Vor hundert Jahren wurde Lise Meitner Professorin
Die jüdische Mit-Entdeckerin der Kernspaltung war eine der ersten Professorinnen Deutschlands
Lise Meitner, im Jahre 1950© AFP
Hundert Jahre ist es her, dass Lise Meitner als eine der ersten Frauen in Deutschland einen Professorentitel erhielt: Nach ihrem Studium an der Universität Wien und Promotion in Physik 1906 ging sie 1907 nach Berlin, da sie Vorlesungen bei Max Planck hören wollte. Hier traf sie Otto Hahn, der wie sie als „unbezahlter Gast“ in Plancks Labor arbeitete. Allerdings musste sie das Gebäude in der Hessischen Straße in Berlin-Mitte anfangs immer noch durch den Hintereingang betreten, da Frauen das Studium in Preußen erst 1908 erlaubt wurde.
Assistentin von Max Planck
1912 begann sie als inoffizielle Assistentin von Max Planck in Berlin ihre wissenschaftliche Karriere und seit 1913 leitete Lise Meitner zusammen mit Otto Hahn die Abteilung Radioaktivitätsforschung am Kaiser-Wilhelm-Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Dahlem – eine Forschungseinrichtung, deren spätere unrühmliche Beteiligung an Naziverbrechen zu deren Auflösung und am 26. Februar 1948 in Göttingen zur Neugründung als Max-Planck-Gesellschaft führte, deren erster Präsident Otto Hahn wurde. 1918 erhielt Lise Meitner erstmals eine angemessene Anstellung, sie wurde Leiterin der physikalisch-radioaktiven Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie. Am 31. Juli 1919 erhielt sie für diese wissenschaftliche Arbeit auch die gebührende akademische Anerkennung, den Professorentitel. Dabei sollten noch drei weitere Jahre vergehen, bis sie als erste Frau in Deutschland ihre Habilitation in Physik einreichen und auch die Lehrbefugnis erhalten konnte, denn erst 1922 wurden Frauen in der Weimarer Republik zu einer Hochschullaufbahn zugelassen.
Entlassung der jüdischen Wissenschaftler
Dabei begehen wir 2019 noch ein weiteres, leiseres Jubiläum: 1939, vor 80 Jahren, lieferte Lise Meitner, zusammen mit ihrem Neffen Otto Robert Fritsch, die erste theoretische Deutung der Kernspaltung. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits ins schwedische Exil emigriert: ohne gültigen Reisepass, nur mit leichtem Handgepäck war ihr am 13. Juli 1938 die Flucht aus Deutschland gelungen. Dabei war ihr bereits 1933 mit der Machtübernahme der NSDAP die Lehrerlaubnis entzogen worden, denn Lise Meitner war am 7. November 1878 als Tochter des jüdischen Rechtsanwalts Philipp Meitner und seiner ebenfalls jüdischen Frau Hedwig geboren worden. Auch die protestantische Taufe, die sie wohl in weiser Vorausahnung erhielt, konnte sie vor der Verfolgung und Entrechtung durch die Nationalsozialisten nicht schützen. Da sie österreichische Staatsbürgerin war und ihr wissenschaftliches Umfeld liberal, konnte Lise Meitner allerdings zunächst unbehelligt weiterarbeiten, obwohl die Bemühungen Plancks, nach dem „Gesetz zur Wiedereinführungen des Berufsbeamtentums“ im April 1933 in einer Audienz bei Hitler die Entlassungen der Mitarbeiter mit jüdischem Familienhintergrund mit einer Ausnahmegenehmigung zu verhindern, gescheitert waren: 126 Mitarbeiter, davon 104 Wissenschaftler mussten entlassen werden, vier von ihnen wurden später in Konzentrationslagern ermordet.
