisemitische Staatsdoktrin, im Gegenteil, jüdische Intellektuelle und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren gern gesehen und brachten europäische Standards in die akademische Bildungslandschaft.

Im Zuge der zunehmenden Re-Islamisierung des Landes änderte sich dies, und antisemitische Tendenzen, Übergriffe und Attacken auf jüdische Einrichtungen nahmen zu. Geht man davon aus, dass vor der Gründung Israels 1948 in der Türkei 120.000 Jüdinnen und Juden lebten, sind dies aktuell nach Schätzungen nur noch circa 18.000 (Stand 2016).

Mit Gründung des Staates Israels setzten Einwanderungswellen aus vielen jüdischen Gemeinden der Welt ein. Eine Zeit, in der sich der Wunsch nach einer Heimat aller Menschen jüdischer Kultur zu verwirklichen schien. Die Sehnsucht nach dem „Heimatland“ und die Euphorie für Israel waren in der jüdischen Gemeinschaft sehr präsent. In verschiedenen Einwanderungsschüben wanderten nun unterschiedliche Volksgruppen der jüdischen Gemeinschaft wie Sephardim („Sefarat“ zu Türkisch), kurdische Juden, Karäer und Aschkenasim aus der Türkei nach Israel aus.

Die Geschichte der türkischen Alija, der Auswanderung oder Rückkehr nach Israel, beginnt somit 1948. Neben den vielen antisemitischen Übergriffen und Hass in den sozialen Medien sind es aber auch andere Gründe, die türkische Jüdinnen und Juden dazu bewegen, im Zuge der Alija nach Israel auszuwandern.

Drei Vertreter des türkischen Judentums aus den verschiedenen Einwanderungswellen lassen wir heute zu Wort kommen. Sie erzählen uns, wie sie ihre Alija erlebten, was sie zu diesem Schritt bewog und wie sie bis heute die Unterschiede beider Länder wahrnehmen.

 

Yakup Barokas ist 74 Jahre alt und verfügt als einstiger Chefredakteur der türkisch-jüdischen Zeitung „Șalom“ über weitreichende Kenntnisse der türkisch-jüdischen Gemeinschaften in der Türkei wie in Israel:

Yakup Barokas

„Ich bin türkischer Jude, Sepharde, und arbeitete in der Türkei als Rechtsanwalt und als Chefredakteur der türkisch-jüdischen Zeitung ‚Șalom‘. 1980 machte ich meine Alija nach Israel, 1993 kehrte ich in die Türkei zurück. 2016 kehrte ich wiederum nach Israel zurück.

Das ist nun quasi meine zweite Alija nach Israel, das erste Mal lebte ich 13 Jahre in Israel und konnte so sehr gut Ivrit lernen. Die Alija der türkischen Juden verlief in mehreren Wellen. Mit der Gründung des Staates Israel begann die erste. Alle waren euphorisch und voller Hoffnung. Mit jeder größeren Krise in der Türkei folgten weitere Migrationsbewegungen. Ich vermute, dass bei der ersten Welle 36.000 türkische Juden für ihre Alija nach Israel aufbrachen. Seit den 2000er Jahren wandern weniger türkische Juden nach Israel ein, schließlich hat auch die Zahl der Juden in der Türkei durch die vorherigen Einwanderungswellen stark abgenommen. Ich gehe von circa 400 Juden jedes Jahr aus. Heute leben vielleicht noch 12.000 türkische Juden in der Türkei. Grund für die Einwanderungswelle der eher jüngeren türkischen Juden seit den 2000er Jahren ist der aufkeimende Antisemitismus. Anders als die ältere Generation empfand sich diese junge Generation als türkisch, sprach schon kein Ladino mehr, jedoch sehr gut Türkisch, verfügte über gute Abschlüsse und erlebte dennoch Ausgrenzung und Marginalisierung. Sie wurden weiterhin von ihren türkischen Mitbürgern als „fremd“ angesehen. Ihnen wurde klar, dass sie trotz ihrer Erfolge und gelungenen Integration nie ganz dazugehören würden. Auch politische Ereignisse wie der Gaza-Konflikt führen in der Türkei dazu, dass antisemitische Ressentiments aufkommen.

