Die Thora, das tragbare Vaterland
Juden wurden wegen zahlreicher Verfolgungen schon früh zu kosmopolitischem Denken und Ortswechseln gezwungen.
Jüdische Familien fliehen 1946 aus Polen in die Tschechoslowakei.© ACME , AFP
Dem jüdischen Volk ist die Globalisierung seit jeher bekannt. Das Leben rund um den Globus ohne feste Bindung an einen Wohnort, Verbannung, Deportation und die Auswanderung tragen wesentlich dazu bei, auf „globale Art“ zu existieren. Heinrich Heine schrieb 1840, Juden hätten die Bibel durch die Jahrhunderte getragen wie ein „portatives Vaterland“. Ein anderes Vaterland besaßen sie nicht. Laut W. Scott sei die Wirtschaft für die Erfindung des Wechsels als Wertpapier „den Juden zu Dank verpflichtet“. In seinem Roman „Ivanhoe“ ergänzte er diese These: Wechsel gäben Juden die Möglichkeit, ihren Reichtum aus einem Land ins Andere zu verlegen, sodass im Falle drohender Plünderungen und Pogrome ihre Schätze in einem anderen Land unberührt geblieben wären. Wenn man unter „Reichtum“ und „Schätze“ Besitz versteht, so war der Wechsel ein Kampfmittel, das gegen Pogrome eingesetzt wurde. Ein Wechsel hatte keine Heimat, er war ein kosmopolitisches Mittel.
Ohne Heimat und ohne Recht auf eine Heimat in Europa, nahmen Juden Kosmopolitismus als etwas vollkommen Natürliches wahr. Der Hass auf Juden wechselte seine Form und konnte religiös, rassistisch, wirtschaftlich sein, blieb dabei aber immer global. Der Antisemitismus war, ebenso wie das Judentum, global, denn in allen christlichen Ländern nannte man Juden Gottesmörder, Brunnenvergifter, Verbreiter von Krankheiten, Blutsauger, die das Blut christlicher Kinder fürs Matze-Backen benutzen, Verschwörer, die die Weltherrschaft anstrebe. Rassistischer Antisemitismus war und ist universell. Wirtschaftlicher Antisemitismus ist als Reaktion auf den Wohlstand der Juden entstanden, auf ihre Erfolge in der materiellen Sphäre, und kennt keine Staatsgrenzen. Moderne Globalisierung ist für Juden keine neue Realität, sondern lediglich eine neue Terminologie; sie nivelliert bloß die nationalen Unterschiede.
Globalisierung beinhaltet freien Verkehr von Waren, Menschen, Ideen, Informationen, Angewohnheiten, Sitten, Krankheiten, Viren etc. in allen Teilen des Planeten. In europäischen und israelischen Geschäften werden Elektronik, Telefone, Autos und Kleidung derselben Firmen verkauft. Freier Handel trägt dazu bei, die Menschen anzugleichen. Doch nicht nur der Handel gleicht die Menschen an, sondern auch der Terror, der die demokratischen Strukturen für seine Zwecke nützt. Auch Terror ist eine Ware. Blut und Angst werden ver- und gekauft; das Leben wird mittels Angst vom Terror gelenkt. Der Terrorismus ist eine unvermeidliche Folge der Globalisierung.
Die „Dritte Welt“ begibt sich in die „Erste Welt“. Die Gründe dafür während der Zeit der Globalisierung unterscheiden sich allerdings von diesen, die Marcuse seinerzeit nannte: Outsider verlassen die „Dritte Welt“ nicht, um die „Erste“ zu verbessern; sie retten ihre Leben, erhoffen Verbesserungen für sich und möchten am Leben der „Ersten Welt“ teilhaben.
Der Orient exportiert seine Probleme nach Europa
Der arabische Orient exportiert nach Europa seine Probleme: Religiöse Isolation und Intoleranz, mangelnde Bildung, Unfähigkeit zu arbeiten, mangelndes Schaffen, Rückständigkeit in Wissenschaft und Technologie; und archaische Ansichten das Zwischenmenschliche betreffend: Verachtung Andersdenkender und Gläubiger anderer Religionen, Isolation und Aggression, Respektlosigkeit gegenüber Frauen, Ablehnung der Demokratie als Regierungsform, Militarismus.
Europa verneigt sich vor den Strömen der leidenden muslimischen Flüchtlinge im Paroxysmus einer „höheren Humanität“ – im Namen der Ideen, die der Islam nicht teilt, und in einer respektvollen Verbeugung, ohne eine einzige Chance darauf, ebenfalls respektiert zu werden. Islamische Fundamentalisten sind empört über die Globalisierung, denn sie beschmutzt die „moralische Reinheit“ des Islams. Die Fundamentalisten benützen die Globalisierung, um diese zu bekämpfen. Terroristen machen Gebrauch von der Bewegungsfreiheit und Meinungsfreiheit, um die Freiheit zu bekämpfen.
