115. Geburtstag von Simon Wiesenthal – „Ich werde dafür sorgen, dass man sie nicht vergisst“
Simon Wiesenthal © EDDY DE JONGHANP MAG/ANP via AFP
Der 2005 verstorbene Simon Wiesenthal, der als „Nazi-Jäger“ weltberühmt werden sollte, überlebte im Zweiten Weltkrieg fünf Konzentrationslager. Nach dem Krieg verschrieb er sich dem Sammeln von Beweisen und dem Auffinden der Nazi-Verbrecher. Sein Antrieb, war stets „Recht, nicht Rache“. Seine unermüdlichen Recherchen führten zur Verhaftung von rund 800 schuldigen Nationalsozialisten. Durch Wiesenthals akribische und beherzte Nachforschungen, gelang es den an der sogenannten „Endlösung“ und der Ermordung von über 6 Millionen Juden maßgeblich verantwortlichen Nazi-Schergen Adolf Eichmann, in Argentinien zu enttarnen, ihn dort festzusetzen und ihm seiner Strafe in Israel zuzuführen. (JR)
Als Gefangener im KZ Janowska in Lemberg musste Simon Wiesenthal mit anderen Gräben für die Toten ausheben. „Wir wussten, dass die Gräben bald voller Leichen sein würden“, sagte er. „Sie ließen die Opfer schon aufmarschieren, Frauen und Mädchen. Ich machte Augenkontakt mit einem der Mädchen. ‚Vergiß uns nicht‘, sagte mir ihr Blick“, so Wiesenthal. Später würde er sich vorstellen, sie im Himmel wiederzutreffen. „Ich habe dich nicht vergessen,“ würde er ihr sagen. Es wurde sein Lebensmotto.
An Silvester 1908 vor 115 Jahren wurde Simon Wiesenthal in Butschatsch, Galizien geboren, damals Teil der K. und K.-Monarchie. 870.000 Juden lebten in Galizien, 20% der Bevölkerung. Kaiser Franz Joseph hatte den Juden 1867 die Freiheit gewährt. „Wir liebten den Kaiser und waren eifrige Patrioten“, so Wiesenthal, dessen Vater im 1. Weltkrieg fiel. „Wir Juden waren die Vorreiter der deutschen Kultur im Osten,“ so Wiesenthal, der zuhause Deutsch und Jiddisch sprach. Seine Mutter floh mit ihm und seinem Bruder vor den Russen, erst nach Lemberg und dann nach Leopoldstadt in Wien, der Stadt, die für ihn zur zweiten Heimat wurde.
Nach dem Krieg kehrten sie nach Butschatsch zurück, wo Wiesenthal sich in seine Mitschülerin Cyla Müller verliebte, eine entfernte Verwandte Sigmund Freuds, die 1936 seine Frau wurde. Er studierte in Prag Architektur und engagierte sich bei den Revisionistischen Zionisten um Jabotinsky, die eine „Eiserne Mauer“ zwischen Juden und Arabern in Palästina errichten wollen. Wiesenthal schloss sich später der weniger radikalen Judenstaatspartei von Meir Grossman an, doch blieb er sein Leben lang ein „rechter“ Zionist.
Wiesenthal zog 1932 nach Lemberg, heiratete Cyla und eröffnete ein Architekturbüro. In Lviv engagierte er sich bei der zionistischen Studentengruppe Bar Giora, wo er in der Zeitung Omnibus Karikaturen veröffentlichte, die die Nazis auf die Schippe nahmen und gegen den britischen Teilungsplan für Palästina eintraten. Sein Schwager machte Alija, aber Cyla und Simon mussten an ihre Eltern denken, die sie nicht mitnehmen konnten. Auch nach dem Hitler-Stalin-Pakt blieben sie in Lemberg. Biograph Tom Segev nennt es „den größten Fehler ihres Lebens.“
„Hitler sagte offen, dass er die Juden vernichten wollte. Stalin log.“
Ende September 1939 kamen die Sowjets, und verhafteten oder verjagten all jene, die sie für Bourgeoisie hielten. Damals flohen manche Juden sogar ins Deutsche Reich. Wiesenthal wurde verhört und musste Bestechungsgeld zahlen, um in Lemberg bleiben zu dürfen. Später sollte Wiesenthal Hitler und Stalin, Kommunismus und Faschismus, gleichermaßen ablehnen. Der Unterschied zwischen beiden sei: Hitler sagte offen, dass er die Juden vernichten wollte, aber niemand glaubte ihm. Stalin log, dass er nichts gegen Juden hätte, und alle glaubten ihm.
