Rav Kook: Ein prophetischer Denker der jüdischen Wiederfindung und Rückkehr in die heilige historische Heimat
Der Großrabbiner hatte in den 1920er Jahren großen Anteil daran, auch orthodoxe Juden für die Idee des Zionismus zu gewinnen und gilt als geistiger Vater des religiösen Zionismus und Wegbereiter der Staatsgründung Israels. Am 1. September jährt sich sein Todestag zum 85. Mal.
Abraham Isaac Kook im Jahre 1924© WIKIPEDIA
Zionismus und Kabbala: Eine heilvolle Allianz
Als Rav Kook 1904 in Jaffa ankommt, wird er in dieser Stadt erster Oberrabbiner, wobei auch die wachsenden jüdischen Ansiedlungen im britischen Mandatsgebiet Palästinas unter seinem Einfluss stehen. In innerer Verbindung mit dieser Jahreszahl stehen Gedichte von Chaim Nachman Bialik wie „Auf der Schlachtbank“ und „In der Stadt des Tötens“, mit denen er auf die Pogrome im russischen Kischinew reagiert. Es ist auch der Zeitraum, der zur zweiten Auswanderungswelle führt, um eben der Schlachtbank zu entgehen. 1914 reist Rav Kook nach Frankfurt zu einer Konferenz der ultraorthodox geprägten „Agudat Jisrael“, um für seine zionistische Vision zu werben, die im charedischen Umfeld auf großen Widerstand stieß. Der jähe Ausbruch des Ersten Weltkriegs leitet indes eine Zeit des Exils ein, die ihn über St. Gallen nach London führt. Da hat er eine Rabbinatsstelle inne, schärft aber vor allem seinen persönlichen und sehr eigenen Blick auf das zionistische Anliegen im Kontext kabbalistischen Geschichtsbewusstseins: Die unermessliche Destruktivität des Ersten Weltkriegs erscheint ihm insofern als metaphysische Katastrophe, als diese selbst die Gegenwart Gottes in eine Exilsituation versetzt. Kook spürt dem jüdischen Schicksal der Diaspora nach und verbindet mit seiner Sehnsucht nach Zion jene Heilung der innerweltlichen Sphäre, welche Gott in die Welt zurückbringt – wobei auch säkulare Zionisten ihren Beitrag leisten.
Israel wird dabei zum Fluchtpunkt einer ganzheitlichen Vision, die den zerstörerischen Nationalismen entgegengesetzt ist. So richtet Kook in einem offenen Brief im Mai 1917 an Claude Montefiore, der das englische Reformjudentum mitbegründete, folgende Worte:
„In this extraordinary time, in which God´s hand is seen so wondrously in world history and in our nation´s history, it is bewildering that there are people with dim minds and unfeeling hearts who have the presumption to speak out with the purpose of minimizing and dissolving the great original Jewish wholeness – at this moment when the awareness of it is so necessary or our whole status in history.”
Wenige Monate später wird Kook Zeuge der Balfour-Deklaration und sieht sich in seiner Vision bestätigt. Mit der Rückkehr nach Jaffa 1919 übernimmt er das Oberrabbinat von Jerusalem und wird 1921 zum ersten aschkenasischen Großrabbiner ernennt. Als unkonventionelle – gar revolutionäre – berühmt gewordene halachische Entscheidung sei hier folgende außerordentliche Verfügung erwähnt: Säkulare Zionisten leisteten in der Landwirtschaft Pionierarbeit und Rav Kook gewährte ihnen, auch im Schmitta-Jahr landwirtschaftliche Dienste zu verrichten, was streng halachisch verboten wäre. Seine Vision vom Wiederaufbau Israels paarte sich mit einem beeindruckenden Pragmatismus: Die situative Dringlichkeit gebot ihm diese Priorisierung, was ihm im ultraorthodoxen Lager aber auch Feinde schuf. Diese historisierende Skizze verdeutlicht klar Rav Kooks zionistische Wirkungsmächtigkeit.
Im Zeichen eines ganzheitlichen Denkens
Es ist indes bedauerlich, dass Rav Kook allzu oft auf eine Symbolfigur reduziert wurde, was der Vielschichtigkeit seiner Persönlichkeit in keiner Weise gerecht wird. Denn durch sein Wirken ist nichts Geringeres als eine jüdische Renaissance angelegt, indem er die rabbinisch-talmudische Auslegetradition mit Kabbala, Philosophie und Poesie verknüpft und daraus ein genuin eigenes und faszinierendes Denken schafft, das sich jeglicher Schubladisierung entzieht. Sollte man sich um eine Einordnung bemühen wollen, dann passt das Etikett „Spiritualität“ einigermaßen auf ihn zu. Dieses darf indes nicht dahingehend missverstanden werden, als schwebe Rav Kooks Gedankenuniversum abgehoben in den Lüften, denn dieses bleibt grundsätzlich im orthodoxen Boden der Halacha als dem Religionsgesetz verwurzelt.
