Zeitweise lebten bis zu 80 % aller Juden in Polen

Interview mit Prof. Dr. Andrzej Przyłębski, dem polnischen Botschafter in Deutschland

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Herr Botschafter, das europäische Judentum hatte vor dem Aufstieg der Nationalsozialisten und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges eine lange Tradition in Polen. Kann man von einem Sonderstatus Polens für die Bedeutung der jüdischen Kultur und Tradition in Europa sprechen?

Prof. Dr. AP: Auf jeden Fall. Tausende Juden fanden ihre Zuflucht in Polen, nachdem sie im Mittelalter und später aus verschiedenen Ländern Europas (Deutschland, Frankreich, Österreich und Spanien oder sogar aus Kiew und Moskau) vertrieben worden waren. Sie erhielten Privilegien von polnischen Königen und konnten ihr jüdisches Leben sowohl in eigenen Dörfern und Städtchen (den berühmten „Schtetl“), sowie in der Nähe der polnischen Gastgeber, in Warschau, Krakau, Wilna oder Lemberg entwickeln. Es waren über 800 Jahre des friedlichen Zusammenlebens der Polen und Juden auf polnischem Gebiet.

Es sei daran erinnert, dass Mitte des 16. Jahrhunderts etwa 80 % der Juden der Welt in Polen lebten. Die rasante Entwicklung der jüdischen Kultur und Kunst auf den polnischen Gebieten führte dazu, dass Polen zu dieser Zeit zum Zentrum der jüdischen Welt wurde.

Eine ausgezeichnete Illustration dieser Geschichte ist das Museum Polin (Museum der Geschichte der polnischen Juden) in Warschau. „Polin“ bedeutet auf Hebräisch sowohl „Hier ruhe aus, hier lasse dich nieder!“ als auch „Polen“, also „ein Land, in dem man leben will.” Ich empfehle jeder deutschen Bürgerin und jedem deutschen Bürger, allen voran den Berlinern, eine Fahrt nach Warschau, um sich dieses Museum anzuschauen. Es sind knapp 570 Kilometer, also 5 Stunden mit dem Auto. Es lohnt sich wirklich!

JR: Wie steht es um das jüdische Leben im heutigen Polen? Welchen Beitrag leistet der Staat zur Förderung jüdischer Gemeinden?

Prof. Dr. AP: Meines Wissens nach gibt es zur Zeit in Polen nur wenige jüdischen Gemeinden. Nicht nur der Holocaust, sondern auch der Kommunismus trug dazu bei, dass viele Juden, die den Krieg überlebt haben, in den 1950er und 60er Jahren Polen gen Israel und gen USA verlassen haben. Es gibt aber immer mehr Menschen in Israel, die die Rückgabe des polnischen Passes beantragen, mit dem Ziel sich in Polen anzusiedeln. Und es gibt ein immer größeres Interesse der Polen an jüdischer Kultur, an der verlorenen Nachbarschaft. In Krakau findet z.B. jedes Jahr eines der größten jüdischen Kultur-Festivals der Welt statt: Sieben Tage lang Musik, Literatur, Tanz, Theater, Bilderausstellungen, Kurse! Kleinere Festivals kenne ich aus Warschau und Posen. Auch der polnische Staat trägt dazu bei. Nicht nur durch die Errichtung von Polin. Seit Jahren finanziert er z.B. auch das Żydowski Instytut Historyczny (Jüdisches Historisches Institut), eine wissenschaftliche Einrichtung zur Erforschung des jüdischen Lebens in Polen.

JR: In Polen spielt der römisch-katholische Glauben eine traditionell bedeutende Rolle. Wie sieht die christlich-jüdische Zusammenarbeit in Polen aus?

Prof. Dr. AP: Ziemlich gut. Religiöse Juden werden in Polen als „die älteren Brüder im Glauben“ betrachtet – also mit großem Respekt. Viele katholische Priester engagieren sich im interreligiösen Dialog. Tausende Polen besuchen Israel, nicht nur auf der Suche nach den Spuren von Jesus Christus. Fast ebenso viele Juden kommen nach Leżajsk, Nowy Sacz und zu anderen Pilgerorten orthodoxer Juden.

JR: In Ihrem Grußwort zum Konzert anlässlich des 100. Jahrestages der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens im Beisein beider Staatspräsidenten am 23. Oktober 2018 haben Sie explizit den jüdischen Beitrag in der Geschichte Polens hervorgehoben. Wie wird der historische Beitrag polnischer Bürger jüdischen Glaubens im modernen Polen bewertet?

