Gegen den Strom
Wie Ukrainisch-Katholische Mönche vom Orden der Studiten unter größtem Risiko und mit enormem Aufwand jüdische Kinder retteten
Hieromönch Daniil Tymtschina mit den Pflegekindern aus dem Klosterstift; in der Mitte – Adam Rotfeld
Was Studiten-Mönche für die Rettung der Juden auf sich nahmen, wer sich am Leid seines Nächsten bereicherte, wie die geheime Rettung funktionierte und wie oft sie aufzufliegen drohten, darüber sprach Michail Gold mit dem Historiker Dr. Juri Skyra.
Michail Gold: Der Name des Großerzbischofs Metropoliten Andrej Scheptyzkyj (1865 – 1944) ist bekannt. Über seinen Bruder hingegen, den Abt Clementij Scheptyzkyj, wissen wir kaum etwas. Wer aber war dieser Mensch, dem der Metropolit das Schicksal vieler Juden überantwortete?
Dr. Skyra: Clementij wurde erst mit 42 Jahren zum Mönch und mit 46 wurde er in den Rang eines Abtes erhoben. Zu dieser Zeit hatte er bereits eine glänzende säkulare Karriere hingelegt: Ein Studium in München und an der Sorbonne, hatte einen Doktortitel der Rechtswissenschaften, erworben an der Jagielloni-Universität in Krakau; arbeitete als Rechtsanwalt, darüber hinaus war er Abgeordneter im österreichischen Parlament und im Galizischen Sejm (Landtag) in Lemberg.
Dies alles bis 1911, als Clementij ins Kloster ging. Ihn prägte die Bereitschaft, für andere zu leben. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Metropolit für solch eine gefährliche Mission diesen – ihm am nächsten stehenden – Menschen ausgewählt hat. Die Brüder Scheptyzkyj fanden große Unterstützung: Nach den sowjetischen Repressionen 1939-1941 verblieben in den Klöstern nur die Stärksten, die Hartgesottenen. Sie wussten, was Gefahr und ein Leben unter ständiger Bedrohung bedeutet und willigten sofort ein, als der Metropolit Scheptyzkyj zur Rettung der Juden aufrief.
Der Hauptort der Zuflucht wurde die St.-Jura-Kathedrale (in Lemberg). Die Kathedrale wurde vielmehr zu einem Knotenpunkt, einem Koordinationszentrum für diejenigen, für die ein Zufluchtsort gesucht wurde. Die Kathedrale trat bereits früher einmal in dieser Rolle auf: In den 1930er Jahren, in der Zeit der „Pazifizierung“ (militär-politische Maßnahmen der polnischen Regierung gegen die ukrainische Bevölkerung, - Anm. d. Übers.) wurden auf die Anweisung des Metropoliten hin ein Teil der Räume zu einem Hospital für die durch die polnische Polizei verletzten und verwundeten Ukrainer umgebaut. Nach der Machtergreifung der Sowjets hielten sich dort zwei Monate lang Verwandte der Scheptyzkyjs auf. Auch während der deutschen Besatzung fanden im Metropoliten-Palast viele Zuflucht; besonders aber die Juden.
Michail Gold: Nachbarn oder Bekannten ließen sich einen Unterschlupf für Juden teuer bezahlen…
Dr. Skyra: Folgende Geschichte illustriert die Selbstlosigkeit der Mönche sehr eindrucksvoll, die Geschichte von Mark Weintraub: Mehrere Wochen lang versteckte er sich in den Kellerräumen der Kathedrale, während seine Familie im Getto blieb. Er konnte schließlich nicht länger fern von seiner Familie sein und beschloss, zurückzugehen. Die Mönche hatten Bedenken: Was, wenn Weintraub in die Hände der Deutschen gelangt und unter Folter sein Versteck preisgibt? Dennoch sagte Clementij schließlich: „Du kannst hier bleiben so lange wie nötig; es steht dir aber frei, wieder zu gehen.“ Ein junger Mönch brachte Mark aus dem Metropoliten-Palast und führte ihn ins Getto. Und von dieser Zeit an beginnt die Leidensgeschichte der Familie Weintraub, die zeigt, wie gefährlich es ist, sein Leben in die Hände der Menschen zu legen, für die die Rettung eines fremden Lebens kein Ziel an sich darstellt.
