Lea Fleischmann: Ich bin Israelin mit Herz und Seele

Die aus Deutschland stammende Schriftstellerin wurde in einer zum DP-Lager umfunktionierten Wehrmachtskaserne geboren, in der nur Jiddisch gesprochen wurde, hat die westdeutsche Literaturszene beeinflusst und findet nun in Israel zu ihren religiösen Wurzeln zurück.

Lea Fleischmann

Von Michael G. Fritz

„Sie fahren mit dem 480er Bus von Tel Aviv bis zur Endstation in Jerusalem, nehmen von dort die Stadtbahn in Richtung Herzlberg. Es gibt nur eine Linie. An der dritten Station, Kikar Denia, steigen Sie aus, die Eisdiele Kazefet werden Sie finden“, schrieb mir Lea Fleischmann. Ich hatte die namhafte Schriftstellerin in Dresden kennengelernt, wo ich ihre Lesung moderierte. „Wenn Sie das erste Mal nach Israel kommen“, sagte sie damals zu mir, „kennen Sie immerhin schon jemanden: mich.“

Sie trifft wenige Minuten nach mir vor der Eisdiele ein, aber noch vor der vereinbarten Zeit: eine hochgewachsene, dabei schlanke, aparte Frau. Ich gehe ihr entgegen, wir erkennen uns nach fünf Jahren sofort und umarmen uns zur Begrüßung. Wir suchen hinter einer hüfthohen Hecke im Garten einen freien Tisch und bestellen Kaffee, Straßenlärm hüllt uns ebenso ein wie die englischsprachige Popmusik aus dem Inneren des Gebäudes.

Lea Fleischmann wurde 1947 in einem DP-Lager in Oberbayern geboren. Sie gehörte zu den Displaced Persons, ihre polnischen Eltern hatten als Holocaustüberlebende ihre Heimat verloren. Sie wollten in die amerikanische Zone und verbrachten danach zehn Jahre in einer ehemaligen Kaserne der Wehrmacht, in dem die einzige Sprache Jiddisch war. Mit ihr haben die Eltern nicht gesprochen, aber durch die Gespräche der Erwachsenen untereinander erfuhr sie von den furchtbaren Geschichten des Holocausts, der ein Teil von ihr werden sollte, obwohl sie ihn nie erlebt hatte. Die Bewohner des Lagers zog es entweder nach Amerika oder Israel, niemand jedoch wollte in Deutschland leben. Fleischmanns Eltern entschieden sich schließlich fürs Hierbleiben. Sie studierte Pädagogik, arbeitete als Studienrätin an einer Fachschule für Sozialpädagogik und heiratete einen jüdischen Mann, verließ aber 1979 Deutschland mit ihren beiden Kindern und lebt seitdem in Israel.

Sie wusste nicht, worauf sie sich einließ. Sie kannte Israel bisher nur als Touristin, ihr war lediglich klar, dort verhungert niemand. „Du hast zwei Hände, hast einen Kopf, es wird sich schon irgendetwas finden.“

Ein Jahr nach ihrer Übersiedlung erschien ihr erstes Buch mit dem ebenso ultimativen wie provozierenden Titel „Das ist nicht mein Land. Eine Jüdin verlässt die Bundesrepublik“, das es bis auf die SPIEGEL-Bestsellerliste schaffte. Die Reaktionen waren durchweg positiv, sogar ehemalige Kollegen hatten ihr geschrieben.

Ursprünglich wollte sie nach einer Umschulung als Lehrerin anfangen; Schriftstellerin zu werden, daran hatte sie nie gedacht. Ihr Verleger Hans-Helmut Röhring indessen machte sich auf den Weg zu ihr und sagte: „Sie können gut beobachten, Sie schreiben auch gut. Schreiben Sie! Ich verlege Ihre Bücher.“ Sie hat sich erst in Israel zu einer Schriftstellerin entwickelt. Aber im Grunde genommen, gesteht Lea Fleischmann, ist sie Lehrerin geblieben.

 

Warum sie Deutschland verlassen hat?

