Der Rassismus der vermeintlichen „Antirassisten“
Westliche „Antirassisten“ kümmert der bis heute täglich gelebte Rassismus in islamischen und anderen Drittwelt-Ländern wenig bis gar nicht.
Demonstration am 11. Mai 2020 vor der iranischen Botschaft in Kabul gegen Gewaltverbrechen und Ermordungen afghanischer Bürger im Iran© WAKIL KOHSAR, AFP
Kann es denn sein, dass Opfer von Rassismus nur interessant sind, wenn die Täter „weiß“ sind? Ist der neue Antirassismus tatsächlich so rassistisch?
Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gehört zu den weltweit Empörten; der zum Foltertod des Amerikaners George Floyd führende „rassistische und faschistische Ansatz“ habe ihn wie alle zutiefst betroffen gemacht, wie er über Twitter mitteilte. Floyds Tod sei Ausdruck einer „ungerechten Ordnung“, gegen die „wir überall in der Welt kämpfen“.
Das hinderte Erdogan allerdings nicht, ein paar Tage später in einem Telefongespräch Donald Trump besorgt auf die Verbindung zwischen den Plünderern und gewalttätigen Demonstranten in den USA und der kurdischen „PKK/PYD-YPG“ hinzuweisen – hier fand Erdogan Anschluss an das Geraune über die „Antifa“ in den USA, schließlich gibt es auch Bilder von europäischen YPG-Kämpfern mit entsprechender Deko.
Der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu forderte die USA gar auf, gegen die „Antifa“ in Syrien vorzugehen. So bizarr sich das anhören mag, aus Erdogans Perspektive ist es stimmig, schließlich ist es für die Türkei besonders unerträglich, dass die USA den syrischen PKK-Ableger als Verbündeten hegen und pflegen.
Reiner Platzhalter
Insgesamt sind Erdogans Äußerungen ein Hinweis darauf, wie sehr die Proteste gegen Rassismus instrumentalisiert werden und ideologisch aufgeladen sind. Hier findet der „Antiimperialist“ Erdogan genauso seinen Platz, wie Anhänger der intersektionalen Lehre oder der iranische Revolutionsführer Ali Khamenei, schließlich geht es gegen den Westen und universale Werte.
„Rassismus“ droht dabei zu einem reinen Platzhalter zu verkommen. Ein Teil der hochoffiziell Empörten sind selbst Vertreter rassistisch agierender Staaten und kommen aus Gesellschaften, in denen Rassismus weit verbreitet und immer noch als ziemlich normal angesehen wird. Staaten und Gesellschaften, die allerdings allesamt den Vorzug haben in der Diktion der intersektionalen Lehre nicht „weiß“ zu sein – und also per definitionem angeblich auch gar nicht rassistisch sein können.
Kurden, Armenier oder andere christliche Minderheiten dürften möglicherweise einen etwas anderen Eindruck etwa von der Türkei haben, oder auch die Handvoll farbiger afrikanischer Studenten, die sich im türkisch besetzten Teil Zyperns zu einer kleinen Demonstration versammelt hatten, um auf den Rassismus aufmerksam zu machen, dem sie dort täglich begegnen.
Oder nehmen wir doch das Beispiel der Islamischen Republik Iran: Auch der iranische Außenminister Javad Zarif twittert zur Zeit gerne unter dem Hastag #WorldAgainstRacism; und bereits 2014 nutzte Revolutionsführer Ali Khamenei den Twitter-Hashtag #BlackLivesMatter um auf die seiner Meinung nach bestehende Verbindung zwischen amerikanischer Polizeigewalt und dem Gazastreifen hinzuweisen – etwas, das er angesichts der aktuellen Ereignisse wiederholte.
Wo sind die Demonstranten?
2020 teilt Khamenei der Welt außerdem per Tweet mit: „Wenn Sie in den USA dunkelhäutig sind, können Sie nicht sicher sein, ob Sie in den nächsten Minuten noch am Leben sind.“ Sicher ihres Lebens waren die drei afghanischen Hazara jedenfalls definitiv nicht, die Anfang Juni in ihrem Wagen verbrannten, nachdem iranische Polizisten mutmaßlich auf sie geschossen hatten. Ein junger Hazara taumelte brennend aus dem Wrack und flehte um Wasser. Das ist die iranische Variante von „I can’t breath.“
Dass diese Geschichte weltweit allerdings mehr als ein paar iranische und afghanische Aktivisten interessiert hätte, ist nicht bekannt. Anfang Mai sollen iranische Grenzwachen 45 Hazara gezwungen haben, in einen reißenden Bergfluss zu springen. Danach war die Rede von bis zu 45 Toten. Nur, wen interessiert das? Wen interessiert der Hashtag #AfghanLivesMatter? Wohin sind die guten, besorgten, demonstrierenden Menschen plötzlich entschwunden? Der neue Antirassismus kennt vor allem falsche Opfer. Kann es denn sein, dass Opfer von Rassismus nur interessant sind, wenn die Täter „weiß“ sind? Ist der neue Antirassismus tatsächlich so rassistisch?