Als dialektischer Denker sucht er jedoch nach den Spannungsbögen und bindet das zur Sprödheit tendierende Gesetz an die Aggada, worunter die verlebendigende Anschaulichkeit narrativer Elemente zu verstehen ist. Das kreative und gleichzeitig schöpferische Zusammenspiel zwischen Halacha und Aggada befruchtet ein schöpferisches Denken, dem eine holistische Dynamik innewohnt: Als lebendige Bewegung zu einer vereinigenden Ganzheit, die aber nicht als spekulative Begriffsbewegung missverstanden werden sollte. Denn es geht im existenziellen Sinne um den ganzen Menschen mit seiner Wahrnehmung und seiner Sinnlichkeit. Dieses Zusammenspiel bildet eine Art Keim- und Geheimzelle, um die Sphären von Begrifflichkeit und Bildlichkeit so zu verschmelzen, dass mystische und rationale Elemente trennunscharf werden. Gesteigert wird diese Disposition durch eine hohe Assoziativität, welche sein tagebuchartiges Schreiben prägt. Dieser fragmentarische und unfertige Charakter ist zentral für das Verständnis seines Schreibens.
Zionismus und jüdische Frömmigkeit schließen sich nicht gegenseitig aus - im Gegenteil!© Pedro UGARTE, AFPr
Viele seiner Schriften wurden von seinem Sohn geordnet und publikationsfähiger gemacht. Vielleicht ist es gerade dieser sperrige Charakter, der durchscheint und gleichzeitig irritiert und fasziniert. Möchte man sein Schreiben in ein Bild übersetzen, so erinnern seine Wörter an Funken. Diese Assoziation ist natürlich nicht beliebig, denn der Einfluss der lurianischen Kabbala ist nicht in seinem Werk nicht zu übersehen. Das Einzigartige dabei ist indes, dass Rav Kook weniger thematisch orientiert über diese kabbalistische Prägung schreibt als vielmehr performativ die darin enthaltenen Energien auszudrücken versucht und das Wort mithin zu einer Tat werden lässt. – Und die Tatkraft des Menschen als Partner Gottes in einem nicht abgeschlossenen Schöpfungsprozess als eine entscheidende anthropologische Dimension freilegt.
Seine Herkunftsgeschichte verdeutlicht die Vielschichtigkeit: Abraham Isaak HaCohen Kook kommt 1865 in Grieva – dem heutigen Litauen – zur Welt, was insofern bedeutsam ist, als die berühmte litauische Talmudschule von Volozin eine Referenz für eine außerordentliche Gelehrsamkeit darstellt und auch das Zentrum der sogenannten Mussar-Bewegung ist, welche sich durch eine asketische und rationalistisch ausgerichtete Ethik auszeichnet. Diese Bewegung kann erneut mit dem Element des Spröden in Verbindung gebracht werden, die im zeitgleich aufkommenden mystisch geprägten Chassidismus eine Bedrohung sah, und sich entsprechend auch als Gegner bzw. „Mitnagdim“ bezeichneten. Indem nun der Vater der mitnagdischen, die Mutter der chassidischen Tradition entstammt, deutet sich just jene spannungsreiche Konstellation an, die Rav Kooks Denken in Gegensätzen und Ambiguitäten schöpferisch werden lässt. Mithin werden ideologische Verkrustungen aufgebrochen. So wird für Kook der Akt des Lernens selbst zu einer Art metaphysischen Erfahrung, indem das schöpferische Denken sich verfeinert, zu größeren Einheiten verschmilzt und sich durch die Betrachtung der gesamten Schöpfung der Lebendigkeit Gottes annähert.
Darin ist auch eine starke Affinität gegenüber Maimonides zu erkennen, dessen Intellektualismus als Ausbildung in Richtung eines prophetischen Bewusstseins verstanden werden muss. Neben den bereits genannten Strömungen und Gegenströmungen darf die jüdische Aufklärungsbewegung – die Haskala – nicht unerwähnt bleiben, die gerade Maimonides in aufklärerischen Bahnen signifikant rezipiert. Der Untertitel der Studie von Yehudah Mirsky «Mystic in a Time of Revolution» (2014) verweist treffend auf die Problematik zwischen den gegenseitig kollidierenden Ideologien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts: Die erratische Tradition rabbinischer Autorität sei durch die Transformationsprozesse in Bewegung und vor allem ins Wanken geraten. Das Konzept der Autorität nahm unterschiedliche Formen an. Während der Aufklärer auf die Autorität der Vernunft setzte, zeichnete sich der mitnagdische Talmudist durch elitären Intellektualismus aus und zu guter Letzt bildete sich an den chassidischen Höfen das Vorbild des charismatischen Rebben aus.
