Der Imperativ der Erinnerungen

Erst durch die Gründung Israels konnte des Holocausts angemessen gedacht werden.

Gastgeber Netanjahu mit ausländischen Staatschefs anlässlich des Holocaust-Gedenktages© Abir SULTAN, AFP

Von Pavel Poljan

Im Intervall zwischen dem 7. und 9. Mai 1945 hat das Dritte Reich – in Reims und in Karlshorst – zweimal die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. Dies war nicht nur der große Sieg der Anti-Hitler-Koalition über Hitlerdeutschland auf dem europäischen Kriegsschauplatz – dies war auch ein Sieg über die verbrecherische Ideologie und den verbrecherischen Mörderstaat.

Den Siegern stand es bevor gemeinsam und erneut die Karte Europas umzugestalten – Deutschland, Österreich und Berlin in Besatzungszonen, sowie Europa – in geopolitische Kontrollzonen aufzuteilen. Ebenso musste man sich der Probleme von Millionen Flüchtlingen, der Heilung ökonomischer Kriegswunden und der Bestrafung von Kriegsverbrechern annehmen. Es ging nicht darum, die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen zu würdigen oder ihrer zu gedenken. Die Vernichtung des europäischen Judentums (die Millionenmaßstäbe waren bereits 1946 zu erahnen) wurde selbst in Nürnberg nur beiläufig erwähnt. Ja, und von welchem Gedenken für die Opfer des Holocausts konnte überhaupt die Rede sein, wenn in den zwei Ländern, auf deren Territorien der Holocaust hauptsächlich stattgefunden hatte – in Polen und der UdSSR – der Antisemitismus nach dem Krieg nicht verschwand, sondern im Gegenteil sogar noch zunahm?

In Polen in Form von Pogromen, in der UdSSR in Form des Abrisses der Obelisken an den Orten der Erschießung, der Vernichtung des Europäischen Antifaschismuskomitees, der „Ärzteakten“ und der ganzen Anti-Kosmopoliten-Geschichte.

 

Erst in Israel wurden die Opfer angemessen gewürdigt

Somit war es nicht verwunderlich, das ungeachtet des Katastrophenausmaßes und des sich aufdrängenden Imperativs des Gedenkens, die Juden zur Würdigung ihrer Helden des Widerstandes auf die Gründung eines eigenen Staates im Mai 1948 warten mussten.

Doch hier begannen völlig andere Schwierigkeiten: die heiße Diskussion über einen passenden Tag. David Ben-Gurion schlug den 27. Nisan vor: das sind sechs Tage nach der Beendigung des Peissah, der dritte nach dem Beginn des Warschauer Aufstandes und eine Woche vor Beginn des Jom haSikaron (Tag des Gedenkens) und dem Unabhängigkeitstag.

Die Nähe all dieser Daten würde den Weg des jüdischen Volkes zur Auferstehung ihres Staates symbolisieren. Der Oppositionsanführer Menachem Begin und ein Teil des israelischen Rabbinats fanden den 9. Ava passender – den Tag, an dem der erste und zweite Tempel zerstört wurden. Und der andere Teil des Rabbinats und die Bewegung „Mizrakhi“ waren für den 10. Tevet – den Tag des Fastens, zum Gedenken des Beginns der Zerstörung Jerusalems. Diesen Streit löste man in der Knesset: am 12. April 1951 hat die Mehrheit der Abgeordneten für die Idee von Ben-Gurion und für seinen Namensvorschlag „Jom haScho’a“ („Tag der Katastrophe und der Helden des Widerstandes“) gestimmt. Der Feiertag beginnt am 27. Nisan nach Sonnenuntergang und endet am Abend des darauffolgenden Tages.

Die Hauptzeremonie findet in der Gedenkstätte „Jad WaSchem“ mit Teilnahme der Staatsführung und der Familien, die den Holocaust überlebten, statt. In Gedenken an die 6 Millionen vernichteten Juden entfachen sechs der Holocaustüberlebenden oder deren Familienangehörige Fackeln. Am Morgen des nächsten Tages ertönt im ganzen Land eine zweiminütige Sirene. Für diese 120 Sekunden bleibt das ganze Leben in Israel stehen: die Arbeit hält an, die Fußgänger bleiben stehen, die Autofahrer parken und steigen aus. Nach dem Verstummen der Sirene werden am „Jad WaSchem“, auf dem Platz des Warschauer Ghettos, Gedenkkränze niedergelegt. 2020 fällt der Tag der Katastrophe und der Helden des Widerstandes auf den 20. und 21. April.

 

Die europäischen Gedenktage

Doch dieses denkwürdige Datum trägt nicht einen innerjüdischen, sondern einen deutlichen innerisraelischen Charakter. Die Gedenktage der ermordeten Juden, die in den 1990er Jahren von Ungarn (16. April – Beginn der Massendeportation ungarischer Juden nach Auschwitz 1944), Rumänien (9. Oktober – Beginn der Deportation rumänischer Juden in das transnistrische Ghetto 1941) und Lettland (4. Juli – Tag der Zerstörung aller Synagogen in Riga 1941) offiziell eingeführt wurden, waren auch innerstaatliche und gemeindliche Gedenktage. Für Deutschland wurde der 9. November zu einem ähnlichen Datum, wenn auch nicht offiziell konstituiert, in Erinnerung an die Kristallnacht 1938.