Marks Mutter fand eine arme Frau – die Putzfrau in einem Sportklub, Frau Gordinski –, die bereit war, der Familie Weintraub Unterschlupf zu geben, allerdings für 25.000 Zloty im Monat, was einem Viertel Kilogramm Gold entsprach! Die ersten drei Monate verliefen ruhig, mit der Zeit konnte Frau Gordinski dem Reiz des Geldes nicht widerstehen; sie begann, Tanzabende zuhause zu veranstalten, bestellte zum Abendessen ein halbes Kalb – während in der Stadt Hungersnot herrschte. Es gingen Gerüchte um, die Dame verstecke Juden. Drei Mal wurden die Weintraubs verhaftet, drei Mal konnten sie sich freikaufen.
Dann fing man an, einen regelrechten Handel mit der Familie zu betreiben: Zunächst nahmen zwei Lehrerinnen die Familie für einen Monat zu sich – natürlich für Geld. Danach hat man sie an Frau Gordinski „zurückgegeben“ und sie brachte die Juden auf dem Dachboden des Sportclub-Gebäudes, wo sich auch die SS-Zentrale befand, unter… Einige Nachbarn vermuteten dort das Versteck, hatten aber Angst, sich dem Haus zu nähern; das rettete damals der Familie das Leben. Nach 19 Monaten ging ihnen das Geld aus; dann kam Gordinski mit einem Rechtsanwalt, und in seiner Anwesenheit überschrieben die Weintraubs zwei ihre Häuser in Lemberg an Gordinski. Ja, sie haben überlebt, aber es handelte sich um eine der reichsten Familien der Stadt, deren finanzielle Möglichkeiten nahezu unbegrenzt waren.
Michail Gold: Wer außer Clementij Schepetyzkyj spielte eine wichtige Rolle bei der Rettung der Juden?
Dr. Skyra: Das waren die Sekretäre des Metropoliten, Iwan Kotiw und Wladimir Grizaj. Besonders Pater Wladimir genoss das Vertrauen des Metropoliten. Pater Wladimir sollte sich persönlich um den Rabbiner David Kahane (der spätere Oberrabbiner in Israel) kümmern. Kahane erinnerte sich, dass „Grizaj sehr warmherzig zu den Juden war und aufrichtiges Mitgefühl mit ihnen hatte.“ Iwan Kotiw arbeitete mit den Geistlichen im Erzbistum Lemberg, was die Möglichkeit eröffnete, jüdische Kinder in Klöstern und bei zuverlässigen Menschen unterzubringen. Beide – Kotiw und Grizaj – unterhielten Kontakte mit den Bewohnern des Lemberger Gettos und waren stets auf der Suche nach Alternativen zur Rettung jüdischer Familien. 1946, nachdem die Ukrainisch-Katholische Kirche zwangsläufig in die Russisch-Orthodoxe Kirche eingegliedert wurde, wurden Iwan Kotiw und Wladimir Grizaj vom „Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR“ (NKWD) verhaftet und zu längeren Haftstrafen verurteilt.
Die strenge Geheimhaltung führte manches Mal sogar zu Kuriositäten. In der St.-Jura-Kathedrale fand die Familie von Apotheker Josef Podoschin Unterschlupf, der mit Studiten-Mönchen seit Jahren, bereits vor dem Krieg, befreundet war. Um die Familie zu retten, beschloss man, sie zu teilen: Um den kleinen Sohn des Apothekers, den siebenjährigen Ludwik, kümmerte sich ein junger Mönch, Pater Onufri Iwanjuk, der ihn in sein Heimatdorf zu den Verwandten brachte. Sie nahmen den Kleinen mit großer Freude auf, da sie überzeugt waren, Ludwik sei Onufris unehelicher Sohn. Diese Gerüchte erreichten den Dorfpfarrer, der damit zum Bischof ging; daraufhin wurde Onufri Iwanjuk in einem Disziplinarverfahren verurteilt. Er hat nicht mal versucht, sich herauszureden: Für ihn zählte nur die Sicherheit von Ludwik.