Rav Kook verstand diese Zeichen seiner Zeit, die letztendlich auch den Weg in eine jüdische Moderne wies und insbesondere öffnete. So werden die Offenheit und Empfänglichkeit zu seinen herausragenden Qualitäten, um aus dem Fundus religiöser Tradition Verbindungen zu weltlichen Sphären wie Wissenschaften und Kunst zu schlagen. So sind Schöpfung und Evolution für Kook kein Widerspruch, sondern Ausdruck eines sich unendlich ausdifferenzierenden Schöpfungsprozesses. Oder gemäß einer anekdotischen Ausführung von Mirsky besuchte Kook in London die Nationalgalerie und war vom Leuchten in Rembrandts Gemälden derart überwältigt, so dass er dieses Licht gemäss einem Midrasch mit dem ursprünglichen Licht der Schöpfung in Verbindung brachte. Auch der damaligen avantgardistischen Idee des Vegetarismus stand der offen gegenüber und aß selber nur am Sabbat Fleisch, wie es in einer wertvollen englischen Textkompilation von Rabbi Ari Zèev Schwartz in «The Spiritual Revolution of Rav Kook» (2018) dargestellt wird. Beide neueren Studien heben das Revolutionäre im Denken von Kook hervor.
Erstaunliche Wahlverwandtschaft zu Henri Bergson
Das innere Vibrieren geistigen Lebens erinnert stark an den jüdischen Philosophen Henry Bergson, der in Rav Kooks Tagebüchern erwähnt wird. Es handelt sich insbesondere um den Élan vital, dem sogenannten Lebens-Schwung, der nicht rein rational-begrifflich zugänglich ist, sondern in der erlebenden Dimension der Dauer, was bei Bergson eine verinnerlichende Intuition verlangt. Kook greift just diese Intuition auf und transformiert sie in den kabbalistischen Kontext eines strömenden Lebens, welches sich mit dem strömenden Bewusstsein in struktureller Ähnlichkeit dynamisiert und Spuren der schöpferischen Evolution vergegenwärtigen lässt. Für dieses tiefe und intuitive Denken bildet der Gesamtzusammenhang von schriftlicher und mündlicher Tora die geistige Matrix bis in die kleinsten Verästelungen hinein. Dieses schöpferische Denken kreist letztendlich um das Leitmotiv der «Teschuva». Im engeren Sinne beinhaltet dieses das theologische Thema des Sündenbekenntnisses und der damit verbundenen Reue. Im wortwörtlichen Sinne meint Teschuva auch «Antwort», welcher die Rückkehr zu Gott als radikale Umkehr inhärent ist. Es ist dieses Motiv, welches das gesamte Denken von Rav Kook ausmacht, wobei die Sphären der Halacha, Kabbala und Philosophie sich durchdringen und vereinigen. Um den Duktus dieses gedanklichen Gepräges näher zu bringen, sei hier auf «Die Lichter der Tora» verwiesen.
Es handelt sich dabei um das einzige Werk, das bis anhin in deutscher Sprache erschien. Eveline Goodman-Thau und Christoph Schulte haben dieses herausgegeben und mit einem gehaltvollen Vorwort versehen. Folgende Stelle veranschaulicht die genannte Verwebung mit dem Schwung des Lebens und ermöglicht ein adäquates Verständnis eines Zionismus, der die universale Bedeutung aus dem Zusammenhang zwischen Tora und Israel schöpft:
«Die öffentliche Erleuchtung, die Geschäftigkeit, der Dienst, die Tat, die Halacha, die Aggada, das Offenbare, das Verborgene, die Überlieferung, die Moral, das Lied, die Witzigkeit und die Ernsthaftigkeit des Kopfes, die Auseinandersetzung und die Logik, die Feinheit und der Hinweis – all diese sind nur eingeteilt von außen und nicht von innen. Denn im Leben selbst, seinem inneren Strom, der in der Seele empfunden wird, vom Schatz des höchsten Lebens, fließt alles über in einem Prozeß, in Einheit und Angleichung – geteilt und entfernt voneinander, scheint es, daß jeder einzelne sich vor seinem Gefährten hüten und sich vor ihm fürchten muß, danach ausspäht, sich durch seinen Fall zu erheben und sich aus seiner Zerstörung zu füllen. Die wahre Einheit und der höchste Frieden voller Leben, der wahrhaftig vom Überfluss des Namens des Heiligen – Er ist gesegnet – kommt, kann sich überhaupt unmöglich im Ausland entwickeln.»
Diese Vision erinnert zu guter Letzt an Schlegels romantisches Programm der progressiven Universalpoesie, in der er alle Lebens- und Kunstbereiche aufeinander zu beziehen versuchte, um ein nicht fixierbares Romantikkonzept zu propagieren. Man könnte den Eindruck gewinnen, als schreibe Rav Kook dieses Programm im Sinne einer jüdischen Romantik um. Auch wenn die Tendenz einer gewissen Verklärung dabei nicht von der Hand zu weisen ist, stellt Rav Kooks prophetisch anmutende Stimme gerade heute eine Referenz dar, wenn es darum geht, Antworten auf Herausforderungen jüdischer Existenz im Rahmen einer Nation, aber nicht nationalistisch, kritisch zu reflektieren. Dies umso mehr in unruhigen Zeiten, in welchen es in der ernüchternd realpolitischen Landschaft Israels an erneuernden Visionen fehlt. – Und vielleicht auch an jenem Mut, der für Kooks moralischen Anspruch stand, mehr als bloß eine Nation zu sein.
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