Das Bewusstsein für den Versuch des Ethnozids an den Juden als eines der Hauptziele Hitlers im Zweiten Weltkrieg und die Wahrnehmung des gesamten europäischen Kriegsschauplatzes als ein Gebiet des Holocaust wurde bereits während des Krieges geformt – zumindest von Ilya Ehrenburg und Wassili Grossman während der Arbeit am „Schwarzen Buch“. Das Buch wurde in den 1940er, 1950er, 1960er und 1970er Jahren nie veröffentlicht, aber seine Zwischenmaterialien, die an vielen Orten hinterlegt wurden, sind zu einer Art Larve der historischen Wahrheit über den Holocaust geworden.

Gleichzeitig wurden viele Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden in vielen Ländern und in vielen Sprachen veröffentlicht. Als quasi Reaktion auf all diese Ego-Dokumente und mit gleichzeitiger Einbeziehung neuer Archivquellen, haben einzelne Historiker und Philosophen zunehmend versucht, die unterschiedlichen Ereignisse des Holocaust zu reflektieren, zusammenzufassen und ein ganzheitliches Bild darzustellen. Die Bücher von Eli Wiesel, Primo Levy und Raoul Hilberg, der Eichmannprozess (1961) und die Serie „Holocaust“ (1978) sind Meilensteine auf dieser ziemlich langsamen Reise.

Und dennoch sammelten sich allmählich das Verständnis und Bewusstsein für den globalen Charakter des Holocaust, seine historisch-tektonische Bedeutung und seine Einzigartigkeit an. Als Hauptstadt des Judenmordes, bestehend aus Hunderten von Ghettos und Schießgräben, aus Dutzenden Gaskammern und Krematorien, gilt Auschwitz-Birkenau – Auschwitz, dieser Anus Mundi, wie ein sentimentaler SS-Angehöriger ihn ehrlich betitelte. Hier wurden auf nur wenigen Hektar Land mindestens 1,1 Millionen Juden getötet und verbrannt – jedes sechste Opfer des Holocaust!

Vor 75 Jahren, am 27. Januar 1945, wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit und die Wahl dieses Datums als Gedenktag für die Holocaust-Opfer war damit vollkommen passend. In einigen Ländern, so auch in Russland und Deutschland, wird dieses Datum, wenn auch inoffiziell, bereits seit langem, seit 1995, gefeiert. Die Lage änderte sich 2005, als über 40 Monarchen, Premierminister und Präsidenten ebenso wie Vertreter des Papstes sich an diesem Tag im verschneiten Auschwitz versammelten und der Opfern gedachten. Danach haben sechs Länder – Israel, Kanada, Australien, Russland, Ukraine und die USA – bei der UNO die Formalisierung dieses Datums, als offiziellen „Internationalen Tag des Gedenkens der Opfer des Holocaust“, initiiert.

 

Die theatralische Falschheit

Im Jahr des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz werden wieder Politiker aus der ganzen Welt anreisen, um über aktuelle Herausforderungen und Bedrohungen zu beratschlagen, aber ebenso um gegenüber den Rabbinern und den in Rollstühlen sitzenden letzten Überlebenden mit „Das darf sich nicht wiederholen!“ wettzueifern. Und wer weiß, ob es dieses Mal gelingt, dass es schneit und der Schnee all die Schmach und die theatralische Falschheit mit flauschigem Weiß bedecken kann.

Außerdem wurde angekündigt, dass rund 30 Staatsoberhäupter aus der ganzen Welt am Fünften Weltforum zur Erinnerung an den Holocaust unter dem Motto „Remember the Holocaust, fight antisemitism!“ teilnehmen werden, welches am 23. Januar 2020 in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem stattfinden wird. Bisher gibt es keine Gründe anzunehmen, dass dieses Treffen großen Nutzen bringen wird. Obwohl, Wjatscheslaw Mosche Kantor, Präsident und Gründer der Stiftung „World Holocaust Forum“, auf der Pressekonferenz, die zur Information über die Veranstaltung einberufen wurde, verkündete:

„Das Gelübde der ‚ewigen Erinnerung‘ müssen nicht nur Juden, sondern auch die Menschen der ganzen Welt ablegen. Das jüdische Leben in Europa ist erneut in Gefahr. Den Juden drohen alljährlich Verfolgungen und Angriffe auf den Straßen, in den Schulen, Universitäten, im Internet und sogar in den eigenen Häusern. Die Situation hat sich dermaßen erschwert, dass die Mehrheit der Juden in Europa sich nicht länger sicher fühlt. Antisemitismus, das ist Hass, welcher keine Grenzen kennt, und von welchem viele Ideologien Gebrauch machten. Die Juden sind andauernd Anfeindungen seitens der linken, rechten und führenden Parteien ausgesetzt. Dies ist ein weiterer Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte, indem friedliche Anführer sich vereinigen und handeln müssen. Bloße Worte werden nicht helfen, und ich meine, dass im Rahmen des ‚World Holocaust Forum‘ wir einen Handlungsplan für einen aktiven Kampf mit dem Antisemitismus ausarbeiten können.“

Es ist nur schwer vorstellbar, dass dies klappt. Aber es ist nicht nur die Aufgabe der Mächtigen, sondern die von uns allen. Und nicht nur im Zusammenhang mit dem 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz.

 

Übersetzung aus dem Russischen von Sofia Ahatyeva

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