Die Hagia Sophia und der jüdische Tempel von Jerusalem

Die Umwandlung der okkupierten größten Kirche der Ost-Christen in eine Moschee erregt nicht annähernd so viel Empörung wie die nicht einmal angedachte Rückwidmung des jüdischen Tempelberges zu seiner ursprünglichen und legitimen Bestimmung.

Die Hagia Sophia ist um viele Jahrhunderte älter als der Petersdom in Rom.© BULENT KILIC, AFP

Von Anastasia Iosseliani

Geehrte Leser,

gewiss fragen Sie sich, was die Hagia Sophia mit dem jüdischen Tempel, der einst auf dem Tempelberg in Jerusalem stand, gemeinsam hat. Nun, es ist ganz einfach: Seit geraumer Zeit werden wir Juden beschimpft, bedroht und gar umgebracht wegen des Verdachts, dass Israel anstelle der Al-Aksa-Moschee und des Felsendoms den Tempel wieder aufbauen wolle. Wegen der Umwidmung der wichtigsten Kirche der Ost-Christen aber, der Hagia Sophia, zur Moschee geschieht - nichts. Man lässt Erdogan gewähren, während er, besessen vom osmanisch-islamischen Imperialismus, die Säkularität der türkischen Republik praktisch beerdigt.

Offensichtlich sehen zivilisierte Staaten sein Verhalten, der sich als neuer Sultan und Kalif und somit als Führer aller Gläubigen sieht, als eine Art Folklore an. Deshalb ignoriert und relativiert man den Wahnsinn, der dieser Tage aus Ankara und Istanbul kommt, und hofft darauf, dass die schon beim Regime der Islamischen Republik Iran gescheiterte Politik des «kritischen Dialogs» und des «Wandels durch Annäherung» diesmal funktionieren möge. Gerade beim «Wandel durch Annäherung» fragt sich unsereiner immer noch: Warum sollte jemand, der moralisch nicht vollkommen verwahrlost ist, überhaupt eine Annäherung in irgendeiner Form an das AKP-Regime wollen?

Mit der türkischen Besatzung Zyperns haben sich alle abgefunden

Was Erdogan selbst angeht, der sich zu allem Übel auch noch gerne griechische Inseln einverleiben würde, so muss man bedenken, wie schlecht es um die Rechtsstaatlichkeit im Allgemeinen und die Rechte von Minderheiten in der Türkei im Besonderen steht, und wie die offizielle Türkei Gebäude wie Kirchen und Klöster, die nicht in Moscheen umgewandelt werden konnten, verrotten lässt, um dann das nicht-türkische, vor-islamische kulturelle Erbe der Region verleugnen zu können. Es soll auch nicht vergessen werden, dass die Türkei immer noch Nord-Zypern okkupiert und dort ein Marionettenregime installiert hat. Erdogans Politik zeigt, dass er ein Heuchler ist. Wenn Juden Land besitzen, ist das böse. Wenn sich die Türkei, dank der untergegangen Sowjetunion, die Wiege der georgischen Zivilisation einverleibt und Nord-Zypern und die Kurdengebiete okkupiert, so ist das zu begrüßen.

Aber nicht nur Erdogan misst mit zweierlei Maß: Auch die, die konstant den Juden unter den Staaten, Israel, wegen angeblicher Mängel kritisieren und dabei Elendsgestalten wie Erdogan, Chamenei und andere Potentaten aus der MENA-Region ignorieren, praktizieren einen «Rassismus der niedrigeren Erwartungen» gegenüber Muslimen und Menschen mit Wurzeln in der MENA-Region. Gleichzeitig fördert man mit diesem Rassismus auch Antisemitismus. Denn während man, angestachelt durch seine ureigenen Ressentiments, sein Mütchen an Israel kühlt, wächst und gedeiht der Antisemitismus in der Türkei und in Europa.

Man muss nur daran denken, wie «Israelkritiker», nämlich mit Schaum vor dem Mund, sich darüber echauffieren, dass sich Juden auf dem Tempelberg bewegen, möglicherweise gar beten! Und in Israel wird darüber diskutiert, ob man den Tempel, der durch die Römer zerstört wurde, wieder aufbauen soll oder nicht. Genau diese «Israelkritiker» sind auf Tauchstation gegangen, als Erdogan die Hagia Sophia in eine Moschee umwandeln ließ und diese Umwandlung mit einer pompösen Feier begangen wurde. Denn wohin die Reise geht, sollte jedem, der kein Apologet des politischen Islam ist, klar sein, da nun selbst die alles andere als konservative «Zeit» darüber berichtet hat, wie der islamischen Regierung nahestehende Kreise in der Türkei reagiert haben.