Am 22.6.1941 begann Operation Barbarossa, die Rote Armee überließ die Stadt ohne Gegenwehr dem III. Bataillon des Gebirgsjäger-Regiments 98 der Wehrmacht. Die Russen hatten beim Abzug tausende inhaftierte ukrainische Nationalisten per Genickschuss hinrichten lassen, die Einheimischen gaben den Juden eine Mitschuld. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht begann die Bandera-Miliz OUN ein furchtbares Pogrom, bei dem etwa viertausend Juden ermordet wurden. Ein ukrainischer Mob machte mit deutscher Hilfe Jagd auf jeden, der jüdisch aussah. Juden wurden beim Spießrutenlauf mit rasierklingenbewehrten Prügeln geschlagen. Alte und Kleinkinder wurden erschlagen. Juden mussten Gräber für die getöteten ukrainische Nationalisten ausheben und wurden danach getötet.
Ein deutscher Soldat drang mit einer Dirne in Wiesenthals Haus ein und forderte seine Gespielin auf, sich Kleider aus Cylas Schank auszusuchen. Es war Wiesenthals erste Begegnung mit der Nazitaktik, Juden zu erniedrigen. Zwei Tage später wurde Wiesenthal früh morgens verhaftet und wurde mit 100 anderen Juden unter Stockschlägen zum Ostbahnwerk gebracht, wo sie schwere Eisenbahnteile bewegen mussten.
Die Juden von Lemberg wurden ins Ghetto umgesiedelt, wo ganze Familien in Schuppen und Keller gepfercht wurden. Typhus, TBC und andere Seuchen grassierten. Das Ghetto wurde vom Judenrat regiert, die im Auftrag der Nazis eine eigene Polizei bildeten und den Schwarzmarkt beherrschten. Nach dem Krieg sollte Wiesenthal genauso auf jüdische Kollaborateure Jagd machen wie auf Nazis.
Im März 1942 begannen die Deportationen in die Gaskammern von Belzec, 200 km entfernt. Dabei gingen die Nazis streng bürokratisch vor: Es wurde z.B. angekündigt, dass gewisse Dokumente nur noch mit einem bestimmten Stempel gültig wären. Wer diesen innerhalb von wenigen Stunden nicht bei den überlasteten Stellen besorgen konnte, wurde abtransportiert. Dabei kam Cyla und Simon dessen künstlerisches Talent und Ausbildung zum Architekt zugute, die ihm eine gehobene Stellung bei der Ostbahn besorgt hatte und seine Talente als Dokumentenfälscher zu Tage brachte.
Im Sommer 1942 kam Wiesenthal nach Hause und seine Mutter war weg. Nachbarn erzählten, zwei Ukrainer hätten sie abgeholt. Wiesenthal erfuhr nie, was aus ihr geworden war.
„Wir sehen uns im Seifenregal“
Die Nazis umzäunten das Ghetto und richteten Arbeitslager wie das Lager Janowska ein, in dem 20 bis 30 000 Menschen rackerten. Misshandlungen und Massenhinrichtungen waren an der Tagesordnung. Der beißende Geruch von verkohltem Fleisch hing in der Luft, der schwarze Humor dominierte: „Wir sehen uns im Seifenregal“ war ein häufiger Gruß.
