Ein Märchenbuch für Emigrantenkinder

Die jüdische Familie Leib flüchtete vor den Nationalsozialisten nach Brasilien. Marga Leib hat für ihre Kinder ein Märchenbuch geschrieben, um ihre Kinder auf Abschied und Neuanfang vorzubereiten.

Von Tina Adcock

Das erst dieses Jahr erschienene „Märchenbuch“ von Marga Leib verkörpert gleich zwei Dinge. Zum einen ist es ein wichtiges historisches Dokument, das die Erinnerung einer Familie, die vor den Nationalsozialisten in Deutschland geflohen ist, konserviert und somit seinen Teil zu der wichtigen Erinnerungskultur beiträgt. Zum anderen zeugt es von einer menschlichen Tragödie, Hoffnung und Liebe, die in den dunkelsten Zeiten Menschen zusammenhalten kann und von Mutterliebe, die nahezu unerschütterlich zu sein scheint.

Das Buch beginnt mit eben jener Märchenerzählung und fährt mit Kommentaren und biographischen Ergänzungen der Tochter der eigentlichen Autorin, Monica Leib, fort. Abschließend nimmt die Pädagogin, Kerstin Dauvermann, die unter anderem Bücher wie „We, the six million – Didaktische Grundlagen für Lehrer: Die Entschädigungsakten der Opfer der Shoah im Schulunterricht“ mit herausgab, eine fantastische und ausführliche Interpretation und Analyse des vorliegenden Werkes vor.

 

Worum geht es eigentlich in diesem Märchenbuch?

Bei der Erzählung handelt es sich um eine kindgerechte Tatsachenschilderung der Geschichte der Familie Leib. Die Mutter, Marga Leib, schrieb ihre Lebenssituation und die Flucht aus Nazi-Deutschland auf und formte sie, mittels Allegorien, in eine Märchenerzählung um. Sowohl das Buch an sich, als auch die mit Schreibmaschine geschriebenen Worte sind selbstentworfen und werden durch selbstgemalte Bilder der Kinder ergänzt.

Wie in jedem Märchenbuch beginnt die Geschichte mit einer positiv konjugierten Ausgangssituation und deren Protagonisten, sowie den Worten: „Es war einmal…“ eine glückliche Familie, bestehend aus Vater, Mutter und zwei Kindern, die in einer Idylle aus grünen Wiesen, Gesang und Liebe lebt. Doch bald schon zieht ein Gewitter auf, mit Blitz, Donner und Regengüssen, die nicht mehr aufhören wollen und die einst so schöne und friedliche Umwelt verdunkeln, die Wiese in Morast verwandeln und statt Blumen und Schmetterlingen tauchen plötzlich Frösche und giftige Insekten auf. Das heraufziehende Gewitter steht symbolisch für den aufziehenden Nationalsozialismus, der die Menschen und die Umwelt um sich herum beeinflusst.

Mit den Worten: „Nun, die Leutchen in dem kleinen Haus waren gar nicht bang, denn sie hatten schon viele Stürme erlebt und wussten, dass nach einiger Zeit schon alles wieder in Ordnung kommen würde“, wird ausgedrückt, dass Antisemitismus schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten existierte, er jedoch wieder abebbte. Dies scheint nun aber nicht mehr der Fall zu sein, dauert das Gewitter doch weiter an. Es wird weiter berichtet, dass der Vater zwar weiterhin seiner Arbeit nachgehen kann, er jedoch große Holzschuhe tragen muss, die beim Gehen den Schmutz in alle Richtungen hochspritzen lässt. Frau Dauvermann interpretiert dies als eine Art von sich ausbreitender Gefahr und die Schuhe, als Schuhwerk eines einfachen Mannes, die der Vater nun tragen muss. Ich persönlich würde noch weitergehen und die Schuhe als Allegorie für das von den Nazis aufgezwungene Tragen des sogenannten „Judensterns“ ansehen, das den Menschen sofort ermöglichte, eine Person als Juden zu identifizieren. Der Schlamm könnte in diesem Fall den Hass repräsentieren, dem sich der Vater, Walter Leib, von Seiten der Mitmenschen ausgesetzt sieht.

Der Erzähler fährt fort und berichtet davon, dass das Lachen in dem Haus verstummt und die Eltern immer öfter in Sorge das Gespräch miteinander suchen, um zu beraten wie es weitergehen soll. Anschließend macht sich der Vater auf eine lange Reise um auszukundschaften, ob die Familie woanders ein besseres Leben führen kann. Im wahren Leben erhielt Walter Leib auf Grund seiner Profession Einladungen aus der Textilindustrie von Argentinien, Brasilien und Japan. Er besuchte jene Länder, um die jeweiligen Arbeitsmöglichkeiten zu prüfen. Seine Familie blieb zurück und es wird angeführt, dass das Wohnhaus zwar dicke Wände hatte, aber sie immer noch das Hässliche, was draußen vor sich ging, sehen konnten.