Afghan Lives Matter
Im Iran leben mehr als zwei Millionen geflüchtete Hazara; die schiitische Minderheit wird im benachbarten Afghanistan diskriminiert und ist ganz besonders durch die Taliban gefährdet. Für die Islamische Republik Iran sind die Hazara dabei ein politischer Glücksfall, man versteht sich als ihre Schutzmacht und kann sie vielfältig nutzen: Hazara stellen einen Großteil der unter iranischem Befehl in Syrien eingesetzten schiitischen Milizionäre, sie waren das Kanonenfutter des Krieges. Als Belohnung für ihren Einsatz winkt ihnen immerhin ein legaler Aufenthaltsstatus für den Iran.
Flüchtlinge sind so verletzbar wie erpressbar. Entgegen der offiziell propagierten religiösen Verbundenheit gibt es vielfach Belege über die rassistischen Diskriminierungen, denen Hazara in ihrem Alltag im Iran ausgesetzt sind. Sie werden ausgebeutet, und sind weitgehend recht- und schutzlos.
Oft sind sie durch ihr körperliches, „asiatisch“ wirkendes Erscheinungsbild und ihren Dialekt erkennbar. So hat vielleicht jedes Land und jede Gesellschaft ihr Rassismusproblem – nur das der Rassismus in nichtweißen Gesellschaften oft noch ein bisschen unverhohlener daherkommt als in vielen Ländern des Westens, wo es eben doch für weite Teile der Gesellschaft nicht mehr zum guten Ton gehört, offen und bewusst rassistisch zu sein.
Moderne Sklaverei im Libanon
Notorisch im Nahen Osten ist vor allen das Rassismusproblem im Libanon; das hat sicherlich auch damit zu tun, dass in der relativ freien libanesischen Öffentlichkeit seit Jahren über Rassismus gesprochen wird. Rassismus im Libanon erstreckt sich von den „Palästinensern“ über dunkelhäutige Libanesen, bis hin zu den meist asiatischen und afrikanischen weiblichen Hausangestellten.
„Palästinenser“ im Libanon sind Menschen, deren Großeltern im Zweifel bereits hier geboren wurden, die aber niemals eine Chance haben werden, die libanesische Staatsangehörigkeit zu erlangen, und die zahlreichen Behinderungen unterliegen, auch für bestimmte Studienfächer gelten für sie Quoten.
Bei den Hausangestellten kommt es immer wieder zu Skandalen und selbst zu Rückholaktionen durch ihre Regierungen, weil diese Frauen oft sklavenähnlich gehalten und misshandelt werden, auch Todesfälle kommen immer wieder vor. Die harmlosere Variante des libanesischen Rassismus offenbart sich in „lustigen“ YouTube Videos, bei denen Migranten am Straßenrand aus vorbeifahrenden Autos nassgespritzt werden.
Ein kleines soziales Experiment der libanesischen Antirassismus-Aktivisten von KAFA zeigte, dass nicht wenige Libanesen bereit waren, sich im Supermarkt für eine spezielle Seife interessieren zu lassen, die den starken Körpergeruch von schwarzen Hausangestellten überdecken sollte. Ach so, ja, der Libanon ist sicherlich ein ziemlich „diverses“, vielfältiges Land. Nennen wir es doch multikulturell.
Verdrängte Geschichte der Sklaverei
Rassismus ist kein exklusives Phänomen „weißer“ Gesellschaften. Es gibt aber ein regelrecht manisches Interesse, Rassismus alleine auf den Westen zu beziehen. Was wissen wir von der omanischen Geschichte und dem überseeischen, auf Sklavenhandel gründendem Reich, das die Sultane von Muscat auf Sansibar errichteten? Bis heute werden dunkelhäutige Omanis, die nach der Unabhängigkeit Tansanias zurück in den Oman gingen, diskriminiert.
Im Irak gibt es eine mehrere Hunderttausend Menschen umfassende dunkelhäutige Minderheit von Nachkommen afrikanischer Sklaven. Auch sie fordern immer wieder ihre Rechte ein, und versuchen ihre arabisch-afrikanischen Traditionen zu pflegen, sehen sich aber teilweise von massiver Gewalt bedroht.
Die Traditionen der Sklaverei sind ein so wichtiges wie weitgehend verdrängtes Problem vieler islamisch geprägter Gesellschaften. Daran hat nicht zuletzt der sogenannte Kalifatsstaat des IS erinnert, der die Institution der Sklaverei unter Berufung auf den Islam stolz wiedereingeführt hat.
Was wissen wir von dem Privatreich, das der arabische Sklavenhändler Tipu Tipp im Ostafrika des 19. Jahrhunderts gegen die Europäer zu behaupten suchte? Die Welt ist nur unter Verlust und Gesichtsfeldverengung strikt in Gut und Böse einzuteilen, Historie, die man nicht für den billigen Effekt benutzen kann, wird verdrängt.
