Der 8. Mai - Befreiung vor 75 Jahren

Von Tätern, die ihre Ämter behielten, von ungeliebter Vergangenheitsbewältigung und unterschiedlichen Narrativen in Ost und West

© AFP

Von Dr. Nikoline Hansen

Besiegt oder befreit? Der 8. Mai 1945 in Deutschland hat viele Gesichter, und nur eine Minderheit erinnert sich gerne an den Tag. Denn die „Befreiung vom Hitlerfaschismus“, wie das Narrativ in einem Teil des „befreiten“ Landes gedeutet wurde, war für die Mehrheit der Deutschen ein Tag der Niederlage. Auch wenn am Ende wohl nicht mehr viele an den „Endsieg“ geglaubt hatten, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hatte nicht damit gerechnet, dass Deutschland noch einmal kapitulieren würde.

Doch auch die Minderheit, die sich nun endlich wieder in Freiheit wähnen durfte, hatte es nicht einfach. Viele, die ihre Heimat und ihr komplettes Hab und Gut verloren hatten, landeten in den sogenannten „DP“-Camps, Lagern für Menschen, die nicht mehr dorthin zurückkonnten, woher sie gekommen waren. Andere Verfolgte hatten es geschafft, die Zeit versteckt, in „privilegierter Mischehe“ oder mit falschen Papieren zu überstehen. Für sie war der 8. Mai ein Tag der Befreiung, auch wenn die konkreten Umstände die Freude darüber sicher trübten. Denn die Menschen, die zuvor treue Anhänger des Naziregimes gewesen waren, verschwanden nicht von einem auf den anderen Tag. Nur sehr wenige wurden vor Gericht gestellt, andere schafften es, sich auf die eine oder andere Art „Persilscheine“ zu beschaffen – die Netzwerke funktionierten. Wohl nur sehr wenige hörten von einem Tag auf den anderen auf, Nazi zu sein.

Es begann die Zeit der Umerziehung. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass Deutschland ein geteiltes Land war: Es war in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Während die Engländer und Franzosen wenig Potential hatten, um ernsthafte Umerziehungsmaßnahmen zu installieren, sondern versuchten, „zuverlässige“ Deutsche mit dem Wiederaufbau des Landes zu betrauen, schufen die Amerikaner ein Programm, in dem die deutsche Bevölkerung mit den Gräueltaten des Krieges konfrontiert wurden. Es ist schwer zu sagen, ob die Maßnahmen den gewünschten Erfolg erzielten.

 

Täter blieben im Amt

Viele entzogen sich der Konfrontation durch Leugnung – und damit in die häufig gehörte Standardformel „Wir haben davon nichts gewusst“. Andere machten sich gar nicht erst die Mühe, diesen unglaubhaften Umweg zu nehmen. Gerade in Berufen, an denen es Mangel gab, erfolgten die Überprüfungen bzw. „Entnazifizierungsmaßnahmen“ eher großzügig. Juristen, Ärzte, aber auch Lehrer konnten weiter in ihren Berufen tätig sein. So kam es vor, dass Ärzte, die zuvor in KZs tätig waren, nun in Ämtern saßen, die über die Entschädigung eben jener dort zuvor eingesperrten Menschen entschieden. Auch in den Ministerien wurde kein vollständiger Austausch vollzogen – die historische Aufarbeitung dieses Phänomens begann erst vor wenigen Jahren und ist noch nicht abgeschlossen. Erst am 11. Januar 2012 wurde eine Kommission im Bundesjustizministerium eingesetzt, die die nationalsozialistische Vergangenheit aufarbeiten sollte. Seit Juli 2005 beschäftigt sich eine Historikerkommission mit dem Auswärtigen Amt und erst dieses Jahr wurde bekannt, dass der erste Direktor des Filmfestivals Berlinale es erfolgreich geschafft hatte, seine Nazivergangenheit zu verbergen. Mit anderen Worten: Auch noch 75 Jahre nach Kriegsende gibt es „Überraschungen“.

Die Etablierung des jüdischen Lebens in Deutschland war mühsam. Auf Betreiben der Amerikaner wurde bereits am 24. November 1949 die „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ gegründet, eines der Projekte, die ein friedliches Zusammenleben der Religionen in Deutschland befördern sollte. In West-Berlin etablierte sich eine der größten jüdischen Gemeinden im Nachkriegsdeutschland – dazu trugen die Juden aus den ehemaligen DP-Camps bei, deren Pläne, in ein anderes Land weiterzureisen, aus diversen Gründen gescheitert waren. Einige Juden kamen zurück, die im Exil nicht glücklich geworden waren.

