Die jüdische Vergangenheit eines polnischen Genies

Vor 160 Jahren starb Adam Mickiewicz, der Verfasser von Polens Nationalepos „Pan Tadeusz“

Adam Mickiewicz, der "Goethe" und Nationaldichter Polens.© WIKIPEDIA

Von Veniamin Tschernuchin

Mickiewicz trägt zu Recht den Titel „Polens größter nationaler Dichter“, dabei beanspruchen auch Litauen und Weißrussland ihn für sich. Dafür gibt es in der Tat triftige Gründe: Immerhin wurde Adam in der Nähe der Stadt Novogrudok in der litauischen Provinz (heute Weißrussland) geboren; studierte an der Universität in Wilno (Vilnius) und lehrte in Kaunas.

Und es floss auch das Blut eines anderen Volkes in Adam Bernards Adern (so war Mickiewiczs vollständiger Name). Es handelt sich um die Mutter des Dichters, Barbara Majewska, die von den sogenannten Frankisten stammte. Der Anführer dieser Sekte, ein Jude aus Podolien, Jacob Frank, erklärte sich zum direkten Erben des selbsternannten Messias Sabbatai Zvi und wurde nach dem von den Rabbinern auferlegten Herem (die Bedeutung der Wörter mit diesen Wurzeln war „absondern“, „verbieten“ – Anm. d. Übers.) in Lemberg zusammen mit seinen Anhängern getauft.

Eine ganze Reihe von Historikern ist der Meinung, dass es unter den polnischen Adligen (Schlachta) nicht wenige dieser jüdischen Sekte entstammen. Es ist bekannt, dass unter denjenigen, die zum Katholizismus konvertierten, die Familie Majewski war – dieser Name wird in den Dokumenten erwähnt. So war Mickiewiczs Frau Icha – Celina Schimaowska – die Urenkelin eines der führenden Frankisten, Schlomo ben Elischa Schor, aus Rogatin. Solche Vermutungen bestehen ebenfalls hinsichtlich des berühmten Dichters und Dramatikers Juliusz Slowacki, des Kritikers und Übersetzers Tadeusz Boy-Želenski und des weltberühmten Komponisten Frederic Chopin.

 

Mickiewicz-Forscher musste untertauchen

Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der polnische Literaturkritiker und Historiker Juliusz Kleiner auf die „jüdischen Spuren“ in Mickiewiczs Biographie aufmerksam. Der in Lemberg lebende Kleiner ist einer der wenigen Professoren der Universität Lemberg, die mit der Machtübernahme durch die Sowjets ihre Position nicht verloren haben. Es gelang ihm sogar, einige seiner Studenten aus Arbeitslagern in Kasachstan zu retten. Eine von ihm gerettete Studentin versteckte Kleiner in den Kriegsjahren aus Dankbarkeit mit gefälschten Papieren bei ihren Bekannten.

Nach dem Krieg unterrichtete der Professor in Lublin und Krakau und forschte nach Mickiewiczs jüdischen Wurzeln; den Anlass dazu lieferte der Dichter selbst mit folgenden Zeilen: „…das Blut der alten Ritter, die Mutter – aus dem fremden Land.“ Der Literaturwissenschaftler war überzeugt: Es war Barbara Majewska und ihre Herkunft gemeint. Diese Ansicht teilten auch einige Zeitgenossen des Dichters; sein Freund, Fürst Xaver Branickij, Herausgeber seiner Zeitung, erzählte: „Adam Mickiewicz betonte öfters mir gegenüber, sein Vater wäre aus Masowien (Polnisch „Mazowsže“, eine historische Landschaft in Polen, in der Nähe von Warschau, - Anm. d. Übers.), die Mutter – getaufte Jüdin, so sei er zur Hälfte jüdisch und stolz darauf!“