Andere Gründe für die Alija sind natürlich auch wirtschaftlicher Natur. Viele Mitglieder der türkisch-jüdischen Gemeinschaft verfügen nicht über die notwendigen finanziellen Mittel, um ihren Kindern in der Türkei eine sehr gute Ausbildung zu ermöglichen. Sie wollen, dass ihre Kinder es in der Zukunft besser haben und eine gute Ausbildung bekommen. Da liegt es dann nahe, auszuwandern. Wobei der größte Teil der türkischen Juden nach Amerika oder Großbritannien auswandert, es ist ein eher kleinerer Teil, der die Alija nach Israel wagt. Es ist für niemanden einfach, seine gewohnte Umgebung, sein Herkunftsland zu verlassen. Auch für mich war es das nicht. Und Ivrit ist keine einfache Sprache. Der Staat unterstützt Einwanderer sehr, die ersten sechs Monate gibt es 10.000 Dollar und zahlreiche kostenlose Sprachkurse und Steuererleichterungen. Wir sind ein buntes Land, es gibt jemenitische, russische, türkische, französische Juden, also Menschen aus aller Welt. In der ersten Generation waren diese Unterschiede noch zu sehen und zu fühlen, ich fühlte mich als türkischer Jude. Bei meiner Enkelin sieht das schon anders aus. Sie fühlt sich als Israeli und die Türkei ist für sie nur noch das Land, aus dem der Großvater kam und das wir öfter bereisen. Wir türkischen Juden sind auch hier in Israel eine geschlossene Gemeinschaft, so waren wir es in der Türkei auch. Wir ziehen es vor, uns eher bedeckt zu halten und nicht allzu sehr in den Staatsdienst zu drängen.

Mir als türkischem Juden fehlt Istanbul, wie bestimmt vielen anderen auch. Aber Israel hat einen sehr viel höheren Lebensstandard, der technologische Fortschritt ist unschlagbar, und es ist hier einfacher für mich, meine jüdische Identität zu leben.“

 

Lina, 26, Dozentin, stammt aus Istanbul und forscht in Tel Aviv zum Thema Antisemitismus:

„Meine Familie hat 500 Jahre lang in der Türkei gelebt. Wir sind sephardische Juden und meine Eltern sprechen noch Ladino. Ich wiederum kann es nicht mehr. Ich habe in der Türkei und in Kanada Politikwissenschaften studiert und hatte in der Türkei ein privilegiertes Leben. Meine Alija ist nicht religiös motiviert, wir türkische Juden sind überwiegend säkular. Für mich gab es verschiedene Gründe, wieso ich mich zu diesem Schritt entschloss. Als junge jüdische Frau war es nahezu unmöglich, in der Türkei eine Karriere zu machen. Mein Vater und mein Freund waren nach Israel ausgewandert, und so kam mir ebenfalls die Idee, meine Alija zu machen. Der Staat unterstützt Einwanderer finanziell und durch kostenlose Sprachkurse. Mein Leben hier ist nicht so privilegiert wie in Istanbul, aber es ist insgesamt bequemer. Seit zwei Jahren lebe ich nun hier, genieße das bunte Miteinander in Tel Aviv, wo wir am Strand – Juden und Araber – friedlich zusammensitzen können. Es fällt mir schwer, zu sagen, dass ich in der Türkei viel Antisemitismus erlebte. Ich werde auch hier öfter danach gefragt, aber so oft erlebte ich dies nicht. Meine Identität konnte ich offen leben und mein Umfeld akzeptierte mich, wie ich bin. Sobald es zu Kritik an Israel kam, keimte allerdings der Antisemitismus im Land auf, denken wir an Gaza oder an andere international wahrgenommene Probleme. Aber das wurde für mich persönlich nicht zum Problem. Ich reise vor allem im Sommer gerne in die Türkei, weil ich das Land liebe, und es nicht so heiß ist wie hier. Ich fühle mich als Türkin mit jüdischer Identität und Religion. Natürlich habe ich hier mehr Freiheiten als in der Türkei, kann mich frei äußern, habe einen Job an der Uni, an der ich zu Antisemitismus forsche. Ich kann in der Stadt radeln, in Istanbul ein Ding der Unmöglichkeit.

