„Die Geschichte des Prager Judentums ähnelt einer Sinuskurve“.

Ein Interview mit dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Prag, František Bányai

War einer der bekanntesten Juden Prags: Franz Kafka.© Michal Cizek, AFP

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Prag gehört zu den Städten mit der ältesten Tradition des Judentums in Europa. Könnten Sie uns die Geschichte ihrer Juden näher beschreiben?

František Bányai: Es handelt sich eher um eine Sinuskurve – mal stand es um die jüdische Gemeinde gut, mal schlecht. Die erste jüdische Ansiedlung in der Nähe von Vyšehrad, das heute ein Teil Prags ist, registrieren wir schon im Jahr 1096. Gleich danach kam es zu einem Pogrom wegen der Kreuzzüge aus Deutschland. Dann haben wir hier die Altneue Synagoge, die im gotischen Stil gebaut wurde und an die im Laufe des Zweiten Weltkriegs zerstörte Wormser Synagoge erinnert (nach dem Krieg wurde diese Synagoge rekonstruiert), unsere blieb aber während des Zweiten Krieges erhalten. Die Altneue Synagoge ist zum großen Teil ein ursprünglicher Bau und damit ein Unikat. Diese Synagoge erinnert auch an das zweite Pogrom 1389, bei dem etwa 3.000 Menschen starben. Die Blüte der jüdischen Gemeinde registrieren wir etwa um das Jahr 1600. In dieser Zeit lebten hier der berühmte Rabbi Löw und der Finanzmeister Maisel, nach dem die Maisel-Synagoge benannt wurde, außerdem wurde in dieser Zeit auch ein jüdisches Krankenhaus gebaut. Zur Zeit von Maria Theresia wurden die Juden aus Prag vertrieben und die jüdische Gemeinde finanziell ausgeplündert. Die schönste Zeit für uns war die Zeit Österreich-Ungarns, während der in ganz Tschechien Synagogen gebaut wurden. Noch inspirierender als diese Zeit war die Zeit der ersten Tschechoslowakischen Republik 1918-1939, die Zeit der Schriftsteller Franz Werfel, Franz Kafka, Max Brod und des auf Deutsch schreibenden Journalisten Egon Erwin Kisch. Zu dieser Zeit dachte man, dass das 20. Jahrhundert für Juden nur gut und freudig sein würde. Das zeigte sich auch in der Musik der jüdischen Komponisten Paul (Pavel) Haas und Erwin (Ervín) Schullhoff, der 1919-1923 in Deutschland lebte.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Diese beiden Komponisten kamen dann aber während des Protektorats Böhmen und Mähren ums Leben…

František Bányai: Ja, sie landeten leider ähnlich wie die meisten jüdischen Genies aus Tschechien in Konzentrationslagern oder in Theresienstadt. Die traurige Geschichte der Juden im Protektorat Böhmen und Mähren 1939-1945 ist bekannt. Danach kam die Ära des Sozialismus, in der man das geistliche Leben nicht nur der jüdischen, sondern auch aller anderen Religionen an den Rand drängte. Erst seit der Wende 1989 haben wir wieder freie Hand und im Moment zählen wir 1.500 Gemeindemitglieder. Religiös knüpfen wir als Gemeinde eher an die orthodoxe Tradition an.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Führt man in Prag ein reges jüdisches religiöses Leben?

František Bányai: Mehr oder weniger ja – wir haben hier in Prag ein Koscher-Geschäft und drei Koscher-Restaurants – eines ist in einem Fünf-Sterne-Hotel, das aber eher die Touristen aus aller Welt anzieht. Es gibt hier aber mehrere religiöse Richtungen des Judentums und die Gottesdienste dieser verschiedenen Richtungen finden in fünf Prager Synagogen statt. Wir als Gemeinde betreiben die Gottesdienste in der Altneuen Synagoge und der Jerusalemer Synagoge. Wir haben hier eine amerikanisch-jüdische Gemeinde und eine israelisch-jüdische Gemeinde mit eher sephardischer Orientierung. Zu den reform-orientierten Gläubigen kommt ein Rabbiner aus Deutschland nach Prag, unserer Gemeinde hilft auch ein Rabbiner aus Israel, der wunderbar singt. Unsere durch die Gemeinde organisierten Gottesdienste sind orthodox und werden auf Hebräisch zelebriert.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Sie realisierten vor kurzem ein einzigartiges Projekt namens „Zehn Sterne“. Können Sie uns das näher erklären?