 

Kulturzerstörer gegen Buddhismus und Christentum

Im Beitrag «Mit einem Schwert in der Hand» vom 24. Juli 2020 wird geschildert, wie ein Historiker der Universität Sakarya gefordert hat, die prächtigen Mosaiken in der Hagia Sophia zu zerstören, weil es für Muslime nicht zumutbar wäre, unter dem Bildnis einer «Hure» zu beten. Damit ist das Bildnis der byzantinischen Kaiserin Zoe gemeint, die während ihrer Herrschaft im 11. Jahrhundert nicht nur mehrere Ehemänner gehabt hatte, sondern der auch mehrere außereheliche Verhältnisse nachgesagt wurden. Das Zerstören von unbezahlbaren Mosaiken, die zum Kulturerbe der Menschheit gehören, wie es die Taliban mit den Buddha-Statuen in Bamiyan gemacht haben, gehört wohl zum Selbstbild der «neuen Türkei» unter dem Möchtegern-Sultan.

Währenddessen wächst und gedeiht, hüben wie drüben, Antisemitismus wie Unkraut. Dies lässt sich schon daran beobachten, wie Juden behandelt werden – wegen jüdischer Präsenz auf dem Tempelberg. Der Rabbiner und Likud-Politiker Yehuda Glick wurde angeschossen und hat nur mit großem Glück – Menschen wie Rabbi Glick würden sagen mit Gottes Hilfe – den Anschlag auf sein Leben und seine Gesundheit überlebt. Dies geschah nur, weil sich Yehuda Glick dafür engagiert, dass Juden auf dem Tempelberg beten dürfen. Wie es Muslimen momentan gestattet ist. Yehuda Glick hat weder zur Gewalt gegen Muslime angestachelt, noch wollte er ihnen etwas wegnehmen – er wollte Gleichberechtigung für Juden und Muslime auf dem Tempelberg und das Engagement für diese Gleichberechtigung hat ihn fast sein Leben gekostet.

 

Scharon auf dem Tempelberg

Damit ist Herr Rabbiner Glick nicht allein. Seit geraumer Zeit werden Juden beschimpft, bedroht und man versucht sie zu töten, wenn sie auf dem Tempelberg beten wollen. Man möge sich nur die Reaktion der Araber auf den Besuch von Ariel Scharon auf dem Tempelberg in Erinnerung rufen: die zweite Intifada! Eine Serie von Terroranschlägen, bei denen an die 700 jüdische Zivilisten gestorben sind, weil Ariel Scharon, der damals Oppositionspolitiker war, in Begleitung von 100 Polizisten und abgestimmt mit dem Sicherheitschef Jibril ar-Radschub, die Jerusalemer Altstadt besucht und den Tempelberg betreten hat, und Terroristen von PLO, Hamas und «Islamischem Dschihad» dies mit Gemetzel beantworten mussten.

Nun kann man diese Reaktionen mit der Reaktion der zivilisierten Welt auf die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee vergleichen. Fällt etwas auf? Weder gibt es Morde an Muslimen, noch wird zu Gewalt gegenüber Muslime aufgerufen wegen der Hagia Sophia. Stattdessen bemüht sich die zivilisierte Welt darum, die Situation zu beruhigen während Despoten wie Erdogan Öl ins Feuer giessen. Man redet immer noch von Diplomatie, von einem «kritischen Dialog», der bei im Wahn gefangenen Regimen offensichtlich nicht funktioniert, und von einem «Wandel durch Annäherung». Dieses Recycling von offensichtlich gescheiterten Methoden im Umgang mit der Türkei lässt mich entsetzt zurück. Denn so demonstrieren zivilisierte Staaten, dass sie nur Papiertiger und im Umgang mit gefährlichen und autokratischen Regimen maßlos überfordert sind. Dies, während der Jude unter den Staaten, bestenfalls die kalte Schulter gezeigt bekommt und im schlimmsten Fall wie ein Fussabtreter behandelt wird. Das wiederum führt dazu, dass Antisemitismus, im Gewand der Israelkritik, weiterhin Urstände feiern kann und es für Juden weltweit, mit Spaziergängen auf dem Tempelberg oder ohne, immer gefährlicher wird.

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