„Ich bin meinen Instinkten gefolgt.“

Zum 90. Geburtstag der französisch-jüdischen Modeschöpferin Sonia Rykiel, die ein Imperium schuf, zu dessen prominenten Kundinnen auch Brigitte Bardot und Catherine Deneuve gehörten.

Sonia Rykiel mit ihrer Tochter Natalie© FRANCOIS GUILLOT, AFP

Von Boris Wainer

Das Leben einer prominenten Person steht immer im Licht der Öffentlichkeit. Der Tod allerdings auch. Dennoch verschickt der Élysée-Palast nicht zu jedem Franzosen, der das Zeitliche gesegnet und sich um den Staat verdient gemacht hat, eine Pressemitteilung. Aber der Modeschöpferin Sonia Rykiel, die mit 86 in Paris starb, wurde diese Ehre zuteil. Sein Beileid bekundete den Hinterbliebenen auch der damalige Präsident Frankreichs François Hollande: Mit Rykiel habe die Modewelt eine Pionierin und freie Frau verloren. Sie habe nicht nur Mode entworfen, sondern auch einen Lebensstil. Sie habe Frauen Bewegungsfreiheit verschafft.

Die zukünftige „Königin des Stricks“ wurde am 25. Mai 1930 in dem wohlhabenden Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine in eine jüdische Familie hineingeboren. Ihre Eltern, Fanny und Alfred Flies, russische Jüdin und rumänischer Jude, verließen ihre Heimatländer unmittelbar nach der Oktoberrevolution 1917. Alfred Flies war Uhrmacher, Mutter Fanny Hausfrau; die beiden hatten fünf Töchter. „Ich bin in einer sehr bürgerlichen Familie groß geworden. Wir sprachen immer über Politik, über Kunst und Malerei“, so erinnerte sich die Modeschöpferin an ihre Kindheit.

Mit 17 absolvierte sie die Schule und begann in einem Pariser Textilgeschäft als Fensterdekorateurin zu arbeiten. 1953 heiratete sie Samuel „Sam“ Rykiel, den Inhaber einer eleganten Pariser Mode-Boutique im 14. Arrondissement. Zwei Jahre später wurde Tochter Nathalie geboren. Ihr Leben verlief in ruhigen Bahnen; Sonia half zwar ihrem Mann in seinem Unternehmen, versuchte bislang jedoch nicht, ihre eigene Kreativität auszuleben.

 

Eine Schwangerschaft als Startschuss

Erstaunlicherweise bedurfte es dafür der zweiten Schwangerschaft der damals 30-jährigen Rykiel, damit in der Modewelt ein neuer strahlender Name erscheinen sollte. Seit ihrer Kindheit mochte Sonia verschiedene Pullover, konnte jetzt aber keine bequeme, aber gleichzeitig schicke Kleidung für Schwangere finden. Schließlich bestellte Sam für seine Frau einen Strickpulli aus venezianischer Wolle, der nach ihren Forderungen siebenmal (!) geändert werden musste; und dennoch konnte man Sonia nicht zufriedenstellen. Daher blieb ihr nichts anderes übrig, als eine eigene Skizze zu erstellen. Dieser Entwurf ist so gut gelungen, dass Sam einige dieser Pullis in seiner Boutique ausstellte. Sofort zogen sie – wie auch die andere von Rykiel entworfene Umstandsmode – die Aufmerksamkeit junger Pariserinnen auf sich. Aber der Ruhm war noch weit entfernt.

 

Audrey Hepburn, Catherine Deneuve und Brigitte Bardot als Kundinnen

Und dann eilte ihr der Zufall zu Hilfe. Die junge angehende Sängerin Françoise Hardy (bald galt sie als Schönheitsideal der 1960er Jahre und das Gesicht der Yves-Saint-Laurent-Kollektionen) zog bei den Aufnahmen für das Cover der Zeitschrift „Elle“ den Pulli von Sonia Rykiel an. Der enge gestreifte „Poor Boy Sweater“ wurde zu einer Sensation. Bald darauf kaufte Audrey Hepburn bei Sonia ein Dutzend solcher Pullis; auch Catherine Deneuve und Brigitte Bardot wurden zu ihren Kundinnen. Es vergehen noch einige Jahre, und zu den Freundinnen und Kundinnen von Sonia Rykiel werden Anouk Emee, Fanny Ardan, Isabelle Ajani und Jeanne Morot. Sonia erzählte: „Dieser Designer-Job ist mir urplötzlich in den Schoß gefallen. Es war purer Zufall. Die ersten 10 Jahre sagte ich mir: ‚Morgen höre ich auf.‘“

Aber sie hat den Nerv der Zeit getroffen. Ihr Stil harmonierte mit dem Zeitgeschmack der 1960er Jahre. „Ich hatte keine Ahnung und machte daher einfach das, was ich wollte“, erinnerte sich die Modedesignerin Jahre später. „Ich habe auf niemanden gehört. Regnete es, entwarf ich einen Regenmantel. Es wurde kalt – ein Wintermantel musste her. Ich bin meinen Instinkten gefolgt.“

Rykiel wird eine der wichtigsten feministischen Modedesigner des 20. Jahrhunderts – das und ihre Vorliebe zum Schwarz verschafften ihr den Spitznamen „Coco Rykiel“.