„Ich hatte einen deutschen Pass, aber eine Deutsche war ich nicht. Wenn ich dortgeblieben wäre, hätte es mir die Kehle zugeschnürt.“ Letzten Endes haben Beamte den Holocaust ausgeführt, was ihr erst klar wurde, als sie selbst Beamtin geworden war. Sie dachte, wenn es in Deutschland wieder eine große Arbeitslosigkeit gibt, die Menschen verarmen, eine neue Regierung mit neuen Gesetzen kommt – Beamte werden sie umsetzen, gleichgültig, wie ihr Inhalt lautet. Sie haben nichts anderes gelernt, als auszuführen. Das alles in Verbindung mit ihrer eigenen Biographie hat Fleischmann bewogen, Deutschland mit seinem individuellen und dichten Sicherheitsnetz zu verlassen. Wenn sie Deutsche gewesen wäre, hätte sie versucht, dieses Land auf demokratischem Weg zu ändern, vielleicht indem sie in eine Partei eingetreten wäre.

Alle weiteren Bücher schrieb sie ebenfalls auf Deutsch. Sie spricht zwar gut Hebräisch, doch um Bücher zu schreiben, muss man die Sprache so gut wie die Muttersprache beherrschen. Weil ihre Bücher nur in der Bundesrepublik erscheinen, ist sie als Schriftstellerin in Israel nahezu unbekannt.

Lea Fleischmann hat die „Kulturelle Begegnungsstätte“, eine Bildungsinstitution für deutsche Israelbesucher, gegründet. Sie selbst ist zu Schulveranstaltungen in der Bundesrepublik unterwegs, hat viele Projekte entwickelt. Eines davon steht im engen Zusammenhang zu ihrem Buch „Schabbat. Das Judentum für Nichtjuden verständlich gemacht“. In dem Projekt sollen Lehrer beispielsweise lernen, dass ihr Sonntag im Schabbat wurzelt. Sie geht damit zu ihrem ursprünglichen Beruf zurück. Lea Fleischmann sieht ihre Aufgabe darin, Brücken zwischen Deutschland und Israel, zwischen Christen und Juden zu bauen. In Deutschland beobachtet sie ohnehin seit einiger Zeit zunehmend Tendenzen, sich aus ernsthaftem Interesse heraus mit jüdischen Fragen zu beschäftigen. Ihre Aktivitäten werden sehr wohl zur Kenntnis genommen, für die sie von der Bundesrepublik im Januar 2019 mit dem Verdienstorden am Bande ausgezeichnet worden ist.

Die Zugezogene wird religiös

Sie nippt an ihrer Tasse, schaut auf die lebhafte Straße und erzählt weiter. Eine wesentliche und gleichsam völlig unerwartete Veränderung in ihrem Leben ereignete sich nach ihrer Übersiedlung: Sie wurde religiös.

In ihrem gemeinsam mit dem aus Ostberlin stammenden Schriftsteller Chaim Noll geschriebenen Buch „Meine Sprache wohnt woanders“ heißt es: „In Jerusalem fügten sich die Brüche in meinem Leben zu einer Einheit zusammen. Ich erkannte, dass es keine Zufälle gibt, sondern dass unser Leben in ein göttliches Konzept eingebettet ist.“ Früher war Judentum für sie immer mit dem Holocaust verbunden, die Bibel interessierte sie überhaupt nicht. Sie fragte sich, was sie als moderner Mensch mit diesen Märchen zu tun hätte. Erst als sie Hebräisch lernte, lernte sie auch die Thora zu lesen, den ersten Teil des Tanach, der hebräischen Bibel. „Man dringt in eine fantastische Welt ein. Wie viele Bücher gibt es, die jeden Tag gelesen werden? So alt die Thora ist, sie gewinnt weiter an Kraft. Ich bin fest davon überzeugt, Hebräisch wird eines Tages Weltsprache werden. Immer mehr Menschen werden ergründen wollen, was sie trägt.“

 

Das Christentum kann man nicht vom Judentum trennen

Die Kirche hat versucht, sich von ihren jüdischen Wurzeln zu trennen. Das ist so, erklärt Lea Fleischmann, als schneidet man eine wunderschöne Pflanze mit ihren Blüten von der Wurzel ab. Sie bringt immer etwas Neues hervor, die Pflanze jedoch verwelkt. Und das passiert, wenn sich das Christentum vom Judentum trennt.

Die Schriftstellerin hat durch die Lektüre der Thora jüdische Lebensformen angenommen, als Pars pro Toto mag der Schabbat gelten. Er ist nicht nur schlechthin ein wichtiger Tag, der die ganze Woche strukturiert. Er beinhaltet ebenso das Nichtarbeiten wie das geistige Befreien von der Arbeit. Donnerstagnachmittag schließt Fleischmann ihr Büro, geht einkaufen, am Freitag, dem Rüsttag, wird gekocht und sich auf den Schabbat vorbereitet. Freitagabend ist die Schabbatfeier, zu dem die Familie zusammenkommt. Ihr ist wichtig, sich schon seit dem Donnerstag nicht mehr mit Arbeit zu beschäftigen, nicht einmal E-Mails werden gelesen.