Der iranische Philosoph Ahmad Fardid, einer der Ideologen der Islamischen Republik Iran, sprach 1976 von der „Westoxication“ – Intoxikation durch den Westen. Es handele sich um eine vermeintliche „jüdisch-freimaurerische Zerstörung“, eng verbunden mit der „Dunkelheit“ der Welt (M. Heidegger). Heidegger, der den iranischen Ideologen beeinflusst hat, formuliert seinen Gedanken so: „Der geistige Niedergang der Erde ist so weit gegangen, dass den Völkern der Verlust der letzten geistigen Kraft droht, die allein dazu beitragen könnte, diesen Niedergang zu überwinden, zumindest weil die Finsternis der Welt, das Gedränge der Menschen, der Verdacht und der Hass auf alles Kreative bereits auf der ganzen Erde angekommen sind in einem Ausmaß, dass Pessimismus und Optimismus seit langem lächerlich sind.“ Der iranische Philosoph, seine Anhänger und Gleichgesinnte sind der Meinung, man müsse diese Intoxikation und deren Komponente – fremdartige Menschenrechte, Demokratie, Toleranz – bekämpfen, denn diese behindern die Rückkehr zu einem „wahrhaftigen orientalischen Ich“. Eine solche Ansicht rechtfertigt den auf einer traditionellen Verschwörungstheorie basierenden Antisemitismus.
Westeuropas jüdische Geschichte geht zu Ende
Westeuropa traf seine Wahl: Die jüdische Seite der europäischen Geschichte ist zu Ende geschrieben und herausgerissen, bekleckert mit Boykotten israelischer Waren; jetzt wird die Geschichte auf islamischer Seite geschrieben. Für die in der westlichen Gesellschaft herrschende Meinung stellen die unabhängigen Juden ein unerwünschtes Bild dar. Befremdlich scheint den Europäern das Bild der starken Juden, die erfinderisch, kämpferisch, erfolgreich sind. Ihre Pietät gegenüber den sozialen Elementen aus dem „mysteriösen Orient“, äußert sich in einer übertriebenen Fürsorge, die im Westen als „progressiv“ gilt.
Europa nimmt die „schwachen Geflüchteten“ auf und schwächt damit sich selbst; sie zeigen „ein Herz für Palästinenser“ und rügen Juden für den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse. Dem alten europäischen Bild von einem hinterlistigen, gierigen, korrumpierten Juden folgte das Bild eines Eroberers, eines brutal mordenden Zionisten. Der gelbe Stern eines diskriminierten Juden ist verschwunden, stattdessen haben Juden in der Vorstellung vieler Europäer einen Sheriff-Stern: Die Globalisierung des Antisemitismus geht ihren siegreichen Weg. Er ist ein Teil der Substruktur aller Vorurteile unserer Welt geworden. Die Anzahl der Juden außerhalb Israels verringert sich, und die Anzahl der Antisemiten wächst.
Die Spanische Grippe brach nach dem Ersten Weltkrieg über die Welt herein und forderte wegen unhygienischer Bedingungen und Hungersnöten mehr Opfer als das Gemetzel des Krieges.
Die Pandemie von 2019/20 brachte im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin zunächst einmal den Weltfrieden: Es fanden weder terroristische Anschläge, noch Raketenbeschuss von Passagierflugzeugen statt. Aber die Globalisierung brachte den Virus in 204 Länder der Welt, zeigte sich der Menschheit somit in ihrer ganzen Macht: Das neue Potenzial der Zerstörung wurde deutlich und flößte Angst ein.
Die Globalisierung half dem Virus
Welches Verhalten ernten wir bei Millionen von Menschen, die endlich aus ihren Häusern dürfen, jedoch ärmer geworden sind und seit Monaten ohne Abwechslung lebten? Die Völker der Natiinen sind in ihren Ländern eingesperrt, der Nationalismus besiegt den Internationalismus. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen der Staaten liegen, wie das Virus, in der Luft. Die Pandemie zeigte die Gefahren der Globalisierung auf und die Europäische Union, die Verfechterin der Globalisierung, erlebt eine ideologische Krise. Ihre vermeintliche Einheit, von der Philosophie des Multikulturalismus zusammengehalten, sieht wie eine sich selbst kompromittierende aus, die wohl auch zur Pandemie beigetragen hat.
Die Pandemie führte zu einem starken Rückgang der Ölpreise, von dem insbesondere Länder betroffen waren, die vom Öl leben, und Staaten, die Öl zu Terror verarbeiten. Dem Antisemitismus brachte sie allerdings nichts Neues: Früher wurden Juden beschuldigt, tödliche Krankheiten verbreitet zu haben; jetzt werden Juden als Schuldige in der Ausbreitung des Coronavirus bezeichnet, angeblich mit dem Zweck, den sunnitischen und schiitischen Islam sowie andere Glaubensrichtungen und Völker zu schädigen.