Wir Türken sind hier super vernetzt, das stärkt uns. Wir haben auch einen eigenen Verein „Türkiyeliler birligi“ (Vereinigung der Türkeistämmigen), mein Vater engagiert sich dort ehrenamtlich. Es gibt hier auch Gegenden, in denen überwiegend türkische Juden wohnen: Ramat Aviv, Bat Yam, Raanana und Rishon Letziyon.

Die türkische Gemeinschaft ist überschaubar, wir kennen uns hier alle und kannten uns zum Teil schon vorher aus Istanbul, aber hier sind wir enger zusammengerückt. Ich bin glücklich hier, aber halte mir auch die Option offen, vielleicht irgendwann wieder in der Türkei zu leben, in der ich mich immer noch zugehörig fühle.“

 

Baruch, 29, verlor im Jahr 2003 bei Attentaten auf jüdische Einrichtungen in der Türkei Familienangehörige. Für ihn waren es weniger wirtschaftliche Motive, die ihn zu seiner Alija bewogen, sondern alltäglich erlebter Antisemitismus, der ihn bei seiner Entscheidungsfindung beeinflusste:

„Auch wenn ich mich als Kosmopolit und Humanist bezeichne, so muss ich betonen, dass wir Juden nun mal eine Nation sind und das ist einer der Gründe, weshalb ich auswanderte. Ich bin nicht besonders religiös, aber obwohl ich einer wohlhabenden Familie entstamme, bekam ich in der Türkei immer zu spüren, dass ich einer Minderheit angehörte. Um mich zu schützen, musste ich oft meine jüdische Identität verheimlichen und verlor 2003 bei Angriffen auf jüdische Einrichtungen Familienangehörige und Freunde. Als Kind wollte ich Präsident werden. Je älter ich wurde, desto klarer wurde mir, dass ich das als Jude in der Türkei niemals erreichen konnte. Man würde mich nicht wählen. Ich hatte keine Chance, meinen Kindheitstraum zu verwirklichen. Ich fühlte mich somit immer mehr als Bürger zweiter Klasse. Andere Gründe für meine Alija waren politischer und wirtschaftlicher Natur. Schon vor zehn Jahren zeigte sich der wirtschaftliche und politische Absturz der Türkei; es war klar, dass es immer schlimmer werden würde. Hier in Tel Aviv arbeite ich in einer High-Tech-Firma, bin beruflich sehr erfolgreich, kann Geld anlegen; in der Türkei konnte ich nichts dergleichen.

Ein weiterer Grund war meine Unabhängigkeit. Hier in Israel kann ich ohne meine Familie leben, muss nicht bei meinen Eltern wohnen. Ich kann mich verwirklichen.

Da ich hier in Israel Familie habe und der Staat Neuankömmlinge unterstützt, war es für mich nicht so schwer, Fuß zu fassen. Ich spreche auch sehr gut Englisch und mein Ivrit ist inzwischen auch recht flüssig, auch wenn es nicht perfekt ist. Ich lebe nun in einem Land, in dem ich frei und unabhängig bin, das wirtschaftlich stabil ist und, was wirklich einzigartig ist: Ich bin wichtig für meinen Staat. Jeder hier ist es und das empfinden wir auch so. Ich bin zu 100 % sicher, dass der Staat mich schützt! Ich habe es nie bereut, hierhergekommen zu sein, im Gegenteil, ich bin sehr stolz auf mich.“

Die jüdische Gemeinde der Türkei hat viele Erfinderinnen und Erfinder, Intellektuelle sowie Geschäftsleute hervorgebracht. Mit der sich nun verstärkenden Auswanderung der wenigen Mitglieder der verbliebenen jüdischen Gemeinschaft geht ein großer Teil dieses kulturellen Erbes für die Türkei verloren. Es bleibt abzuwarten, ob vielleicht zu stabileren wirtschaftlichen und politischen Zeiten eine Rückwanderung einsetzt oder ob die 500-jährige Geschichte des sephardischen Judentums in der Türkei gegebenenfalls enden wird.

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