Besuch der jüdischen Gemeinde in Novi Sad, Serbien
Vorderansicht der Synagoge von Novi Sad.
In der zweitgrößten Stadt Serbiens Novi Sad blühte vor dem Schrecken der Shoah ein prosperierendes jüdisches Leben. Von einstmals insgesamt 86 Synagogen sind jetzt nur noch 11 übrig. Heute ist jüdisches Leben, dank engagierter Gemeindemitglieder aber wieder sichtbar. Die Jüdische Rundschau hat sich auf die Spuren des Judentums in Serbien begeben. (JR)
Es ist ein warmer Dienstag Anfang November, als ich mich mit dem Schnellzug aus Belgrad Richtung Novi Sad mache. Auch wenn meine Mutter in der Nähe aufgewachsen und mein Großvater nicht weit von hier begraben liegt, habe ich es tatsächlich vorher noch nie in die zweitgrößte Stadt Serbiens geschafft. Novi Sad ist die Hauptstadt der Vojvodina, einer autonomen Provinz in Serbien, die einen Großteil Nordserbiens umfasst. Zur vollen Blütezeit jüdischen Lebens standen in der Vojvodina einst 86 Synagogen. Heute stehen nur noch 11 davon, doch die meisten werden nicht mehr als Gotteshäuser genutzt. Novi Sad war 2022 eine der drei Kulturhauptstädte Europas, neben der Stadt Kaunas in Litauen und Esch-sur-Alzette in Luxemburg. Novi Sad und die Vojvodina im Allgemeinen haben heute noch einen beachtlichen Anteil an Ungarn, was Ungarisch, neben Serbisch, zu einer weit verbreiteten Sprache macht.
Die große Synagoge
Und das sieht man der Stadt ebenfalls an, vor allem architektonisch. Vom Hauptbahnhof flaniere ich bei gutem Wetter keine halbe Stunde in die „Jevrejska“ (Jüdische) Straße, wo mich der Präsident der jüdischen Gemeinde von Novi Sad Mirko Štark und der ebenfalls aus Novi Sad stammende Ladislav Trajer, stellvertretender Präsident der Föderation der jüdischen Gemeinden Serbiens, zum Gespräch erwarten. Und da steht sie, die große Synagoge, eingebettet zwischen Backsteingebäuden. Anders als in Deutschland stehen keine bewaffneten Polizisten mit Maschinengewehren vor der Synagoge und der im Nachbargebäude untergebrachten Gemeinde. Zwar hat die Synagoge einen Wächter, doch Štark wird mir später mit Freude berichten, dass der Sicherheitsmann jedem Besucher Einlass zur Besichtigung gewährt. Etwas Ähnliches ist in Deutschland unvorstellbar.
Man kann die Synagoge schwer verfehlen, denn sie ist eine Touristenattraktion von Novi Sad. Die zentrale Kuppel fasst 130 Fuß, ist umgeben von einer ehemaligen jüdischen Schule und den Büros auf den anderen Seiten. Erbaut wurde sie zwischen 1906 und 1909 vom ungarisch-jüdischen Architekten Lipót Baumhorn im Jugendstil für bis zu 950 Gläubige, steht auf einem der Hinweisschilder draußen.
Mitgliederstarke Gemeinde
Trajer und Štark empfangen mich in Štarks Büro, nachdem mir Štark die Synagoge und die Räumlichkeiten der Gemeinde gezeigt hat, in den Chorproben, Filmvorführungen und kulturelle Veranstaltungen stattfinden, und das wöchentlich! Ich bin nach der Aufzählung der ganzen Aktivitäten nicht nur beeindruckt, sondern darüber hinaus erfreut und habe den Eindruck, dass die Gemeinde sogar ein wenig tiefstapelt, was ihr Engagement angeht. Trotz, dass die Gemeinde mit dem Überleben zu kämpfen hat, weil Mitglieder aufgrund wirtschaftlicher Not wegziehen, zählt sie immer noch über 640 Mitglieder aus allen Altersgruppen.
Mirko Štark erzählt mir bei einer Tasse türkischen Mokka, Juden hätten sich erstmals im 17. Jahrhundert in Novi Sad niedergelassen, kurz nach ihrer Gründung im Jahr 1694 unter der Habsburgermonarchie. Weiter berichtet er, dass viele Menschen in die Grenzregion flüchteten, als das österreichisch-ungarische Reich, in dem größtenteils Aschkenasen lebten, neue Gesetze erließ, die den Juden das Leben in Städten untersagten. Dort in den Grenzregionen, wozu zudem Novi Sad zählte, wurden diese Gesetze nicht so streng durchgesetzt. Später, als die Serben, die Vojvodina eroberten, wurden diese Beschränkungen aufgehoben und die jüdische Gemeinde blühte auf.