Zygmunt Krasinjski, der bekannte polnische Dichter, Vertreter der polnischen Romantik und etwas antisemitisch gesinnt, erinnerte sich: „Mickiewicz ist ein vollkommener Jude. Seine Mutter hat sich taufen lassen, um seinen Vater zu heiraten, ja, so hat es sich zugetragen! Daher weht der Wind, daher kommt sein Schwung, sein Format… Dieser Mensch vereint alles in sich – Kabbala, Talmud, König David, die Energie…“

1838 wurde Mickiewicz in Lausanne zum Professor der Literatur ernannt, bald darauf leitete er den Lehrstuhl für slawische Sprachen an dem Pariser Collège de France, wo er von Zeit zu Zeit Vorträge zur Verteidigung der Rechte von Juden hielt.

Die Identität des Dichters wurde auch zum Objekt der Forschung eines anderen Gelehrten aus Lemberg – des Literaturkritikers Artur Sandauer (1913 - 1989), der einst aus dem Ghetto in Sambor fliehen konnte. Der Wissenschaftler analysierte die messianischen Ansichten der Helden von Mickiewiczs Gedichten und kam zu dem Schluss, dass sich mit der Verstärkung der messianischen Idee auch die Haltung des Dichters gegenüber Juden änderte – von neutral bis zu ausgesprochen positiv, was mit dem Versuch endete, eine Jüdische Legion zu gründen. Eine Zeit lang stand Mickiewicz dem mystischen Philosophen Andrzej Towianski nahe, der glaubte, dass die drei Völker - jüdisches, polnisches und französisches – ein dreieiniges Israel darstellten und dazu auserkoren sind, die Menschheit zu retten.

 

Polnische Forscher leugneten jüdische Wurzeln ihres Nationaldichters

Die Literaturkritikerin Jadwiga Maurer beschäftigte sich ebenfalls mit Mickewiczs „jüdischem Problem“. Jadwiga Maurer überlebte die Besetzung Polens durch die Nazis: Sie lebte mit falschen Papieren in Krakau. Ihre Familie verließ 1944 Polen mit Hilfe von Žegota (im besetzen Polen eine Untergrundorganisation zur Unterstützung der Juden, - Anm. der Übers.), flüchtete in die Slowakei und versteckte sich dort in einem Franziskanerkloster. Das berühmteste Werk von Jadwiga Maurer – „Von einer fremdländischen Mutter geboren: Ein Aufsatz über die Verbindungen von Adam Mickiewicz mit der jüdischen Welt“ – wurde 1990 in London veröffentlicht. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass jede Erwähnung Mickiewiczs in einem jüdischen Kontext von polnischen Forschern, die dies als einen Angriff auf den Nationaldichter Polens betrachteten, stets entschieden abgelehnt wurde.

Wie häufig sind Juden in Mickiewiczs Kunst anzutreffen? Einer der Helden des Poems „Pan Tadeusz“, das zwischen 1811 und 1812 spielt, ist der alte Pächter Yankel. Diese „Gattung“ wurde im russischen Reich verachtet, aber Mickiewicz zeigte Yankel nicht als fremdes Element, sondern, im Gegenteil, als organischen Teil der lokalen Landschaft. Yankel spricht gutes, richtiges Polnisch, singt Volkslieder, sich auf einem Zymbal begleitend, und ist im Allgemeinen nicht weniger ein Patriot Polens als seine polnischen Nachbarn. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein traditioneller Jude und arbeitet bereitwillig mit Priester Roback zusammen, der die patriotischen Kräfte symbolisiert. Mit anderen Worten, wir haben einen rein positiven Charakter vor uns, der mit tiefer Sympathie beschrieben wird.