Diejenigen, die die Juden für die Coronavirus-Pandemie verantwortlich machen, lassen sich von der Tatsache, dass in New York und Israel überdurchschnittlich viele orthodoxe Juden an Corona verstorben sind, nicht beirren.© AHMAD GRABALI, AFPr
Wenn der Holocaust geleugnet werden kann, so kann man auch – mit der gleichen Glaubwürdigkeit – behaupten, dass die Pandemie von Juden ausgelöst wurde. Solche Verleugnungen und Behauptungen entstehen in den gleichen Kreisen. Es werden erneut „Die Protokolle der Weisen von Zion“ wiederbelebt, erneut sollen die Juden Bank-und Finanzwesen kontrollieren.
Die Anschuldigungen, dass die Juden das Coronavirus verbreitet haben, werden von rechten und linken Organisationen, religiösen Führern, Ideologen des Nationalismus, einzelnen „Analytikern“, Anhängern der Theorie der jüdischen Verschwörung und sogar von einigen Beamten in Frankreich, der Schweiz, dem Iran, Spanien, der Türkei und Venezuela veröffentlicht; mit anderen Worten, eine neue „Brunnenvergiftung“.
Wie sollten es Juden geschafft haben, diese „neue Biowaffe“ – das Corona-Virus – verbreitet zu haben? Biowaffen werden mittels Sprengköpfe von Raketen, Bomben, Artillerie-Geschossen und Granaten, Kisten oder Containern, die aus Flugzeugen abgeworfen werden, unter Verwendung spezieller Geräte, die Insekten aus Flugzeugen zerstreuen, ausgeliefert. Die gängige Technologie zur Erkennung der Ausbreitung biologischer Waffen durch Menschen ist einfach. Bisher gab es jedoch keine Berichte über Methoden zur Lieferung und Verwendung biologischer Waffen durch Juden. Im Gegenteil, die Anzahl der durch die Folgen der Coronavirus-Epidemie verstorbenen orthodoxen Juden ist in Israel und New York überdimensional hoch.
Die immer gleichen „Argumente“
Die Argumente der Verschwörungstheoretiker sind immer gleich:
Die Juden profitieren davon, weil sie das Ziel verfolgen so viele Christen und Moslems, Araber und Perser etc., etc., wie möglich zu vernichten. Die Juden profitieren davon, weil dabei die Wirtschaft in der Türkei, dem Iran, in Venezuela und anderen Ländern ruiniert wird. Die Juden profitieren davon, weil sie aus dem neuen Impfstoff Kapital zu schlagen beabsichtigen.
Diese und ähnliche Argumente, die dazu benutzt werden, die Zuschreibung diverser Verbrechen den Juden aufgrund ihnen zugeschriebener Motive bilden die typische Strategie sämtlicher antijüdischer Verschwörungstheorien. Die alte Verleumdung lebt, wenn auch in einem neuen Kleid. Die Pandemie, den neuen Stoff für Judenhasser liefernd, verfügt über alle Anzeichen einer absichtlichen Zerstörung der Menschheit, es fehlt bloß die Absicht selbst.
Die Infektion breitet sich zwischen den Menschen dank offener Grenzen, Toleranz und Respekt für den Einzelnen im Geiste der Demokratie effektiv aus. Jeder wird dabei zu einer Gefahr, zum Feind – und wo es Feinde gibt, ist es immer wieder verlockend, einen Juden zum Feind zu erklären. Ein rationaler Weg, eine Krise zu überwinden, ist nicht immer von Erfolg gekrönt. Eine Pandemie bringt Panik mit sich, eine Wellen von Neurosen, Pleiten, Scheidungen, ja Suiziden. Stabile Existenzen von Menschen und Völkern zerfallen; das planbare, laminare, geordnete Leben wird turbulent. Reale Gefahren koexistieren mit imaginären, die Ströme von wahren und falschen Informationen enden nicht und mystischen, monströsen Gerüchten wird Glauben geschenkt. Anstelle der verlorenen Stabilität kommt durch Unsicherheit und Angst vor einer unbekannten und unverständlichen Zukunft eine Beklommenheit auf.
Solche Zeiten verführen Extremisten dazu, nach einfachen und zerstörerischen Wegen zu suchen. Die Coronavirus-Pandemie schlug der Globalisierung die Krone vom Kopf, beraubte sie eines enormen Territoriums und stellte ihren Wert als Weg zur Entwicklung der Zivilisation in Frage.
Übersetzung aus dem Russischen: Irina Korotkina
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