Prof. Dr. AP: Sehr hoch. Vor allem, was das 20. Jahrhundert und den Bereich der Kultur und Wissenschaft angeht. Die assimilierten Juden haben einen wunderbaren, von allen Polen hochgeschätzten Beitrag zur polnischen Kultur geleistet. Es reicht aus solche Namen wie Julian Tuwim, Marian Hemar, Boleslaw Lesmian (Literatur), Simon/Szymon Laks, Mieczyslaw Weinberg, Andre Tansman (klassische Musik), Henryk Wars, Jerzy Petersburski (Popmusik), Ludwik Zamenhof (Erfinder des Esperanto) oder Ludwig Fleck (Wissenschaftsphilosoph) zu nennen. Hinzu kommen bekannte Schauspieler (Henryk Wlast, Nora Ney), Sänger (Adam Aston, Vera Gran) oder der Filmregisseur Roman Polanski. Und das sind nur wenige Beispiele. Man muss aber dazu sagen, dass sie alle zu den assimilierten Juden gehörten. Die Nichtassimilierten, die Juden vom Schtetl, waren in der Hochkultur Polens weniger präsent.

JR: Polen hat sich von Beginn an gegen die ungeregelte Zuwanderung nach Europa ausgesprochen und wurde dafür in Deutschland teils heftig kritisiert. Vor welchen aktuellen Herausforderungen steht die Europäische Gemeinschaft aus Sicht Polens?

Prof. Dr. AP: Die größte Herausforderung ist die Reform der EU nach der Lehre, die uns der Brexit erteilte. Die Briten zeigten, dass sie sich der ideologisch gesteuerten, links-liberalen Entwicklung der EU nicht unterordnen wollen. Die Staaten und Nationen sind und bleiben die Säulen der Union, die in absehbarer Zukunft nicht einfach in einen Bundesstaat umgewandelt werden kann. So eine Umgestaltung müsste in der Vorrangstellung einiger Nationen über die anderen enden, was schlussendlich in den Zerfall der Union münden würde. Was die Zuwanderung angeht: Europa muss sie wegen der niedrigen Geburtenraten zulassen, es muss aber eine kontrollierte Immigration sein. So eine Politik führt Polen seit vier Jahren.

JR: Anlässlich des 100. Jahrestages der Unabhängigkeit Polens besuchte der polnische Präsident Andrzej Duda auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Was sind derzeit die zentralen Projekte in der Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland? Spielen jüdische Aspekte eine Rolle dabei?

Prof. Dr. AP: Es sind vor allem Projekte wirtschaftlicher Natur, z.B. die Beteiligung Polens an dem deutsch-französischen Projekt der Herstellung von Auto-Batterien. Der Übergang zur Elektromobilität macht es notwendig, dass Europa eigene Batterien produziert – und Polen ist dabei! Im Allgemeinen spielt die wirtschaftliche Zusammenarbeit der beiden Länder eine immens wichtige Rolle für das Wachstum der deutschen Exporte in die Welt und für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Polen. Damit geht das Wohlstandwachstum der Bürger beider Länder einher.

JR: Zwischen Polen und Israel gab es in jüngster Zeit Verstimmungen aufgrund unterschiedlicher Bewertungen hinsichtlich der Beteiligung polnischer Bürger an der Judenvernichtung während der Zeit der deutschen Besatzung. Wie ist die Position der polnischen Regierung in dieser Frage? Was genau sind die Differenzen mit der israelischen Seite und wie lassen sich diese überwinden?