Michail Gold: Wo noch haben Studiten Juden versteckt?
Dr. Skyra: Im Kloster des Heiligen Hieromärtyrer Iosaphat und in St.-Iwan-Lawra (der höchste Rang, der dem Kloster als einer Institution verliehen werden kann, - Anm. d. Übers.) Dort wurden vorwiegend Kinder versteckt, wie beispielsweise der Sohn eines Reform-Rabbiners, der 16-jährige Kurt Levin. Meistens wurden jüdische Kinder von der Außenwelt völlig isoliert, so minimierte man das Risiko; im Falle Kurt Levins erlaubte sein Äußeres, ihn zu „legalisieren“, dennoch musste er die Studiten-Klöster wechseln. Eines Tages befahl der Hieromönch Raphail, Kurt des Klosters zu verweisen, da er in ihm einen Juden vermutete. Man schickte den Jungen in ein anderes Studiten-Kloster; erstaunlich, wenn man bedenkt, dass derselbe Raphail zwei Kinder aus dem Lemberger Getto rettete, indem er ihnen Taufpapiere ausgehändigte.
Im Iosaphat-Kloster kannte man bereits Juden: vor dem Krieg kauften Mönche des Öfteren in den jüdischen Läden ein. Und natürlich wussten sie jetzt genau, wie gefährlich die Anwesenheit dieser „Gäste“ für sie war. 1943 (zu der Zeit versteckten sich im Kloster auch Kurt Levin und David Kahane) rief der Abt, Hieromönch Nikanor, alle Studiten zu sich und bat darum, sollten die Juden im Kloster entdeckt werden, dass einer der Mönche die Verantwortung auf sich nimmt, sodass alle anderen hätten am Leben bleiben können. Alle Studiten waren bereit, sich zu opfern.
Michail Gold: Wer kam für den Lebensunterhalt auf?
Dr. Skyra: Mit diesem Problem befasste sich Pater Hermann. Er musste die deutschen Lebensmittelmarken einlösen, aber das genügte nicht. Das Geld kam von Metropolit Andrej Schepetyzkyj und dem ehemaligen Professor der Theologischen Akademie zu Lemberg, Pater Stepan Rudj. Nicht selten bezahlte Pater Hermann die Lebensmittel auch aus eigener Tasche.
Im Kloster der Heiligen Dreifaltigkeit, im Dorf Podmichailowzy, wurden jüdische Kinder untergebracht. Einmal schrieb die Äbtissin Mutter Monika an Schepetyzkyj, die Kleinen hätten keine Milch mehr; der Metropolit gab die Anweisung, seine beste Kuh dorthin zu bringen.
Michail Gold: Erzählen Sie bitte von der Rettung vieler Juden in den Kellerräumen der Schuhfabrik „Solid“, die den Studiten gehörten.