Wiesenthal selbst genoss hingegen ein relativ privilegiertes Leben als Ingenieur beim Ostbahn-Ausbesserungswerk (im Dienste eines „guten Deutschen“, Adolf Kohlrautz, für den Wiesenthal Pläne entwarf und im Büro arbeiten durfte. Kohlrautz half ihm, seine Frau Cyla aus dem Arbeitslager Janowska zu sich zu holen. Wiesenthal hatte sogar zwei Pistolen in seinem Schreibtisch und half dem Widerstand, Waffen zu besorgen. Er schmuggelte Pläne an den Widerstand – nicht die Kommunisten, sondern die der polnischen nationalen Exil-Regierung in London. Kohlrautz sagte ihm, die Deutschen würden eines Tages dafür büßen, was sie den Juden angetan hatten. Es prägte seine Überzeugung, dass nicht alle Deutschen gleich waren. Wiesenthal lehnte stets die Idee einer Kollektivschuld ab und konzentrierte sich Zeit seines Lebens, die Übeltäter von den Unschuldigen zu trennen. So titelte er seine Erinnerungen später „Recht, nicht Rache.“
Wiesenthal arrangierte Cylas Flucht aus Lemberg nach Warschau, wo sie bis Kriegsende unter falschem Namen lebte. Ende September 1943 empfahl ihm Kohlrautz die Flucht, da das Lager Janowska bald aufgelöst werden sollte und gab ihm Dokumente, um das Lager zu verlassen. Wiesenthal verbrachte mit anderen sieben Monate in der Wohnung von Paulina Busch, für die er Dokumente gefälscht hatte. Er höhlte den Boden aus, damit sie sich zu dritt unter den Dielen verstecken konnten. Am 13.6.1944 wurden sie entdeckt und wieder nach Janowska gebracht, wo er versuchte, sich die Pulsadern aufzuschneiden, um der Folter zu entgehen.
Juden und SS-Männer gemeinsam auf der Flucht
Die Russen standen kurz vor Lemberg und die Nazis waren auf der Flucht. Plötzlich waren die Juden für fliehende SS-Männer ein wertvolles Faustpfand, um dem Frontdienst zu entgehen und als menschliche Schutzschilder zu dienen. SS-Hauptsturmführer Friedrich Warzok zog ihnen Blaumänner an und gab sie als als HiWis aus: 50 Gefangene und 30 SS-Männer, alle mehr darauf erpicht, sich selber zu retten als für den Endsieg zu sterben. Warzok verbot ihnen unter Androhung des Todes, sich als Juden zu Erkennen zu geben, und ließ sie bei Przemyśl sinnlose Verteidigungsanlagen ausheben bis die Rote Armee am 27.7.1944 kam und sie weiter westwärts fliehen mussten.
Sie schliefen in verlassenen Arbeitsbaracken und wurden eine große Truppe von Kriegsobdachlosen, so Wiesenthal laut Segev. „Sie aßen und schliefen zusammen, und klauten Kartoffeln vom Feld, Juden und SS-Männer gemeinsam auf der Flucht. Sie hatten genug zu essen und die SS-Männer teilten ihre Zigaretten und Schnaps mit den Juden. Als sie Wehrmachtsoldaten auf dem Rückzug trafen, wurden sie beschimpft, sie sollten gefälligst an der Front kämpfen, anstatt mit Juden herumzulaufen.“
Er überlegte sich zu fliehen, beschloss aber, dass er bei den SS-Männern besser aufgehoben war. „Unsere Lage war hervorragend“, sagte er, „Sie schimpften uns nicht und schlugen uns nicht.“ Sie wurden nicht einmal bewacht.
Laut Biografin Hella Pick unterhielt sich Wiesenthal mit einem SS-Mann darüber, was er über die KZs sagen würde, falls er eines Tages in die USA kam. Er würde die Wahrheit sagen, so Wiesenthal. „Sie werden dich für verrückt erklären,“ sagte der Mann. „Niemand wird dir glauben“. Wiesenthal beschloss, falls er überleben sollte, dafür zu sorgen, dass man ihm glaubte.
