Murmansk: Die vielleicht nördlichste jüdische Gemeinde der Welt

Ein Gespräch mit Ilana Schaulowa, der Gemeindevorsitzenden von Murmansk über das Leben der Juden im russischen Norden

Murmansk ist eine nördlich des Polarkreises gelegene Hafenstadt auf der russischen Halbinsel Kola. Murmansk sowie das 20 km nördlicher gelegene Seweromorsk sind wichtige Stützpunkte der russischen Nordflotte.© Maxim ZMEYEV / AFP

Murmansk ist Hauptstadt der gleichnamigen Region in der nördlich des Polarkreises gelegenen Halbinsel Kola in Russland. Erst 1916 wurde die Stadt als Endpunkt der 1915-1917 gebauten Murman-Eisenbahn gegründet, um über seinen Seehafen das damalige Zarenreich mit Rüstungslieferungen der westlichen Alliierten zu versorgen. Eine autochthone Bevölkerung hat es hier ursprünglich nicht gegeben. Seeleute, Minenarbeiter, junge Akademiker strömten hierher, und auch ehemalige Häftlinge der stalin‘schen Arbeitslager wurden nach ihrer Befreiung in Murmansk sesshaft.

Heute leben hier neben den Russen noch Vertreter von 66 weiteren Volksgruppen, einschließlich Juden aus den verschiedensten Städten Russlands, der Ukraine, Weißrusslands und sogar Aserbaidschans. Allerdings hat es weder vor der Revolution noch in den Jahren der Sowjetära auf der Halbinsel Synagogen oder andere jüdische Einrichtungen gegeben. Einer der Hauptgründe dafür ist wohl das besondere Klima: Ein halbes Jahr lang ist es Tag, ein halbes Jahr lang Nacht; es ist nicht leicht, den Zeitpunkt eines Sonnenuntergangs zu bestimmen.

Die Perestroika – die Gorbatschow‘sche Umstrukturierung – brachte positive Veränderungen mit sich: Anfang der 90er Jahre wurde in der Stadt die jüdische Kulturgesellschaft „Schalom“ gegründet, zwei Sonntagsschulen öffneten, und im Jahr 2001 öffnete die lokale Regionalgemeinschaft ihre Türen, wo heute Programme für Sprachkurse, jüdische Bräuche und ein Eintauchen in die jüdische Geschichte geboten werden.

Wir sprechen mit einer mutigen und zielstrebigen Frau namens Ilana Schaulowa, Exekutivdirektorin des jüdischen Wohltätigkeitszentrums „Sabota – Sijanie Cheseda“ und Vorsitzende der jüdischen Gemeinde der Stadt Murmansk.

 

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Frau Schaulowa, sind Sie in Murmansk geboren?

Ilana Schaulowa: Natürlich nicht. Ich bin aufgrund meines Abschlusses am Medizinischen Institut im Norden gelandet. Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, mich hier niederzulassen. Und nun bin ich schon seit 20 Jahren in Murmansk. Meine Familie war nicht religiös, und so entdeckte ich das Judentum erst spät für mich, im Erwachsenenalter. Besonders meine Großmutter half mir dabei, mir größeres Wissen über jüdische Traditionen anzueignen. Sie gehörte zu den Bergjuden aus dem Kaukasus. Übrigens haben wir sogar einen Frauenclub, wo es immer was aus der jüdischen Küche zu probieren gibt. Von Haus aus bin ich eigentlich Medizinerin. Ich komme aus einer Arztfamilie. Anfangs ging ich ziemlich erfolgreich meinem ersten Beruf nach, absolvierte dann an der St. Petersburger Akademie des öffentlichen Dienstes des russischen Präsidenten. Und 2006 erfuhr ich schließlich zum ersten Mal von der jüdischen Gemeinde in Murmansk. Das berührte mich so sehr, ich wollte einfach unbedingt Teil davon sein. Zunächst arbeitete ich ehrenamtlich, las die Thora, unterstütze die Gemeinde materiell bis ich immer tiefer einstieg und bald auch diverse Programme zu organisieren begann. Die Gemeindearbeit ist längst zu meiner Berufung geworden.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Wir würden gern mehr über die jüdische Gemeinde von Murmansk erfahren.