Dr. Skyra: Diese Rettung erinnert an die Geschichte der Fabrik Oskar Schindlers in Krakau. Die tragende Rolle spielte der Hieromönch Ioann Peters, Bürger des Dritten Reiches, geboren in Deutschland. Seinerzeit wurde er ein Anhänger der Ukrainisch-Katholischen Kirche. Im Sommer 1941 kam er nach Lemberg und lebte bis zu seiner Verhaftung durch die Gestapo ein Doppelleben: Für die deutsche Macht war er ein Unternehmer, in Wirklichkeit blieb er aber ein Mönch des Studitenordens. Als Reichsbürger konnte er eine Genehmigung bekommen, die Schuhfabrik „Solid“ unter seine Aufsicht zu bringen. Dort arbeiteten sowohl Mönche, als auch Säkulare. Die Juden aus dem Ende 1941 errichteten Gettos bildeten eine besondere Gruppe. Sie waren hochqualifizierte Meister ihres Fachs: Wenn ein durchschnittlicher Schuhmacher aus einem Stück Leder sieben Paar Stiefel kreieren konnte, waren die Tüftler aus dem Getto in der Lage, acht oder gar neun Paar zu bewerkstelligen. Die auf diese Weise entstandenen Lederreste brachten Mönche unter ihren Kutten ins Kloster. Kurt Levin erzählt: „Das Leder half, eine Menge Probleme zu regeln; für die Reste konnte man Lebensmittel, Medikamente, Brennstoff bekommen.“ Für die Juden bedeutete diese Arbeit in einer deutschen Fabrik schlicht und einfach das Leben.
Michail Gold: Hatten die Mönche die Hilfe der Bevölkerung?
Dr. Skyra: Ja, es gab Hilfe verschiedener Art. Zum Beispiel, bewahrten die Mönche der St.-Iwan-Lawra Kleidung bei der Familie Kanitsch auf, deren Haus unmittelbar neben dem Kloster stand: Für den Fall, dass man sich unbemerkt umzuziehen und das Kloster zu verlassen musste. Von Prof. Alexandr Kuzera wissen wir, dass seine Mutter Julia zusammen mit einigen anderen Frauen für die Essenszubereitung für die Juden zuständig war. Interessant ist, dass die „kulinarische Hilfe“ in dieser Familie Tradition hatte: Bereits Anfangs des 20. Jahrhunderts rettete Julias Mutter Juden während der Pogrome in Kischinew, indem sie Kulitschs – Osterbrote – buk, die Juden ins Fenster stellten; solche Häuser stürmten die Horden nicht.
Michail Gold: Erstaunlich, dass selbst Ioann Peters‘ Verhaftung im Herbst 1942 nicht zur Zerstörung dieses Netzwerkes führte!
Dr. Skyra: Er wurde für die Herstellung der antifaschistischen Flugblätter in seiner Klosterdruckerei „Studion“ verhaftet. Die Schuhfabrik, die offiziell ebenfalls in seinem Besitz war, wurde geschlossen und versiegelt. Zum Glück ist es gelungen, mittels Bestechung, die Fabrik für 30.000 Mark in das Eigentum der Kirche zurückzuführen. Dies rettete das Leben der 16 sich dort versteckt haltenden Juden, aber auch unzählige Studiten, die für deren Sicherheit sorgten. Alle Juden, welche im „Solid“-Gebäude Zuflucht fanden, überlebten die deutsche Besatzung.
Michail Gold: War es einfacher, Juden auf dem Land zu verstecken?
Dr. Skyra: Nicht unbedingt. Das zeigt die Tätigkeit der Studiten im Dorf Unev, wo die Lawra des Heiligen Entschlafens der Gottesgebärerin steht. Einerseits herrschte im Dorf eine düstere Atmosphäre; es gab genug Menschen, die bereit waren, die Rettung der Juden durch Studiten-Mönche zu denunzieren. Auch die Machtergreifung durch die Sowjets 1939 trug zur Veränderung der Moral bei: Die Zwangssäkularisierung – das Konfiszieren kirchlicher Güter – nahm die Form einer offenen, praktisch uneingeschränkten Ausplünderung an; die Dorfnachbarn denunzierten einander wegen eines Stückes Land oder Habseligkeiten; so ging das auch unter der deutschen Besatzung weiter: Jetzt hoffte man auf ein „Juden-Kopfgeld“. Andererseits kamen nach der Besatzung Polens ganze Kolonnen von jüdischen Flüchtlingen, viele von denen wurden in den konfiszierten Räumen der Lawra in Unev untergebracht. Und das war keine Ausnahme: Auch in Lemberg brachte man die Juden im Priesterseminar unter, und nachdem die Deutschen die Stadt einnahmen, versteckte man sie, nach Anweisung des Rektors, Iosip Slipoj, im Keller des Gebäudes.