 

Vergangenheitsbewältigung war nicht bei allen willkommen

Die Deutschen, die dieses Wiederaufleben jüdischer Gemeinschaft begrüßten, waren in der Minderheit. Die zähen Kämpfe um Entschädigungen, die sogenannte „Wiedergutmachung“, erzählen davon eine beredte Geschichte. Durchbrüche waren Einzelnen zu verdanken, die das Ziel verfolgten, Deutschland zu einem Land zu machen, das sich verantwortungsvoll seiner Vergangenheit stellt und in in dem alle Menschen gleiche Rechte haben. Zu diesen Personen gehörten etwa der Berliner Joachim Lipschitz, der sich nicht nur in der Aufarbeitung des Unrechtregimes engagierte, sondern auch dafür sorgte, dass das Land Berlin Entschädigungsleistungen an ehemals Verfolgte zahlte, die keine Mittel vom Bund erhielten. Dazu gehörte aber auch Ernst Benda, der sich im Bundestag vehement dafür einsetzte, dass die Verjährung von NS-Verbrechen ausgesetzt wurde. Auch wenn es sich um kleine Schritte und harte Kämpfe handelte, im Laufe der letzten 75 Jahren hat sich Deutschland zu einem Musterland der Vergangenheitsbewältigung entwickelt.

Ein Einschnitt stellte die Wiedervereinigung dar, die zwei Länder zusammenbrachte, die sehr unterschiedlich mit ihrer Vergangenheit umgegangen waren. In der ehemaligen DDR hatte sich das sowjetische Siegernarrativ durchgesetzt, die „bösen Nazis“ hatten verloren, die „guten Antifaschisten“ gewonnen. Fortan beharrte auch die DDR, in der Tradition des guten Antifaschismus zu stehen, was als Vorwand diente, die Verantwortung für die Vergangenheit abzulehnen und Entschädigungen nur an „Kämpfer gegen den Faschismus“ zu zahlen. Das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst erinnert seit 1967 an dem Ort, an dem die Kapitulationserklärung unterschrieben wurde, an die Geschichte der russischen Besatzungszeit. Von 1986-1994 firmierte es unter dem Titel „Museums der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschlands im Großen Vaterländischen Krieg“.

 

Einmaliger Feiertag in Berlin

Heute leben wir in einem Deutschland, das immer noch verzweifelt versucht, seinen Platz in der Weltgeschichte zu verteidigen. Oft hat man das Gefühl, dass dieser Kampf – zu dem auch das besondere Verhältnis zu Israel gehört – ein zähes Ringen ist. Zu unterschiedlich waren die Erinnerungen, die sich in den beiden Deutschlands bis zur Wiedervereinigung etablierten. Erinnert sei besonders an die historische Rede Richard von Weizsäckers, die er anlässlich des 40. Jahrestages der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hielt. 1985 sagte er: „Es gab keine ‚Stunde Null‘, aber wir hatten die Chance auf einen Neubeginn.“ Am Ende seiner Rede appellierte er an die Jugend: „Lernen Sie miteinander zu leben“ und führte weiter aus: „Ehren wir die Freiheit. Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns an das Recht“.

Der 8. Mai 2020 ist in Berlin ein Feiertag. Auch in der DDR war er von 1950 bis 1967 ein Feiertag. In der Sowjetunion wurde der 9. Mai als „Tag des Sieges“ gefeiert. Auch in anderen europäischen Staaten ist der Tag Anlass zum Feiern. Nun, 75 Jahre nach Kriegsende, wurde der Tag in Berlin zum Feiertag erklärt. Es verwundert, dass der 8. Mai, der für eine Mehrheit der Berliner damals keinen Grund zum Feiern darstellte, nun aber auch nur für das Jahr 2020 als Feiertag installiert wurde. In den Jahren danach ist er wieder ein normaler Arbeitstag.

Die Auseinandersetzung um die Erinnerung darf und muss auch 75 Jahre nach Kriegsende weitergeführt werden, denn es darf niemals vergessen werden, welcher Mühsal es bedurft hatte, Deutschland wieder zu einem lebenswerten Land zu machen.

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