František Bányai: Es war ein vierjähriges Projekt der Revitalisierung der jüdischen Denkmäler in ganz Tschechien, es handelte sich um etwa 280 Millionen Kronen (etwa 11,2 Millionen Euro), 85 Prozent der Gelder kam aus EU-Fonds für regionale Entwicklung, 15 Prozent von der tschechischen Regierung. Auf zehn Plätzen wurden jüdische Denkmäler erneuert, drei davon waren im Einzugsgebiet unserer Gemeinde. Es handelte sich um die Rekonstruktion der Synagoge in Nová Cerkev (Neu Zerekwe), der Synagoge in Jičín (Jitschin) – in der sich auch die Dauerausstellung der jüdischen Schriftsteller Tschechiens befindet –, die Rekonstruktion der wunderschönen Synagoge in Březnice (Bresnitz) und der Synagoge Brandýs nad Labem (Brandeis), in der eine multimediale Ausstellung zum rabbinischen Schrifttum und Bildung zu sehen ist. Diese Synagogen sind in Verwaltung unserer Gemeinde. Weitere jüdische Denkmäler wurden in Polná , Boskovice (Boskowitz), Mikulov (Nikolsburg) und Krnov (Jägerndorf) revitalisiert, wobei für die jüdischen Gläubigen aus Deutschland die Alte Synagoge in Pilsen und die Synagoge und das benachbarte Rabbiner-Haus in Úštěk (Auscha) am interessantesten sind – diese liegen am nächsten zur deutschen Grenze. Jedes Jahr investieren wir acht Millionen Kronen in die Erneuerung der jüdischen Denkmäler inklusive der jüdischen Friedhöfe.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Sie betreiben auch eine Breite der jüdischen Bildungsinstitutionen und sozialen Diensten für jüdische Mitbürger. Können Sie uns diese näher beschreiben?

František Bányai: Wir betreiben einen jüdischen Kindergarten, eine Grundschule und ein achtjähriges Gymnasium. Das Gymnasium wird im Moment von etwa 300 Schülern besucht, es wird dort auch Judaismus und Hebräisch unterrichtet. Der Umbau der Schulen wurde vom Herrn Lauder finanziert, es waren mehr als 17 Millionen Kronen. Darüber hinaus betreiben wir das Restaurant Šalom, wo unsere Mitglieder Koscher-Essen bekommen können, und das Haus der Sozialpflege Hagibor mit 45 Betten zur ständigen Bleibe und 10 Betten für Genesungsaufenthalte zum Beispiel nach einer Operation. Dort können jüdische Mitbürger bis zu drei Monate bleiben. Den teilweise immobilen Patienten hilft unser Auto-Zentrum. Den etwa 90 Menschen jüdischer Herkunft helfen wir bei der häuslichen sozialen Pflege – diese wird auch von der Claim Conference finanziell unterstützt. Wir haben auch ein Dreigenerationen-Gemeindezentrum – hier versuchen wir alle Generationen zu verknüpfen, u.a. beim Feiern der jüdischen Feste. Einmal im Monat organisieren wir jüdische Abende (Schabaton) und einmal im Jahr eine große Veranstaltung für Eltern und Kinder (Limud).

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Viele unsere Leser haben es aus Berlin und aus Deutschland nicht weit nach Prag. Welche Prager und tschechisch-jüdischen Denkmäler würden Sie deutschen Touristen empfehlen?

František Bányai: Auf jeden Fall das jüdische Museum, die Altneue Synagoge, den alten jüdischen Friedhof und den neuen jüdischen Friedhof im Prager Stadtteil Žižkov. Touristen zieht am meisten der Neue jüdische Friedhof mit der außerordentlichen Architektur im Zentrum von Prag an, mit seinen Gräbern berühmter Persönlichkeiten wie z.B. Franz Kafka. In Mähren empfehlen wir auf jeden Fall Mikulov (Nikolsburg) – das Zentrum des Lebens der jüdischen Rabbiner in Mähren. Außerdem ist Pilsen mit der drittgrößten Synagoge der Welt sehr empfehlenswert. Die Synagoge und die Kathedrale in Třebíč gehören zum UNESCO-Weltkulturerbe. Interessant ist natürlich auch das jüdische Viertel inklusive des Ghettos in Boskovice. Dort befindet sich auch eine ständige Ausstellung namens „Jüdische Viertel in Tschechien“. Das historische Zentrum von Úštěk (Auscha) inklusive der wunderschönen Synagoge unweit der deutsch-tschechischen Grenze zieht viele ausländische Besucher an. In Polná wurde auch das dreieckige Ghetto inklusive der Synagoge erhalten.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Bányai.

 

František Bányai ist Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Prag. Bányai kommt ursprünglich aus dem slowakischem Levice, seine Eltern überlebten Auschwitz, jedoch wurde die ganze übrige Familie in dem Konzentrationslager ermordet. Wegen des Studiums an der mathematisch-physikalischen Fakultät der Karlsuniversität Prag zog er während der kommunistischen Zeit aus der Slowakei nach Prag um. Das Studium schloss er 1971 ab und arbeitete auf verschiedenen Posten im IT-Bereich. Seit 2005 leitet er die jüdische Gemeinde Prag, spricht tschechisch, slowakisch und ungarisch, ist verheiratet und hat eine Tochter.

 

Das Gespräch führte Daniela Capcarova.

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