So kam es, dass die Mönche Schulter an Schulter mit den jüdischen Familien, die ins Unev-Kloster kamen, wohnten und arbeiteten. Aus der Vorkriegszeit, in der bereits die Sowjets herrschten, kennen wir eine Geschichte, die half, die Beziehungen zwischen den „Nachbarn wider Willen“ etwas aufzuwärmen. Ein Mönch namens Bruder Lawrentij Kubik erzählte: Eines Tages kamen aus Lemberg sowjetische Beamte, nummerierten alle Bücher in Lawra und versigelten den Raum, in den sie gebracht wurden. Nachts rissen die Mönche das Siegel ab, holten die für sie teuersten und wichtigsten Bücher und versteckten diese. Als nach einer kurzen Zeit „Gäste“ vom NKWD ins Kloster kamen, rettete ein Jude die Mönche vor einer sicheren Verhaftung, indem er den Beamten eine Legende auftischte, dies sei ein Sturm gewesen, der das Fenster zerbrochen und die Versiegelung von der Tür der improvisierten Bibliothek niedergerissen habe… Bruder Lawrenti erinnerte sich ebenfalls daran, dass ausgerechnet Juden seinerzeit darauf bestanden, dass das Kloster mit Mehl beliefert wird. Auch der erste Mensch, der nach der sowjetischen Machtergreifung die Mönche aufsuchte, war ein örtlicher Jude: Er brachte Milch zu den Toren Lawras, und man sah, dass dies nicht verboten war.
Michail Gold: Ein geradezu idyllisches Bild!
Dr. Skyra: Mag sein; dennoch ersparte das den Juden in Unev im Juli 1941 nicht die Ausbrüche antijüdischer Gewalt. Mehrere Bauern ermordeten den jüdischen Müller, seine ganze Familie und plünderten deren Haus. Der bereits erwähnte Hieromönch Vater Hermann kam sofort zu einer Dorfversammlung und rief dazu auf, nie wieder gegen Juden die Hand zu erheben.
Bald darauf begannen die Deutschen mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung vom Land ins Getto. Nur Wenigen gelang es, in die Wälder zu fliehen. Studiten-Mönche brachten ihnen das Essen, obwohl in Unev selbst Hungersnot herrschte. Später diente die Lawra in Unev als Versteck für die Juden; von dort aus konnten Mönche sie nach Lemberg, ins Kloster, bringen.
Eine ähnliche Situation gab es auch im benachbarten Dorf Jaktorovo: Es gab solche, die Juden aufspürten, denunzierten oder töteten, um sie zu berauben. Aber es gab auch Menschen, die ihr eigenes Leben riskierten, um Juden zu retten, so in der Familie von Anna Baran, die monatelang ein jüdisches Mädchen versteckte, bis es von einem Verwandten abgeholt wurde. Die Deutschen errichteten auf der Basis von Ländereien der Ukrainisch-Katholischen Kirche vier Forstwirtschaften; in allen vier versteckte man Juden. Dafür brauchte man die Hilfe von allen Förstern: Einer transportierte das Essen, ein anderer warnte vor Gefahr usw.
Im Wald fanden 19 Juden aus dem Dorf Lagodovo Zuflucht. Daria Sokolik erzählte, dass ihr Vater die jüdische Familie Pisem bei sich in Peremyschljany versteckte; als die Nachbarn etwas zu bemerken schienen, brachte er sie nach Tschemerenzy, wo noch andere Juden in der Obhut des Försters lebten. Der Förster Wladimir Stefaruk beherbergte in seinem Haus Klara Kaz, die Tochter von Lejba Kaz, eines Wirts aus Jaktorovo. Einige Gruppen von Juden lebten in Erdhütten, von deren Existenz nur die örtlichen Förster und Hirten etwas wussten; diese haben niemanden verraten.