Lise Meitner und Otto Hahn konnten ihre wissenschaftliche Zusammenarbeit also trotz der widrigen Umstände erst einmal fortsetzen. Das änderte sich mit dem Anschluss Österreichs im März 1938 schlagartig: Lise Meitners österreichischer Pass wurde ungültig und sie war nun als „reichsdeutsche Jüdin“ in der gleichen Situation wie ihre bereits 1933 entlassenen Kollegen. Eine legale Ausreise war nicht mehr möglich, da sie keine Papiere dafür erhielt. Otto Hahn machte sich daher große Sorge um ihre Sicherheit. Freunde, darunter der holländische Chemiker Dirk Coster, halfen ihr schließlich bei der abenteuerlichen Flucht aus Deutschland über Holland und Dänemark nach Schweden, wo sie ihre Arbeit bis 1946 am Nobel-Institut fortsetzte. Otto Hahn setzte währenddessen die gemeinsam begonnenen Experimente in Berlin mit dem Chemiker Fritz Straßmann fort. Nur wenige Monate nach Meitners Flucht, am 17. Dezember 1938, gelang Hahn dann die erste Kernspaltung – er begriff allerdings nicht, was er dort initiiert und beobachtet hatte. Da er sich den Ausgang des Experiments nicht erklären konnte, beschrieb er Lise Meitner in einem Brief seine Beobachtungen: „Wäre es möglich, dass das Uran 239 zerplatzt in ein Ba und ein Ma? Es würde mich natürlich sehr interessieren, Dein Urteil zu hören. Eventuell könntest du etwas ausrechnen und publizieren.“ Und prompt gelang es ihr, in dem mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch in „Nature 143“ im Februar 1939 publizierten Aufsatz „Disintegration of Uranium by Neutrons: a New Type of Nuclear Reaction“ die theoretische Bedeutung der Entdeckung zu liefern. Frisch prägte dabei den Begriff „nuclear fission“, auf Deutsch „Kernspaltung“. Dabei griff Meitner zur Berechnung der durch den Zerfall entstehenden Energie auf die Einsteinsche Formel der Relativitätstheorie zurück.
Lise Meitner und Otto Hahn im Labor (1913)
Lise Meitner widersetzte sich als überzeugte Pazifistin – eine Gemeinsamkeit, die sie mit Albert Einstein und Otto Hahn teilte –, dem Wunsch der Amerikaner, einen Forschungsauftrag zum Bau einer Atombombe anzunehmen. Sie blieb in Schweden. Otto Hahn wurde 1945 der Nobelpreis für Chemie für das Jahr 1944 verliehen. Auch wenn ihr diese Ehrung – zu der sie wiederholt nominiert war – versagt blieb, erhielt Lise Meitner in der Nachkriegszeit eine Reihe anderer Ehrungen, darunter Ehrendoktorwürden. Sie blieb in Schweden, leitete ab 1947 die kernphysikalische Abteilung des Physikalischen Instituts der Königlich-technischen Hochschule Stockholm und hatte darüber hinaus Gastprofessuren in den USA inne. Nach Deutschland kam sie trotzdem wieder, so gratulierte sie Otto Hahn in Göttingen persönlich zum 80. Geburtstag am 8. März 1959. 1960 zog sie zu ihrem Neffen nach Cambridge.
Wie die Röntgenstrahlung eignete sich auch die Kernspaltung durchaus zur friedlichen Nutzung. So gab es in den 50er Jahren eine Kampagne „Atoms for Peace“, die mit hohen Nutzungserwartungen verbunden war. Max von Laue, der gegenüber den Nationalsozialisten eine ablehnende Haltung eingenommen und seine jüdischen Kollegen verteidigt hatte und deshalb wiederholt mit dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Konflikt geraten war, wurde als Vorsitzender der Berliner Atomkommission zum tatkräftigen Förderer des Berliner „Hahn-Meitner-Institut für Kernforschung“, das am 14. März 1959 seiner Bestimmung, der friedlichen Forschung zu dienen, in Anwesenheit der Namensgeber Otto Hahn und Lise Meitner, übergeben wurde.
Lise Meitner blieb Zeit ihres Lebens eine Wissenschaftlerin im besten Sinne. Vorurteile und einseitige Interpretationen lehnte sie immer strikt ab: „Das ist in meinen Augen gerade der große moralische Wert der naturwissenschaftlichen Ausbildung, daß wir lernen müssen, Ehrfurcht vor der Wahrheit zu haben, gleichgültig, ob sie mit unseren Wünschen oder vorgefaßten Meinungen übereinstimmt oder nicht“, schrieb sie in ihren Erinnerungen an Otto Hahn. Ihre langjährige Wirkungsstätte in Berlin-Dahlem beherbergt heute das Institut für Biochemie der Freien Universität Berlin.
Die Entdeckung der Kernspaltung hat die Welt verändert, und die Geschichte ihrer Entdeckung war, wie so oft in der Wissenschaft, eine faszinierende Geschichte des Zusammenspiels von Praxis, Theorie, und Diskussionen, die viele mühselige Etappen und langjährige engagierte Arbeit erforderte. Lise Meitner und Otto Hahn starben beide 1968, er am 28. Juli in Göttingen, sie am 27. Oktober in Cambridge. Damit endete eine Epoche der naturwissenschaftlichen Forschung, die entscheidend zum Verständnis der Radioaktivität beigetragen hat.
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