Als er zurückkehrte, berichtete er von einem Ort mit blauem Wasser, hohen Bergen, dichten Wäldern und allerlei fröhlichen Menschen. Da sich in ihrer Heimat nichts geändert hatte, wollte die Familie sofort ihre Heimat verlassen und in das neue unbekannte Land ziehen, von dem sie sich ein besseres Leben versprachen. Nachdem sie ihre Reise aufgrund der Erkrankung der Mutter verschieben mussten, zog ein noch größeres Gewitter auf. In diesem Fall könnte es sich um die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 handeln, da die Familie anschließend im Jahr 1939 nach Rio de Janeiro (Brasilien), noch vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, auswanderte. Mit einem großen Schiff waren sie für eine lange Zeit unterwegs. Das Wetter wurde immer wärmer und bald waren Berge und Strand zu sehen. Das Buch endet mit einem typischen, stimmungsvollen Happy End: „Erfüllt von all dem Schönen, dass ihnen im neuen Land begegnete, gingen sie mit gutem Mut an die Arbeit.“

Vertreibung und Grauen kindgerecht erzählt

Im weiteren Verlauf berichtet das jüngste Kind der Leibs, Monica Leib, davon, dass die Eltern zeitlebens ihre Liebe für deutsche Literatur und Musik beibehielten und stets Orte mit Deutschland verglichen. Sie führt weiter an, dass ihre Eltern nie Hassgefühle gegen Deutschland hegten, sondern eher eine tiefe Enttäuschung in sich trugen.

Eine Mutter wandelte die tragische Geschichte von Flucht, Traumata und den Verlust der Heimat in eine Märchengeschichte um, damit ihre Kinder die Geschehnisse besser verarbeiten konnten. Marga Leib schaffe es mittels Allegorien Bilder in den Köpfen der Leser zu kreieren und das tatsächliche Grauen des Nationalsozialismus in ein Gewitter zu verwandeln, vor welchem die Familie fliehen konnte. Das Märchenbuch ist ein Zeugnis von Hoffnung und Liebe, die selbst die dunkelsten Zeiten überdauert. Es ist berührend und gleichzeitig ist es ein historisches Artefakt, das zur Erinnerung mahnt. Marga Leib ist es gelungen die Dunkelheit ein wenig aufzuhellen und ihren Kindern etwas zu geben, was in dieser Zeit ein kostbarer Schatz war – Hoffnung.

Als ich das Buch das erste Mal in Händen hielt, gefiel mir sofort die Aufmachung, weil die Fotokopien des Originalwerks verwendet wurden, inklusive der mit Schreibmaschine geschriebenen Seiten und der Kinderzeichnungen. Dies trägt dazu bei, sich noch besser in die Geschichte einfühlen zu können und eine Art persönliches Gefühl für die Familie und deren Situation zu entwickeln. Die anschließenden Ergänzungen sind liebevoll zusammengetragen und sorgfältig aneinandergereiht, damit der Leser die vorangegangene Geschichte und deren Hintergründe besser versteht. Mein einziger Kritikpunkt wäre, dass der Märchenerzählung ein Vorwort vorangestellt sein sollte, damit dem Leser zumindest in groben Zügen klar ist, worum es sich bei der folgenden Geschichte überhaupt handelt.

Alles in allem ist das „Märchenbuch“ ein einzigartiges Dokument aus der Zeit des Nationalsozialismus, welches bei dem Leser Mitgefühl und Wissensdurst weckt. Zeitzeugenberichte sind wichtig, um die Geschichte besser verstehen und verarbeiten zu können. Das Märchenbuch schafft es etwas zu vereinen, mit dem sich jeder Leser identifizieren kann und was dabei hilft, sich ganz besonders in das Buch hineinzuversetzen. Ein jeder war einmal ein Kind, ein jeder liebte Märchen, aber nicht jeder war ein jüdisches Kind zur Zeit des Nationalsozialismus, und hatte das Glück durch eine Auswanderung mit dem Leben davonzukommen und eine Mutter zu haben, die so offensichtlich alles gab, um die Schrecken des Erlebten erträglich zu machen.

Es bleibt der Familie Leib zu danken, die das Märchenbuch dem Verlag Mainz zur Verfügung gestellt hat, da Erinnerung, in solch einer besonderen Form, hoffentlich dazu beiträgt, dass nie wieder eine jüdische Mutter ein Märchen erfinden muss, um eine antisemitische Verfolgung für ihre Kinder erträglicher zu machen.

 

Ein Märchenbuch Von Marga Leib Herausgeber: Christian BremenVerlag Mainz - Ratgeber & Sachbücher, 2019, ISBN: 978-3-86317-036-3

Sehr geehrte Leser!

Die alte Website unserer Zeitung mit allen alten Abos finden Sie hier:

alte Website der Zeitung.


Und hier können Sie:

unsere Zeitung abonnieren,
die aktuelle oder alte Ausgaben bestellen
sowie eine Probeausgabe bekommen

in der Druck- oder Onlineform

Unterstützen Sie die einzige unabhängige jüdische Zeitung in Deutschland mit Ihrer Spende!

Werbung


Alle Artikel
Diese Webseite verwendet Cookies, um bestimmte Funktionen zu ermöglichen und das Angebot zu verbessern. Indem Sie hier fortfahren, stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Mehr dazu..
Verstanden