Der Lehrer aus dem Dorf Unev gab fünf Juden Unterschlupf - versteckte sie auf dem Dachboden des kleinen Nebengebäudes an der Schule. Im gleichen Haus wohnte Familie Djukov – und ein deutscher Offizier. Zwischen ihm und dem Lehrer entwickelte sich fast eine Art Freundschaft; der Deutsche ahnte offenbar, dass es im Hause jüdische „Nachbarn“ gab, schwieg aber. So wurden der zukünftige Nobelpreisträger in Chemie, Roald Hoffmann, und seine Familie gerettet.
Nein, von einer Idylle kann man hier nicht sprechen: Nach dem Krieg kehrten einige Überlebende nach Unev zurück und wurden dann von der örtlichen Bevölkerung ermordet. In einem Fall geschah dies, weil man Juden ausrauben wollte; dann wurden die Töchter des wohlhabenden Juden Sterzers von einem Mitglied der Ukrainischen aufständischen Armee getötet, weil sie einem sowjetischen Offizier für die Befreiung gedankt haben.
Michail Gold: In der Regel sahen Studiten davon ab, Juden zur Konversion zu bewegen, allerdings ist ein Fall bekannt, wo eine gerettete junge Frau sogar zur Nonne wurde.
Dr. Skyra: Es handelt sich um Faine Ljacher aus dem Dorf Peremyschljany. In Kindsjahren war sie mit den Kindern von Pater Omelhan Kowtsch befreundet, der später im KZ Majdanek zu Tode gefoltert wurde, weil er den Juden zur Taufe verhalf; als Gymnasiastin verliebte sie sich in den politischen Aktivisten der Organisation Ukrainischer Nationalisten, Wladimir Zaplatinskij, (gegründet 1929 in Wien, strebte die Organisation die Unabhängigkeit der Ukraine an. – Anm. d. Übers.). Zu Beginn der deutschen Besatzung plante Zaplatinskij die junge Frau mit falschen Papieren nach Wien zu schicken, wo sie hätte arbeiten können, Faina war jedoch nicht bereit, ihre Familie zu verlassen. Im April 1943 erfuhr Zaplatinskij, in seiner Funktion als stellvertretender Direktor der Arbeitsbörse, von der bevorstehenden Liquidierung des Gettos. Er musste handeln: Ein Einwohner Unevs, Pawel Tschaban, erhielt von ihm die Befreiung von der Deportation nach Deutschland; im Gegenzug sollte dieser Faina bei sich aufnehmen. Pawel Tschaban hielt sein Wort, aber Faina wollte zurück ins Getto, zu ihren Eltern, denn sie wusste, sie würden dort sterben.
Um dies zu verhindern, brachte Pawel auch ihre Eltern in das Versteck. Nach einem halben Jahr fingen die Nachbarn an, zu vermuten, dass die Familie Tschaban wohl Juden verstecke, daraufhin brachte man Faina ins Frauenkloster nach Unev. 1944, wohl überlegt, beschloss sie, eine Nonne zu werden. 1946 kam Climentij Schepetyzkyj ins Maria-Schutz-und-Fürbitte-Kloster und fragte Faina – inzwischen Schwester Anna –, ob sie für ihr jüdisches Volk beten würde. „Nein“, meinte sie. „Müssen Sie aber, es ist ihre Blutpflicht“, entgegnete Archimandrit Clementij.
Faina Ljachers Geschichte blieb der einzige Fall, wo ein jüdisches Mädchen während des Holocausts zu einer griechisch-katholischen Nonne wurde. Nach der Zwangseingliederung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche in die Russisch-Orthodoxe Kirche blieb Schwester Anna mit ihrer Kirche faktisch im Untergrund; später erhielt sie die Ernennung zu Äbtissin. Sie starb 2005.