1968 war für Sonia nicht nur von der Scheidung von Sam, sondern auch von der Eröffnung ihrer ersten Boutique geprägt – im eleganten Stadtteil Saint-Germain-des-Prés, einem Quartier der Philosophen und Schriftsteller, verbunden mit den Namen Sartre und Beckett, Picasso und Simone de Bovoire. Es war der Nonkonformismus, der Rykiels Stil prägte und zu ihrer Visitenkarte wurde. „Ich habe mich nie von allgemeingültigen Tendenzen leiten lassen. Meine Philosophie hieß Antimode“, verriet die Modedesignerin. Sie rief die Frauen auf, die Mode für sich selbst zu adaptieren anstatt ihr – und dem Diktat der Designer – blind zu folgen.

Möglicherweise war dies für die studentische Revolte von 1968 der Grund, allein die Boutique von Sonia Rykiel zu verschonen, als die schicken Vitrinen auf Saint-Germain zerschmettert wurden: Ihre Kreationen spiegelten den neuen Geist der Freiheit wider. Keine Abendkleider, sondern breite, fließende Hosen, locker sitzende Strickpullover und Baskenmützen bot die Modeschöpferin ihren jungen Kundinnen an.

 

Ein eigenes Parfum

Die Modelle Prêt-à-porter für den Massenverbraucher begannen gerade erst den Markt für sich zu erobern, und Sonia Rykiel war eine der Pionierinnen dieser Tendenz. 1970 nannte sie das amerikanische Magazin „Woman’s Wear“ „Königin des Strick“, das genügte ihr aber nicht mehr – das Firmenimperium wächst, die Modedesignerin bringt ihre Kollektionen an Accessoires und Parfums auf den Markt. Einige Düfte wurden in Flakons in Form eines kurzärmligen Pullis verkauft – Symbol des Modehauses Sonia Rykiel.

1972 richtete Madame Rykiel das berühmte Pariser Hotel Crillion am Place de la Concorde ein, 1977 wurde sie zur ersten namhaften Designerin, die eine Kollektion für den Katalog-Versand erstellte. 1987 kam die Kindermoden-Marke „Sonia Rykiel Enfant“ hinzu, 1990 eine Herrenmode-Kollektion; zwei Jahre später gab es auch Schuhmodelle von Sonia Rykiel. Die Modekünstlerin schuf Porzellan und Möbel, war als Schriftstellerin tätig – schrieb Romane, Bücher über Modegeschichte und Kindermärchen; Andy Warhol drehte einen Film über sie.

1974 wurde die Welt von der Rykiel-Kollektion mit von außen sichtbaren Nähten überrascht: „Ich wollte die Hautseite zeigen – sie ist schöner. Nähte, die die Formen des Körpers wiederholen, erinnern an die Bögen eines Tempels…“ Es war ihre Erfindung, den Kollektionen poetische Namen zu geben. Ebenfalls gehörte ihr die Idee, Kleidung mit Farbdrucken und Inschriften zu versehen, was zunächst mit Befremden aufgenommen wurde. Der erste Pullover mit der Inschrift „sensuous“ („sinnlich“) wurde 1971 entworfen.

1980 wurde Sonia Rykiel zu einer der zehn elegantesten Frauen der Welt gewählt – und lieferte somit den Beweis, dass die Strickkleidung mit allen möglichen Trends schritthalten kann. In einem Interview formulierte die Designerin ihr Credo: „Von Anfang an hatte ich nicht den leidenschaftlichen Wunsch ‚Mode‘ zu machen; vielmehr war es mein Bestreben, der Frau zu folgen, die mir gefallen würde. Sie ist intellektuell, ein bisschen crazy, mal lustig, mal ernsthaft … Eine Frau für Männer, eine Frau für Kinder, eine Frau für Liebhaber… Sie schätzt Literatur, Malerei, Partys, das Leben… und Saison für Saison schrieb ich ihre Geschichte.“

20 Jahre lang – von 1973 bis 1993 – war Sonia Rykiel Vizepräsidentin der „Chambre Syndicale du Prêt à Porter des Couturiers et des Créateurs de Mode“; war außerdem Ehrenmitglied des Chocolate Clubs und Gran Havana Cigar Clubs. Ihre Wurzeln hat Sonia Rykiel indes nicht vergessen: Sie spendete unter anderem für israelische Kinder – Opfer des arabischen Terrorismus.