Prof. Dr. AP: Diese Differenzen wurden manifest als wichtige israelische Politiker vor kurzem Polen der angeblichen Beteiligung am Holocaust beschuldigt haben. Wir Polen halten uns diesbezüglich an wissenschaftlichen Forschungen statt an isolierte, subjektive Erinnerungen. In meinem Land wird nicht in Frage gestellt, dass es viele Polen gab, die sich an der Tragödie der Juden während des Zweiten Weltkrieges bereichern wollten. In unseren Augen waren dies Kriminelle – denn Polen als Staat befand sich zu dieser Zeit vollständig unter deutscher Besatzung. Es herrschte deutsche Gesetzgebung, und deutsche Zustimmung für alle Arten von Verbrechen an den Juden. Es gab aber auch die polnische Exilregierung in London, die das Verbrechen an Juden aufs Schärfste verurteilte. Auch mit der Todesstrafe für diejenigen, die Juden verraten haben. Diese Strafen wurde mehrfach ausgeführt, und zwar durch die speziellen Soldateneinheiten, die während des Kriegs von der aus London kommandierten Untergrundarmee (Armia Krajowa) kontrolliert wurden. Deshalb sind wir jetzt geschockt, wenn wir aus Israel hören, dass Polen, d.h. eine Nation, die in Yad Vashem über 6.000 Bäume hat, beschuldigt wird, den Deutschen beim Holocaust geholfen zu haben. Nur in Polen gab es laut deutschem Gesetz die Todesstrafe für jede Hilfe gegenüber jüdischen Mitbürgern, auch fürs Reichen eines Brotstückes. Fragen Sie sich selbst, warum dies nur in Polen eingeführt wurde, wenn wir angeblich so antisemitisch waren. Laut neuesten Forschungen beteiligten sich während des Krieges trotzdem 300.000 Menschen an der Rettung von Juden.

JR: Es gab aber auch das Pogrom von Kielce 1946 – also nach der deutschen Besatzungszeit.

Prof. Dr. AP: Ohne Frage ist das Pogrom von Kielce ein Schandfleck in der polnischen Nachkriegsgeschichte. Es gibt aber eine Vermutung, dass er vom kommunistischen Sicherheitsdienst initiiert wurde. Heute wissen wir, dass während des Pogroms mindestens 40 Juden starben sowie 2 Polen, die zu ihrer Verteidigung standen; etwa 40 Menschen wurden verletzt.

Meines Erachtens war das Kielce-Pogrom nicht eine Kompromittierung der örtlichen Behörden, wie es manche sagen mögen, sondern eine Schande, für den der kommunistische Sicherheitsapparat und die kommunistische Regierung eine Verantwortung trägt. Stellen Sie sich vor, dass man auch in Krakau und an einigen anderen Orten versucht hat, ähnliche Aktionen zu initiieren – zum Glück sind diese Versuche gescheitert.

JR: Auch ein Blick in die Gegenwart der polnisch-israelischen Beziehungen lohnt sich. Was möchten Sie unseren Lesern hierzu sagen? Gibt es trilaterale polnisch-israelisch-deutsche Projekte?

Prof. Dr. AP: Ich kenne solche Projekte leider nicht. Die deutsch-israelische Beziehungen sind im Lichte der deutschen Verantwortung für den Holocaust einmalig. Nichtsdestotrotz war es Polen, das in der EU oder UNO Israel am stärksten unterstützt. Mit Bedauern muss ich feststellen, dass nach den Polen-feindlichen Aussagen des Premiers Netanjahu und seines Außenministers Katz (und dies sind nur Beispiele) die Sympathie der Polen für Israel drastisch sinkt, was nicht heißt, dass der Antisemitismus wächst. Wir empfinden solches Verhalten der israelischen Politiker als ein Zeichen der unverständlichen Undankbarkeit. In Israel dreht man nicht nur unsere Rolle im Zweiten Weltkrieg um, sondern in Vergessenheit gerät außerdem der Beitrag der polnischen Soldaten der Armee von General Anders für die Entstehung des Staats Israel oder der in Polen ausgebildeten Offiziere in den Kriegen gegen die Arabern. Es ist merkwürdig.

JR: Welche Veränderungen in der europäischen Politik sehen Sie als notwendig an, damit Europa auch in Zukunft ein sicherer Lebensraum für Menschen jüdischen Glaubens sein kann?

Prof. Dr. AP: Ich sehe hier auf ersten Blick zwei Sachen. Die Massenmigration aus den moslemischen Ländern muss gestoppt werden. Europa soll Abendland bleiben, es sollte weiterhin als Zivilisationsmuster dienen. Zweitens muss Israel als Staat sich den „Palästinensern“ gegenüber fair verhalten, damit die Kritik an Israel in der europäischen Öffentlichkeit und in verschiedenen Institutionen gegenstandlos würde.

JR: Was ist aus Ihrer Sicht an dem israelischen Verhalten gegenüber den „Palästinensern“ unfair?

Prof. Dr. AP: Nein, ich meine hier etwas anderes. Ich habe nicht an die Vergangenheit gedacht. Fairness in der Politik sollte sich auf die Zukunft beziehen, wofür wir uns auch seit einigen Jahren in den deutsch-polnischen Beziehungen und in den internationalen Beziehungen einsetzen.

JR: Herr Botschafter, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

Das Gespräch führte Urs Unkauf.

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