Michail Gold: Ein besonderes Kapitel ist die Rettung jüdischer Kinder, sowohl in den Gemächern des Metropoliten in Lemberg, als auch in abgelegenen Klöstern…
Dr. Skyra: Der Metropolit Andrej Schepetyzkyj gab persönlich diese Anweisung; nur die Wenigsten wurden eingeweiht und kannten die Details dieses Einsatzes. Ende August 1942 brachte Iwan Gornyj, der Fahrer des Metropoliten, die ersten Kinder aus Lemberg ins Kloster nach Unev.
Wir kennen hochinteressante Aussagen von Adam Rotfeld, Leon Chameides und Oded Amarant – sie alle wurden bis zum Ende der Besatzung im Kloster versteckt.
Leon war der Sohn eines Rabbiners in Kattowitz. Zuerst versteckte man ihn in der St.-Jura-Kathedrale; dort befand sich auch Oded Amarant – geboren in Tel Aviv, kam er mit seiner Mutter die Verwandten besuchen, leider zum völlig falschen Zeitpunkt, und blieb in Lemberg, als der Krieg ausbrach. Oded sprach, dank seines Großvaters, Ukrainisch; er erhielt einen neuen Namen – Dorko Borowezkij – und kam in die Obhut der Mönche. Einige Monate verbrachte er im Hause des Priesters, wo er Gebete und Traditionen lernte, bis man ihn nicht mehr von ukrainischen Kindern unterscheiden konnte; sodann kam er ins Klosterstift.
Wesentlich schwieriger war die Lage von Leon Chameides: Er sprach kein Ukrainisch und musste auf Fragen von Fremden antworten, dass bei ihm zuhause Polnisch gesprochen werde. Überhaupt waren fehlende Sprachkenntnisse das Hauptproblem jüdischer Kinder, die sich plötzlich unter ukrainischen Gleichaltrigen wiederfanden. Kurt Levin tischte seinem Stift-Nachbarn mal die Geschichte auf, er stamme aus Lemkenland (das Territorium an der Grenze von Ukraine, Polen und Slowakei; es handelt sich um eine ostslawische Bevölkerungsgruppe – Lemken, anderer Name: Rusynen, deren Teile sich zum ukrainischen Volk zählten. – Anm. d. Übers.), mal dass er wegen seiner Kontakte zur „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ vor den Deutschen fliehen musste… Dennoch ist es nicht so einfach, Kinder hinters Licht zu führen; sie vermuteten in ihm einen Juden, und nach wenigen Tagen brachte man Kurt woanders hin.
Der Bruder von Leon Chameides, Herbert, wurde im Klosterstift ebenfalls sehr schnell als Jude identifiziert, da er kaum Ukrainisch sprach und sich nicht zu bekreuzigen wusste. Er kam in die Zelle vom Mönch namens Bruder Silvester, der ihm die Sprache, Gebete und Katechismus beibrachte. In der Zelle eines anderen Mönches versteckte man einen siebenjährigen Jungen, der partout nicht wissen wollte, dass er jetzt nicht mehr Mojsche, sondern Michajlo heißen soll.
Eines Tages stellte ein Studit-Arzt fest, dass manche Kinder aus dem Klosterstift beschnitten waren. Am gleichen Abend brachte man die jüdischen Kinder für eine Nacht in das Basilianische Kloster und gleich darauf – um Spuren zu verwischen – ins Kloster des Heiligen Hieromärtyrer Iosaphat in Lemberg; danach wurden die Kinder auf verschiedene Verstecke verteilt. Jede solche Verlegung barg große Gefahren in sich. Einmal, unterwegs von einem Versteck zum anderen, begleitete Hieromönch Mark den kleinen Leon Chameides. In der Straßenbahn setzte sich ein SS-Offizier ihnen gegenüber und begann freundlich mit ihnen zu reden. Mark betete innerlich, dass Leon, der, im Gegensatz zu den ukrainischen Kindern, gut Deutsch sprach, bloß nicht antwortet.