Warum sind manche Opfer so viel mehr wert als andere und warum werden manche Geschichten nicht erzählt? In dem Standardwerk „Geschichte der arabischen Welt“, herausgegeben von Ulrich Haarmann, werden zwar immer wieder Sklaven erwähnt, die die arabischen Herrscher etwa in Kriegen einsetzten. Aber es findet sich kein Kapitel, nicht einmal ein Absatz über die herausragende Bedeutung des Sklavenhandels für arabische Gesellschaften. Man kann Islamwissenschaften oder Arabistik studieren, ohne mit dem Thema in Berührung zu kommen. Man stelle sich das einmal für einen Studenten der Amerikanistik vor.
Neuer Aufguss des alten Eurozentrismus
Rassismus, Sklaverei, alles Böse der Welt – eine exklusive weiße Angelegenheit. So gesehen ist der neue Antirassismus und die intersektionale Priesterschaft mit ihren Nebenkulten „Critical Whiteness“ und „Postcolonialism“ auch wieder nur ein Aufguss des alten Eurozentrismus.
Wenn denn das Wohlergehen dieser Welt schon nicht mehr „the white man‘s burden“ sein darf, wie das Rudyard Kipling einmal so schön gedichtet hat, dann muss die ganze Welt ersatzweise vom weißen Wehklagen widerhallen – Pascal Bruckner hat über diese Haltung anhand der damals modischen „tiers-mondisme“ in den 80er Jahren vom „Schluchzen des weißen Mannes“ gesprochen.
Es bleibt dabei immer dieser hässliche Verdacht: Um reale Menschen und ihr Schicksal, ihre Lebensbedingungen und ihre Würde geht es gar nicht, das dient alles nur als Projektionsfläche. Die ägyptische Aktivistin Sarah Hegazy, verhaftet und gefoltert wegen des Schwenkens einer Regenbogenfahne, hat sich gerade umgebracht. In einem Text von 2017 schreibt sie über ihre Erfahrungen mit der Staatsgewalt Ägyptens: „Wer anders ist, wer kein männlicher sunnitisch-muslimischer Heterosexueller ist, der das herrschende Regime unterstützt, gilt als verfolgt, unantastbar oder tot.“
Keineswegs beschränkt auf Weiße
Es ist eine Welt, die ganz ohne den notorischen weißen Mann auskommt, und in der sein kaffeebraunes Pendant um keinen Deut besser ist. Es ist eine böse Welt voller Rassisten da draußen. Und sie ist vielleicht noch viel böser noch etwas weiter da draußen, wo – um es im intersektionalen Jargon zu sagen – „POCs“ (people of colour) dann „BPOCs“ (black people of colour) drangsalieren, denn der Hautfarbenrassismus ist keineswegs beschränkt auf „Weiße“: Dann steht Hellbraun gegen Dunkelbraun gegen Schwarz.
Bloß dass das wieder keinen mehr interessiert. Es verschwindet im ideologischen Dunst einer westlichen Nabelschau, welche reale oder imaginierte Hautfarbe die Protagonisten dieses Diskurses denn nun auch immer haben; in der Regel sind diese Protagonisten jedenfalls ziemlich privilegiert, akademisch ausgebildet, haben Zugang zu Medien, Universitäten und Fördergeldern und betreiben ein gut laufendes Geschäftsmodell.
Man möchte fast hoffen, dass sie jenseits von Twitter, Vortragspodien und Seminarräumen nicht mit dieser hässlichen Welt da draußen einmal unabsichtlich in Kontakt geraten. Wo Minderheiten gegen Minderheiten stehen. Wo der Beduinen mit langer Ahnenreihe auf den Städter herabblickt, dessen Großvater ja erst vor 100 Jahren hier hängengeblieben ist. Wo der Kurde sich erstmal als Arier outet um dann einen Witz über Araber zu reißen.
Eine Welt fern der Sprachpfleger
Es ist eine wirklich bunte Welt, aber sie kommt in der monochromen Fixierung auf den Westen gar nicht vor. Alle hassen sich hier gegenseitig und ziehen übereinander her, und das mit einer offensichtlichen Lust und Laune, mit einer Selbstverständlichkeit, die in jedem moralinsauren westlichen Gemüt nur Entsetzen hervorrufen kann.
Zu dieser Welt voller gegenseitiger Abneigung gehört allerdings auch, dass sie einen Teil ihrer Bösartigkeit wieder verliert, denn da, wo es normal ist, dass irgendwie jeder rassistisch ist, und seine Vorurteile gegenüber der benachbarten Minderheit pflegt, bekommt das Ganze dann auch schnell den Zug einer leicht schrulligen Tradition. Jedenfalls bis zum nächsten Pogrom.
Aber klar, das ist eine Welt fern der behutsamen Sprachpfleger aller geistigen ZDFs, die schon die Kleinsten anleiten möchten, in Zukunft doch „Menschen auf Colour“ zu sagen.
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