Im September 1944 wurde Warzok und seine Männer von einer Sondereinheit aufgespürt, die Wehrkraftzersetzer jagte, und an die Front geschickt. „Es tat mir Leid für sie“, schrieb er. Warzok selbst wurde Leiter des KZ Neuengamme und verschwand nach dem Krieg. Wiesenthal und seine 33 Kameraden kamen ins berüchtigte KZ Kraków-Płaszów unter Oberst Amon Göth, bekannt aus Spielbergs Schindlers Liste, wo sie Leichen exhumieren und verbrennen mussten, um die Beweise der Gräuel vor den herannahenden Sowjets zu verbergen.
Die „Fallschirmspringer“ von Mauthausen
Als die Russen im Anmarsch waren, gingen Wiesenthal und seine Kollegen davon aus, dass die Nazis sie als Mitwisser töten würden, doch sie wurden nach Groß-Rosen evakuiert, wo 100.000 Gefangene unter abartigen Bedingungen hausten. Wiesenthal musste im Steinbruch arbeiten, wo ihm ein Stein auf den Fuß fiel. Der Arzt amputierte zwei Zehen ohne Narkose mit einer Schere. Im Januar 1945 musste er humpelnd auf einem Besenstil gestützt nach Chemnitz laufen, ein Todesmarsch mit mehreren tausend anderen. Von dort ging es mit dem Zug nach Buchenwald. Unterwegs starben so viele Juden, dass sie die Leichen als Sitzmöbel verwendeten. Die Anwohner hatten sich beschwert, deshalb durften sie die Toten nicht vom Zug werfen.
Von Buchenwald ging es per LKW nach Mauthausen in Oberösterreich, eines der grausamsten KZs der SS. Die Insassen mussten im Steinbruch „Wiener Graben“ arbeiten, die über eine Steintreppe, die „Todesstiege“, mit dem Lager verbunden war. Die 50 Meter hohe, fast senkrechte Felswand oben an der „Todesstiege“ wurde von der SS dazu missbraucht, Häftlinge in den Tod zu stoßen.
„Juden in Mauthausen wurden selten erschossen. Für sie war der ‚Wiener Graben‘ bestimmt. An einem einzigen Tag, am 31. März 1943, wurden vor den Augen Heinrich Himmlers 1.000 niederländische Juden aus einer Höhe von über 50 Metern hinuntergeworfen. Die SS nannte sie ‚Fallschirmspringer‘. Das braune Volk amüsierte sich!“, so Wiesenthal. Am 5.5.1945 wurde Mauthausen von der 11. Panzerdivision der 3. US-Armee befreit. „Die Menschen rannten auf die Panzer zu“, so Wiesenthal. „Doch ich war zu schwach zu laufen. Ich musste auf allen vieren kriechen.“
Wenige Tage nach der Befreiung begann Simon Wiesenthal mit der Arbeit, die ihn den Rest seines Lebens beschäftigen sollten: Er machte eine 8-seitige Liste von beinahe 150 Namen von Nazi-Kriegsverbrechern, die er an den US-Kommandeur in Mauthausen schickte. So begann seine Beziehung zu den Amerikanern, die die Lagerkommandeure von Mauthausen finden wollten. Die Amerikaner waren von seiner Liste und seiner Hingabe beeindruckt und beschäftigten ihn als Dolmetscher. Er lernte rasch Englisch und arbeitete für den Vorläufer der CIA, das Office of Strategic Services OSS, das Ende 1945 aufgelöst wurde.
Zu dieser Zeit gab es 14 Mio. Flüchtlinge in Europa, darunter etwa eine Million Juden. Die meisten flohen vor den Sowjets nach Westen und landeten in Displaced Persons (DP) Lagern im Amerikanischen Sektor.