Michail Gold: Ist es wahr, dass man jüdische Jungen aus Sicherheitsgründen manchmal als Mädchen ankleidete?
Dr. Skyra: Es war nicht selten nötig für den Transport der Kinder. Hieromönch Juri musste seine Schützlinge besonders oft als Mädchen verkleiden lassen. Er selbst sah unglücklicherweise sehr jüdisch aus: Es kam vor, dass er von Gestapo-Leuten aufgehalten und überprüft wurde, ob er beschnitten sei. Als Juri einen als Mädchen angezogenen Jungen im Klosterstift im Dorf Brjuchovitschy ablieferte, wollten die Nonnen „das Mädchen“ baden – und entdeckten das, was sie entdeckten mussten. Mit dieser Nachricht kamen sie zum Hieromönch Juri und hörten: „Die Schwester sollen Bescheidenheit üben, Blicke senken und sie woanders hinrichten.“ Die Nonnen verstanden dies alles und nahmen das auch so hin.
Wie dem auch sei, das ganze Konspirationssystem funktionierte tadellos. Selbstverständlich wurde auch den Kindern selbst die höchste Konzentration abverlangt: Sie durften beispielsweise nicht auf die Toilette, wenn andere Kinder dabei waren; zum wöchentlichen Baden gingen sie in Paaren oder mit einem eingeweihten Mönch. Ihnen wurde strikt verboten, von den eigenen Familien und Traditionen zu sprechen, sie mussten sich unbedingt ihre neuen Namen gut merken. So wurde aus Leo Chameides ein Lewko Chaminskij, aus Oded Amarant – Dorko Borowezkij und aus Adam Rotfeld – Daniil Tscherwinskij. Unter sich nannten Studiten die jüdischen Kinder „unsere Väter“.
Nachdem die Rote Armee Lemberg einnahm, übergab Metropolit Andrej Scheptyzkyj die jüdischen Kinder an das Jüdische Komitee, das ab sofort vom Metropolit selbst geretteten Rabbiner David Kahane geleitet wurde. Nach Einschätzung des Mönchs Bruder Lawrentij Kusik wurden dank der Studiten ca. 200 Kinder gerettet. Und eins von ihnen kommt nach vielen Jahren in einer ganz anderen Eigenschaft zurück… Am 20. August 2005 hielt in Unev an der Lawra des Heiligen Entschlafens der Gottesgebärerin ein Ehrengeleit an; in einem der Autos befand sich der Leiter des polnischen Außenministeriums, Adam Daniel Rotfeld. Im Herbst 1942 brachte ihn ein Mönch des Studitenordens in einem Pferdekarren hierher; 63 Jahre später weihte der Minister eine Gedenktafel ein zu Ehren der Rettung jüdischer Kinder durch die Gebrüder Scheptyzkyj.
In den Nachkriegsjahren brachte die Geschichte die Retter nicht selten mit den Geretteten zusammen: Juden traten als Zeugen zugunsten der Mönche bei den Prozessen auf, denn diese wurden von der sowjetischen Macht verfolgt; sie schickten Geld, von dem diejenigen, die aus der Verbannung zurückkehrten, leben konnten.
Der letzte Studit, der persönlich an der Rettung der Juden teilnahm – der nach strengem Gelübde lebende Mönch Pawel Syrojed –, starb 2004.
Der irdische Weg von Clementij Scheptyzkyj endete viel früher: Im Juni 1947 wurde er während des abendlichen Gebets von Beamten der sowjetischen Staatssicherheitsorgane verhaftet und starb am 1. Mai 1951 im Wladimir-Zentralgefängnis. Seine Grabstätte konnte nicht gefunden werden. Im Jahr 1996 wurde dem Archimandrit Clementij Scheptizkij (von der Gedenkstätte Yad Vashem, Israel, - Anm. d. Übers.) der Titel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen. Sein Bruder, der Metropolit Andrej, wartet bis heute darauf.
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