Das Ende der Blütezeit
Nach dem Ersten Weltkrieg und der Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen erlebte das jüdische Leben von Novi Sad eine kulturelle und wirtschaftliche Hochzeit, die zur Gründung eines jüdischen Gemeindezentrums, von Sportvereinen, Chören und ebenfalls mehreren jüdischen Zeitungen führte. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Novi Sad etwa 60.000 Einwohner, davon waren über 4.000 Juden. Die meisten davon waren wohlhabende Kaufleute, Anwälte, Ärzte und Professoren.
Diese Blütezeit endete abrupt im Jahr 1941, als die ungarische Armee mit Nazi-Deutschland kollaborierte und Novi Sad besetzte, was das Leben für Juden unerträglich machte. Innerhalb eines dreitägigen Zeitraums im Januar 1942, der heute als das Massaker von Novi Sad bekannt ist, trieben die Ungarn mehr als 1.400 Juden zusammen, beschlagnahmten ihr Eigentum, schossen ihnen in den Rücken und warfen sie in die eiskalte Donau.
Nach der Kapitulation Ungarns vor Deutschland trieben bewaffnete Wachen die verbliebenen 1.800 Juden der Stadt in die Synagoge und hielten sie dort zwei Tage lang unter erbärmlichen Bedingungen ohne Nahrung und Wasser fest. Am 27. April 1944 führten die Nazis ihre ausgemergelten jüdischen Gefangenen zum Bahnhof und pferchten sie in einen Zug nach Auschwitz.
Nur 300 der Juden von Novi Sad überlebten die Shoah und mussten die Gemeinde im darauffolgenden Nachkriegschaos praktisch von Grund auf neu aufbauen.
Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Novi Sad, Mirko Štark.
Štark und Trajer erklären mir, dass sie sechs bis zehn Leute zum Schabbat versammeln, möglicherweise sogar 15, aber weniger als die Hälfte davon seien Männer, was es ihnen unmöglich mache, einen Minjan zu bilden, womit das Quorum von zehn oder mehr im religiösen Sinne mündigen Juden gemeint ist, die für einen vollständigen Gottesdienst nötig sind. Außerdem erfahre ich, dass niemand vor Ort sich an die koscheren Essensvorschriften halte, da es kein koscheres Fleisch zu erwerben gebe.
Viele der ortsansässigen Juden sehen in Serbien, das von wirtschaftlichen Turbulenzen heimgesucht wird, kaum eine Perspektive für sich. Der heutige Durchschnittslohn beträgt etwa 1.000 Euro brutto pro Monat. Ebenfalls ein Grund, warum vor allem jüngere Gemeindemitglieder mit dem Gedanken spielen, auszuwandern.
Engagierte Gemeindearbeit
Trotz dieser wirtschaftlichen Herausforderungen ist es Serbien hoch anzurechnen, dass es 2017 zustimmte, in den folgenden 25 Jahren jährlich knapp über 1 Million US-Dollar an seine verbliebenen jüdischen Bürger als Entschädigung für deren Eigentum zu entrichten, das ihnen vom kommunistischen Regime weggenommen wurde. Die Hälfte dieses Geldes soll direkt an jüdische Gemeindeorganisationen gehen, 20 % an Überlebende der Shoah und die restlichen 30 % sollen in Projekte fließen, die sich mit der Bewahrung jüdischer Traditionen befassen.
Seit 2012 verdient die Gemeinde Novi Sad zusätzlich an Einnahmen durch die Vermietung ihrer Synagoge als Konzertsaal für klassische Musik. Im Gegenzug erhält die Stadt den Komplex als historisches Denkmal, reparierte das Dach und undichte Wasserleitungen. Einige der Gebäude waren einsturzgefährdet.
Würde sich die Gemeinde nicht um den vernachlässigten jüdischen Friedhof kümmern, so würde dieser verwuchern. Deswegen hätten sie Bäume gefällt und sind dabei, Zäune aufzustellen.
Obwohl antisemitische Vorfälle nicht allzu häufig vorkommen, beobachtet Trajer solche Vorkommnisse sehr genau. Vor allem nach dem mörderischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023.
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