Etwa zur gleichen Zeit wurde ein weiteres episches Werk veröffentlicht, das in die Geschichte der Weltliteratur eingegangen ist – „Taras Bulba“ (von Nikolai Gogol 1809 - 1852, dem großen russischen Schriftsteller ukrainischer Herkunft, - Anm. der Übers.), in dem Juden aus einem völlig anderen Blickwinkel beschrieben wurden. Und das ist nicht nur Gogols berüchtigter Antisemitismus. Die von ihm dargestellten Juden sind den europäischen Ideen dieser Zeit viel näher, aber Mickiewiczs Held widerspricht diesen Ideen. Yankel in „Pan Tadeusz“ ist ein Gleicher unter Gleichen, keine odiöse Gestalt, die mit dämonischen Merkmalen ausgestattet ist.

1845, während des Fastens des 9. Av (Tischa beAv – der neunte Tag des Monats Av im jüdischen Kalender, ein großer Fasten- und Trauertag, der an zwei Zerstörungen des Jerusalemer Tempels erinnert: Im Jahre 586 v. Chr. durch die Babylonier und im Jahre 70 n. Chr. durch den römischen Kaiser Titus, - Anm. d. Übers.) hielt Mickiewicz in einer der Pariser Synagogen eine gefühlvolle, von Herzen kommende Rede. Einige Jahre später, über das unabhängige Polen nachdenkend, bemerkte er: „Für den älteren Bruder Israel – Respekt, Brüderlichkeit, Hilfe auf dem Weg zu seinem ewigen und irdischen Glück, gleiche Rechte für alle.“

In seiner Heimat Polen lebte der Dichter nur eine sehr kurze Zeit – für fünf Jahre wurde er nach Russland verbannt, wo er Puschkin und die Dekabristen (von russ. „декабрь“, Dezember: Eine Gruppe der rebellischen Offiziere, den „adligen Revolutionären“, die am 14. Dezember 1825 in Sankt Petersburg dem neuen Zaren Nikolaus I. den Eid verweigerten und somit gegen das autokratische Zarenregime protestierten, - Anm. d. Übers.) kennenlernte, dann in Berlin Hegels Vorträge hörte, in Weimar mit Goethe sprach, durch Italien reiste und viele Jahre in Paris verbrachte.

 

Der Krimkrieg

1853 begann der Krimkrieg, mit dem Mickiewicz die Hoffnung der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Polens verband. Dem russischen Zarenreich stand ein mächtiges Bündnis gegenüber, bestehend aus Frankreich, Großbritannien, dem Osmanischen Reich und dem Königreich Sardinien. Bereits 1848 schuf der Dichter mit moralischer Unterstützung des Papstes Pius IX. die sogenannte Mickiewicz-Legion, um Polen und andere slawische Länder zu befreien. Auch diesmal hatte Mickiewicz vor, so zu handeln.

Im September 1855 verließ er Paris und machte sich auf den Weg nach Konstantinopel, wo er polnische Einheiten bilden wollte, die unter der Flagge des Osmanischen Reiches gegen die russische Armee kämpfen sollten. Und nicht nur polnische: Wir sprechen über die Jüdische Legion, bei deren Entstehung ein französischer Arzt namens Armand Levy, ein getaufter Jude, der sich unter dem Einfluss Mickiewiczs für das Judentum interessierte und jetzt den Dichter unterstützte. Die Gefährten planten, den Soldaten der Legion die Möglichkeit zu geben, den Schabbat und Kaschrut einzuhalten. Diese Idee wurde nicht verwirklicht, aber die besagte Episode in der Biographie des großen Dichters wird in Polen sehr unterschiedlich betrachtet. Der Artikel von Jadwiga Maurer zu diesem Thema, der 1995, zunächst zur Publikation angenommen, wurde dann aufgrund des Widerstands mehrerer polnischer Literaturkritiker nie veröffentlicht.

Es ist symbolisch, dass dieser Versuch, eine Jüdische Legion auf die Beine zu stellen, der letzte Akkord im intensiven Leben des polnischen Nationaldichters wurde: In Istanbul angekommen, um die Verhandlungen in dieser Frage zu führen, erkrankte Mickiewicz an Cholera und starb am 26. November 1855.

 

Übersetzung aus dem Russischen von Irina Korotkina

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