„Der Vorsitzender der Juden“
Im Frühjahr 1947 lebten 160.000 Juden als Displaced Persons in der US-Zone in Deutschland, weitere 40.000 in Österreich. Manchmal lebten sie in den Nazi-Lagern weiter. Wiesenthal etablierte sich in Linz als Leiter des Judenrates und arbeitete mit den Zionisten zusammen, die Soldaten für den Befreiungskampf in Israel anwarben. Jeder Jude in den Lagern war für ihn ein potenzieller Hinweisgeber bei der Nazijagd.
Er schickte einen Bekannten nach Warschau, um Cyla zu suchen, der einen Aushang in der jüdischen Gemeinde machte. Es meldeten sich gleich drei Damen, die in den Westen wollten und sich alle als Cyla Wiesenthal ausgaben. Der Bekannte wusste nicht, wie Cyla aussah, deshalb wählte er die Hübscheste. Zum Glück die Richtige. „Wenn es nicht die Richtige ist, dann nehme ich sie,“ so der Bekannte.
Simon und Cyla machten eine Liste der Verwandten, die sie verloren hatten, und kamen auf 89. Cylas Mutter war in Butschatsch von einem Polizisten erschossen wurde, weil sie ihm nicht schnell genug lief. Trotzdem waren Cyla und Simon überglücklich, wiedervereint zu sein. Ein Jahr später kam ihre Tochter Paulinka auf die Welt.
Wiesenthal druckte sich Visitenkarten, auf denen „Vorsitzender des österreichischen Verbandes der jüdischen KZ-Insassen“ stand, und fuhr 1946 auf den Zionistischen Kongress nach Basel, wo er den Anwalt und Lehrer Avraham Silberschein aus Butschtsch überzeugte, sein „Dokumentationszentrum“ zu finanzieren.
Er und Cyla spielten mit dem Gedanken, Alija zu machen, bleiben aber in Österreich, wo sie sich zuhause fühlten. In Israel gebe es schließlich keine Nazis oder Antisemiten zu jagen, sagte er, was soll er also da?
Die Jagd auf Adolf Eichmann
Simon Wiesenthal hörte im Juli 1945 zum ersten Mal von einem Offizier der Jewish Brigade der britischen Armee von Adolf Eichmann, der seit der Wannsee-Konferenz Hauptverantwortlich für die „Endlösung“ war. In Linz erfuhr er, dass Eichmanns Eltern dort ein Elektrogeschäft hatten. „Eines Abends“, als er in seiner Wohnung in Linz über seinen Listen saß „kam die Vermieterin, Frau Sturm herein und schaute mir wie gewohnt über die Schulter: „Eichmann“, sagte sie. „Das muss der SS-General Eichmann sein, der die Juden kommandiert hat. Wussten Sie, daß seine Eltern hier in der Straße wohnen, nur ein paar Häuser weiter auf der Nummer 32?“ So begann Wiesenthals Jagd auf Adolf Eichmann.