 

Eine Dynastie?

1995 ernannte Sonia Rykiel ihre Tochter Nathalie zur Geschäftsführerin sowie Kreativdirektorin des Modehauses Sonia Rykiel. Interessanterweise ähneln sich die Schicksale beider Frauen. Beide wurden Mütter, bevor sie sich ihrer Karriere widmeten; beide begannen ihre berufliche Tätigkeit in den Unternehmen ihrer Ehemänner, beide ließen sich scheiden und führten das Geschäft alleine fort. Mit 20 fing Nathalie an, im Unternehmen als Model zu arbeiten; später vertrat ihre Tochter, Sonias Enkelin Lola, die Modemarke in den USA.

2007 wurde Nathalie Rykiel offiziell zur Präsidentin des Firmenimperiums Sonia Rykiel. Gleichzeitig erfuhr die Welt von der Erkrankung der „Königin des Strick“: Sie nannte sie „P de P“ (Putain de Parkinson, „diese verfluchte Parkinson-Krankheit“). Frankreichs Präsident Nikolas Sarkozy überreichte ihr 2009 den Orden der Ehrenlegion und bezeichnete sie dabei als „eine unerträglich französische Designerin“. Daran waren nicht nur ihre Kreationen schuld, die Rebellion und Unabhängigkeit repräsentierten; das Modehaus Sonia Rykiel blieb auch bis zum Verkauf von 80 % seiner Anteile an die Investmentfirma Fung Brands Ltd. aus Honkong im Jahre 2012 das einzige unabhängige Modeunternehmen in Frankreich, das nur der Gründerfamilie gehörte.

 

Mick Jaggers Töchter

Dennoch konnte die Marke Sonia Rykiel ihre Renaissance erleben – dank den Schwestern Jagger, den Töchtern des legendären Frontmanns der Rolling Stones, Mick Jagger. Julie de Libran, die neue Kreativdirektorin der Marke Sonia Rykiel, gab zu, dass die Werbekampagne von den Schwestern Jagger eine besondere Bedeutung hatte. Sie lief mit viel Elan, die Dreharbeiten fanden in Saint-Germain-des-Près statt, Model Jerry Hall, die Mutter der beiden Schwestern, lief für Sonia Rykiel auf dem Podium. Mit Julie de Libran ging es mit dem Modehaus wieder bergauf; die neue Kreativdirektorin konnte der Marke ihre frühere Heiterkeit und eine gewisse Leichtherzigkeit zurückgeben. Im Kern der neuen Kollektion standen nach wie vor Rykiels Stil und Philosophie der 1960er Jahre; hier war in der Tat das Neue in Wirklichkeit das vergessene alte Gute.

 

Die Marke wird begraben – der Name lebt

Aber Julie de Libran verließ im März 2018 das Modehaus und einen Monat später meldete das Unternehmen Insolvenz an; die Boutiquen in London und New York wurden geschlossen. Als sich nach einem Jahr kein Käufer für das legendäre Modehaus fand, hat das Pariser Handelsgericht im Juli 2019 die Liquidation des Hauses Sonia Rykiel beschlossen. Eine Pariser Designerin meinte damals über Sonia Rykiel: „Ich hatte das Gefühl, sie sei zum zweiten Mal gestorben.“

Ja, die Modemarke hörte auf zu existieren; was Madame Rykiel selbst anbelangt, sie – Kommandeur der Ehrenlegion und Kommandeur des Verdienstordens der Nation – wird nicht in Vergessenheit geraten. Auch eine Rose ist nach ihr benannt: Rosa generosa Sonia Rykiel.

Im September 2018 wurde im sechsten Pariser Arrondissement, im Quartier Saint-Germain-des-Prés eine Allee auf den Namen Sonia Rykiel getauft. Eine Königin wird immer eine Königin bleiben.

 

Übersetzung aus dem Russischen von Sofia Ahatyeva

 

Sonia Rykiel: Die schönsten Zitate

„Das Kleid jeder Frau in jedem Land ist ein ewiger Kampf zwischen dem ersichtlichen Wunsch, sich anzuziehen und dem geheimen Wunsch, schnell ausgezogen zu werden.“

„Ich verzeihe nie den Menschen, die zu faul sind, zu denken.“

„Wie wollen Sie einen High Lifestyle wahren, ohne High Heel zu tragen?“

„Deine Kleidung – deine Ansichten. Du wirst nicht verstanden, wenn du im Anzug über Liebesaffären des Nachbarn plauderst und in einem transparenten Kleidchen die Regierung kritisierst. Die Kleidung muss Fortführung der Gedanken sein.“

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