Mittlerweile wohnen vielleicht dreißigtausend Israelis in Deutschland, besonders in Berlin. Die meisten gehen nach der Armeezeit, um zu studieren oder weil ihre Großeltern von dort stammen. Man nennt sie etwas spöttisch Milkys, weil sie sich dort niederlassen, wo das Leben bequemer und alles billiger ist. Das Pendant des mittlerweile berühmten israelischen Schokopuddings mit Sahnehäubchen „Milky“ kostet in Deutschland entschieden weniger. Natürlich kann man als Jude in Deutschland leben. Wenn man religiös ist, schließt man sich einer Gemeinde an, geht in eine Synagoge, doch außerhalb Israels findet man nicht den religiösen Geist.

Lea Fleischmann lebte 32 Jahre in Deutschland, mittlerweile 40 Jahre in Israel. Sie hat in diesem Land mit seiner großartigen geistigen Kraft alles gefunden, was ein Mensch braucht. Es gibt auch hier Leute, die bequem und im Konsumrausch leben, man kann alles kaufen. In Israel müssen so viele unterschiedliche Menschen auf engem Raum miteinander auskommen, was manchmal zu Schwierigkeiten führt. Aber man lernt auch, sich selbst zurückzunehmen.

Enttäuscht ist sie von Europa, das blauäugig eine zu einseitig orientierte Politik betreibt. Allen voran die deutschen Medien zeichnen ein voreingenommenes Israelbild, was die Wirklichkeit verzerrt wiedergibt. Außerdem wird ein Szenario entworfen, nach dem das Leben in Israel in permanenter Gefahr ist. Freilich existiert die von Gaza und aus dem Westjordanland ausgehende Gewalt. Fleischmann fühlt sich selbst nicht bedroht, hat allerdings sehr gut die Zeit in Erinnerung, als die Busse durch Selbstmordattentäter in die Luft flogen. Damals sagte sie sich, dass ihr Leben nicht in ihrer Hand liegt. Es ist wie mit einer Krankheit, die trotz aller Voruntersuchungen ausbrechen kann. Dieses Gottvertrauen hat sie erst hier gelernt. Im Grunde möchte jeder Israeli zum Ausgleich mit den „Palästinensern“ kommen. Doch Israel kann noch so viele Vorschläge zur Lösung der verfahrenen Situation machen, sie werden durch die Hamas wie durch die PLO abgelehnt. Bedauerlicherweise können die „Palästinenser“ ihre Führung nicht frei wählen und damit den Weg, den sie einschlagen wollen. Und wenn sie gegen ihre Führung aufbegehren wie im März dieses Jahres gegen die Hamas in Gaza, dann werden sie niedergeknüppelt und verfolgt. Man kann nur Frieden mit jemandem finden, der ihn auch will. Lea Fleischmann zweifelt nicht daran – irgendwann wird es Frieden geben. Israel geht auf die arabische Welt zu, regt den Technologieaustausch mit den Golfstaaten an, das „Palästinenser“-Problem – das wird allmählich erkannt – ist nicht das Hauptproblem im Nahen Osten.

Angelika Schrobsdorff, die deutsche Schriftstellerin, die sich sehr kritisch mit der israelischen Politik auseinandergesetzt und lange in Jerusalem gewohnt hat, ist verbittert und enttäuscht nach Deutschland zurückgezogen. Lea Fleischmann dagegen kann sich nicht vorstellen, dieses Land zu verlassen.

 

Wegziehen ist keine Option

„Ich bin Israelin mit Herz und Seele. Ich habe einen israelischen Pass und meinen deutschen zurückgegeben. Ich habe nicht diese Identitätsspaltung, ich bin nur Israelin. Meine Kinder sind hier, meine Enkel auch. Mein Sohn spricht noch ganz gut Deutsch, meine Tochter nicht mehr so sehr und meine Enkel überhaupt nicht. Was dieses Land an Gutem und Schlechtem hat – ich bin ein Teil davon.“

„Wann sehen wir uns wieder?“, frage ich zum Abschied.

Sie trinkt ihren Kaffee aus und schenkt mir ein leises Lächeln. „Wer weiß.“

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