Ilana Schaulowa: 1992 wurde in Murmansk die jüdische Kulturgesellschaft „Schalom“ gegründet, die nördlichste jüdische Kulturgesellschaft Russlands. Und 1997 wurde das jüdische Wohltätigkeitszentrum „Sabota – Sijanie Cheseda“ (Deutsch etwa: Fürsorge u. Glanz des Chesed) ins Leben gerufen, der sich vorwiegend der Aufgabe widmete, den bedürftigsten Gemeindemitgliedern unter die Arme zu greifen und die religiösen und kulturellen Besonderheiten der jüdischen Traditionen zu bewahren. In den schwierigsten Jahren der Perestroika begann unser „Chesed“ zu arbeiten, unterstützt durch die Hilfsorganisation amerikanischer Juden „Joint“ und die internationale Jewish Caims Conference. Bis 2018 hat Chesed Programme erarbeitet, die denjenigen helfen sollen, die Pflege und Zuwendung, soziale Kontakte benötigen, Menschen, die finanziell benachteiligt, behindert, krank, alt sind oder die ihre Einsamkeit durch die Nähe zu jüdischen Traditionen und Bräuchen mildern möchten. Große Unterstützung bekamen behinderte Kinder. Der Verein hat mehr als 100 soziale und humanitäre Programme entwickelt, und nicht nur Menschen jüdischer Herkunft wurde geholfen.

Die jüdische Gemeinde der Stadt Murmansk, rechts Frau Schaulowa.


Ich möchte unbedingt erwähnen, wie viel Energie und Jahre Diana Raskina, die ehemalige Leiterin von Chesed, in das Zentrum gesteckt hat. Trotz all der Schwierigkeiten nannte sie es ihre Lieblingsarbeit. Auch heute hängt alles von solchen aktiven Menschen ab. Nach einer Entscheidung der Organisation „Joint“ im Jahr 2018, übergab Chesed die Funktion zur Unterstützung alter, kranker und behinderter Menschen sowie der materiellen Unterstützung hilfebedürftiger Juden im Rahmen des Programms „Häusliche Pflege“ an die St. Petersburger Organisation „Eva-Center“, die ihre Arbeit über lokale Vertreter durchführt, also auch in der Region Murmansk tätig ist. Unser Chesed ist zusammen mit anderen Wohltätigkeitsprogrammen zu einer großen jüdischen Gemeinde geworden, einem Kultur- und Bildungszentrum, das Juden jeden Alters vereint. Trotz der Krise, des Geldmangels und anderer Probleme betreibt das Zentrum auch weiterhin erfolgreich kulturelle, pädagogische und gemeinnützige Programme für Erwachsene, Jugendliche und Kinder: Das Tageszentrum für ältere Menschen, „Detskij SOS“ für besonders hilfebedürftige Kinder, ein Sonntagsprogramm zur Kindererziehung, Englischkurse für Kinder, ein Kunstatelier für Kinder von 3 bis 12 Jahre, das Kinderprogramm „Masel tov“, das Programm „Familiensonntag“, der Interessenclub „Religion, Traditionen, Geschichte“, der Frauenclub „Sijanie Cheseda“, der Club für hebräische und englische Sprache „Von Aleph bis He“, der Jugendclub „Maccabi“, das „Tkuma“-Musik-Ensemble und unsere Ausstellung „Kinder von Chesed malen“. Es ist wirklich erfreulich, dass regelmäßig Ausstellungen von Murmansker Künstlern oder Fotografen, Seminare, Vorträge und Rundtischgespräche, Musikkonzerte, Autorenlesungen, Aufführungen verschiedenster kreativer Gruppen in den Räumlichkeiten der Gemeinde stattfinden. Teilnehmer der Chesed-Amateurmusikgruppe – des Tkuma-Ensembles – nehmen an Veranstaltungen des Hauses der Freundschaft, Dom Druschby, teil, führen Konzerte in den Städten der Region durch. Wir können sagen, dass Chesed Menschen verschiedenster Nationalitäten zusammengebracht hat; hier finden Treffen statt mit Vertretern einer ganzen Reihe von Diasporas, gemeinsame Feiertage werden arrangiert, unsere Türen stehen allen offen. An jedem Freitag veranstaltet der Club ein „Samstagstreffen“ – unser Hauptfeiertag. Viermal im Jahr feiert die Gemeinde die großen nationalen Feste: Jüdischer Neujahrstag, Chanukka, Purim, Pessach.