„Eichmanns Fehler war sein Familiensinn“, schrieb Wiesenthal. „Er wollte die Verbindung zu seiner Frau aufrechterhalten, er wollte an Familienfeierlichkeiten teilnehmen, er wollte seine Kinder bei sich haben. Schließlich war er ein ganz und gar bürgerlicher, ganz und gar normaler, man könnte fast sagen sozial angepasster Mensch. Dass er den Tod von sechs Millionen Juden auf dem Gewissen hatte, resultierte nicht aus seinem kriminellen Charakter, sondern ganz im Gegenteil aus seiner Bereitschaft, in einer gemeinsamen Aufgabe aufzugehen, ihr mit seinem ganzen Talent und seinem ganzen Fleiß zu dienen: Er hätte auch sechs Millionen Zigeuner vergasen lassen, wenn es so viele gegeben hätte. Oder sechs Millionen Linkshänder.“
Wiesenthal machte Eichmanns Frau Veronika in Altaussee ausfindig, die behauptete, ihren Mann seit dem Krieg nicht gesehen zu haben. So gelangte Eichmann auf die österreichische Fahndungsliste, so Wiesenthal, „und langsam kristallisierte sich heraus, welche Bedeutung ihm zukam… Es wurde klar, dass die Befehle zur Deportation von ihm ausgegangen waren, und dass er der Hauptverantwortliche für das Funktionieren der Vernichtungsmaschinerie gewesen war.“ Wiesenthals Mitarbeiter Manus Diamant trieb ein Foto des Gesuchten auf. Nun hatte Eichmann ein Gesicht. Ende 1947 vereitelte Wiesenthal Veronika Eichmanns Versuch, ihren Mann für tot erklären zu lassen. „Dieser unspektakuläre Schritt war wahrscheinlich mein wichtigster Beitrag zum Fall Eichmann“, so Wiesenthal. „Dort, wo ich vielleicht ein ’Jäger‘ hätte sein können, habe ich eher versagt.“
Ende 1949 erfuhr Wiesenthal von einem österreichischen Polizisten, dass Eichmann seine Familie über Weihnachten besuchen wollte, und lud ihn ein, bei der Verhaftung dabei zu sein. Ein junger israelischer Agent schloss sich an, verplapperte sich aber in der Wirtschaft beim Biertrinken mit den Dorfschönheiten. Rasch wusste ganz Altaussee, dass ein „Kommando des israelischen Geheimdienstes“ im Dorf war. Eichmann verschwand. Bald darauf seine Frau und Kinder auch.
1953 erhielt Wiesenthal vom österreichischen Polizisten Valentin Tarra den Tipp, dass Veronika Eichmann in Südamerika sei „wo ihr Mann bei den Wasserwerken arbeitet.“ Wiesenthal informierte am 24.3.1953 den israelischen Botschafter in Wien, dass Eichmann in Argentinien sei. Erst Jahre später musste Wiesenthal erstaunt feststellen, dass diese wichtige Info beim Mossad lediglich zu den Akten gelegt wurde. Israel hatte ums Überleben zu kämpfen, niemand interessierte sich für flüchtige Nazis.
Und Wiesenthals anderer Auftraggeber, die CIA, war unter der Leitung von Allan Dulles eher damit beschäftigt, Nazis wie SS-General Karl Wolff und Generalmajor Reinhard Gehlen für den Kalten Krieg zu rehabilitieren, dessen Organisation Gehlen 1956 zum Bundesnachrichtendienst umbenannt wurde. „Die dümmsten Nazis waren die, die sich am Ende des Dritten Reichs umgebracht haben“, so Wiesenthal, da sie im Kalten Krieg im Dienste der CIA ein bequemes Leben hätten haben können. Wiesenthal gab frustriet auf. Er schloss sein Dokumentationszentrum in Linz 1953 und schickte es nach Yad Vashem. Er schätzte, dass er in acht Jahren zur Verhaftung von 800 Kriegsverbrechern beigetragen hatte.
Er dauerte bis zum 11.5.1960, bis zwei Mossad-Agenten Adolf Eichmann in der Garibaldi-Straße in Buenos Aires in ein Auto packten und nach Tel Aviv flogen, wo er im bis dato größten KZ-Verbrecherprozess zum Tode verurteilt werden sollte. Am 24.5. erhielt Simon Wiesenthal von Yad Vashem ein Telegramm: Herzlichen Glückwunsch zu der gut gemachten Arbeit. Noch nie hat ihn etwas so glücklich gemacht, sagte Wiesenthal.
Literatur:
Simon Wiesenthal: Recht, nicht Rache - Erinnerungen, Ullstein, 1988
Hella Pick: Simon Wiesenthal, Rowohlt, 1997
Tom Segev: Simon Wiesenthal – Die Biografie, Pantheon, 2012
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