Ich möchte betonen, dass unser Zentrum „Sabota – Sijanie Cheseda“ sehr großen Wert auf Jiddischkeit („Jüdischsein“) und Gemeinschaft legt. Deshalb werden auch alle Projektprogramme von Fachleuten erarbeitet, die ihre Zeit mit echter Leidenschaft dem Wiederaufleben des Judentums in unseren Landkreisen mit ihren 1.800 jüdischen Familien widmen. Eigentlich waren unsere Leute durch die Jagd nach dem „dicken Rubel“ im Norden gelandet. Die Stadt galt einst als die Hauptstadt des Nordens. Hier wurde viel mehr gezahlt als in Moskau, was natürlich viele Arbeitssuchende lockte. In Murmansk befindet sich auch ein Hafen, an dem früher viele jüdische Seeleute und Fischverarbeiter an Land gingen.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Mit welchen Problemen sieht sich die jüdische Gemeinde heute konfrontiert?

Ilana Schaulowa: In letzter Zeit haben sich eine Menge Probleme angehäuft, wir sind ja auch ziemlich auf uns allein gestellt. Im Jahr 2018 befand sich unser „Chesed“ wortwörtlich auf der Straße, doch dank der Hilfe engagierter Juden gelang es uns schließlich eine neue große Einrichtung, doppelt so groß wie die alte, zu bekommen. Auch bei den Reparaturen half man uns. Trotzdem wird es mit jedem Monat schwieriger. Große Unternehmen gibt es in den Städten der Murmansker Region nicht, und die Krise hat uns ja alle getroffen. Gerade jetzt braucht unsere jüdische Gemeinde in Nordwestrussland Unterstützung, wir haben Schulden, obwohl ich versuche, die Situation zu verbessern und an jede Tür klopfe. Die Menschen hier sind zuvorkommend, obwohl sie lange Zeit nichts von Zedeka gewusst haben. Wir hoffen auf die Hilfe mitfühlender und engagierter Menschen. In der Gemeinde arbeiteten früher sieben Spezialisten, mich miteingeschlossen: Ich war für das Programm unserer Vereine und Clubs zuständig, beschäftigte mich mit dem Wiederaufleben unseres Judentums. Jeder Club hatte seinen eigenen Leiter. Jetzt aber muss ich mich neben der Bearbeitung dieser Programme auch noch anderen Gemeindearbeiten, der Organisation, widmen, was ziemlich anstrengend ist. Gleichzeitig möchte ich betonen, dass wir als Nichtregierungsorganisation für alle ein Musterbeispiel der Einheit bleiben.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Was ist ihr starker Antrieb, ihre Motivation?

Ilana Schaulowa: Ich bin getrieben von dem Wunsch, unsere Kultur zu stärken. Ich kämpfe für ihr Überleben, ich möchte bei den Leuten die Lust zum Erhalt des Judentums wecken. Natürlich sind es nicht zuletzt die vielen Menschen, die mich durch ihre Herzlichkeit motivieren weiterzumachen. Wir haben hier keinen Rabbi, ich bin für all das zuständig, obwohl uns Rabbiner von der Föderation der jüdischen Gemeinden Russlands an Pessach und einmal im Monat am Schabbat besuchen kommen. Natürlich braucht unsere Arbeit auch Sponsoren, weshalb ich häufig Schreiben verfasse, nach Geldern suche, eben stets beschäftigt bin. Feste Arbeitszeiten habe ich allerdings nicht: Um 10 Uhr komme ich in die Gemeinde, und verlasse sie um 22 Uhr, nur am Schabbat ist mein freier Tag. Stimmt schon, manchmal möchte ich einfach alles hinschmeißen, doch dann denke ich zum Beispiel an die Alten in unserer Gemeinde. Ja, es gibt diese schwachen Momente, doch sobald mir wieder eine Rentnerin in der Gemeinde einen Schal mit den Worten „Den habe ich für dich gestrickt“ über die Schultern wirft oder ein Kind mir eine Grußkarte mit warmen Worten schickt, bin ich wieder voll da. Die Leute lieben mich, schätzen mich, sie brauchen mich. Wir haben nicht mehr viele halachische Juden, und ich bin wahnsinnig froh, dass nach meinen Vorträgen über die Thora, die jüdischen Traditionen, die Menschen sich dem Judentum immer mehr annähern, anfangen die Gesetze zu achten, sogar zu unserem Glauben konvertieren und nach Israel ziehen. Ich bin also auf dem richtigen Weg.

 

Das Gespräch führte Jana Ljubarskaja.

 

Übersetzung aus dem Russischen von Edgar Seibel

 

Interessierte haben die Möglichkeit Ilana Schaulowa via Mail zu kontaktieren: tora51hesed@mail.ru

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