Vor 50 Jahren begann am 6. Oktober 1973 der Yom-Kippur-Krieg: Die Rolle der USA und das Täuschungsmanöver der Araber

Auf einem Foto, das kurz nach dem Jom-Kippur-Krieg im Sinai aufgenommen wurde, betet ein israelischer Soldat mit vier Arten biblischer Pflanzen für seine gefallenen Kameraden.© AFP ARCHIVES / AFP

Der Überraschungsangriff der Araber am Yom-Kippur-Tag 1973 nährt seit 50 Jahren die Ansicht vieler Historiker, dass die damalige israelische Premierministerin Golda Meir und ihr Verteidigungsminister Moshe Dayan vom Angriff der Araber unvorbereitet überrumpelt worden seien. Allerdings gibt es auch Thesen, wie die des israelischen Geschichtswissenschaftlers Yigal Kipnis, die die Ansicht vertreten, dass die USA damals zu Gunsten ihrer pro-arabischen Politik unbedingt einen Kriegsgang Israels gegen die wiederaufgeflammte Aggression der den jüdischen Staat umgebenden arabischen Länder verhindern wollten. Besonders der damalige US-Außenminister Henry Kissinger bestand darauf, dass Israel auf die militärischen Bewegungen an der Grenze keinesfalls mit einem Präventivschlag wie seinerzeit sehr erfolgreich im Sechs-Tage-Krieg 1967 reagieren dürfe. In diesem Zusammenhang wurde Israel wohl auch mit dem Wissen Kissingers falsch über den Zeitpunkt des sich erkennbar anbahnenden Angriffs der Araber getäuscht. Die israelische Führung hat trotz dieser Täuschung und trotz des von ihren Feinden mit Vorsatz gewählten Yom-Kippur-Tages schnell und effektiv auf den Hinterhalt reagiert. Ohne den Mut, die Professionalität und das militärische Können der damaligen israelischen Führung und des Militärs hätte es keinen Sieg in diesem perfiden Krieg gegeben und die Existenz Israels und seiner Menschen wäre in Frage gestellt worden. Im Gegensatz zu dem heutigen Geschehen in der Ukraine gehörte Deutschland, trotz seiner geschichtlichen Vorbelastung jedenfalls damals nicht zu den Ländern, die bereit waren, dem Staat der Juden in seiner Schicksalsstunde zu helfen. (JR)

Von Peter Luckimson

Jahrzehntelang wurde den Israelis weißgemacht, die schweren Verluste und der erzwungene Rückzug in den ersten Kriegstagen seien darauf zurückzuführen, dass der arabische Angriff plötzlich erfolgte und die Armee überrumpelt wurde. Der Leiter des militärischen Nachrichtendienstes überzeugte Golda Meir angeblich davon, dass die Araber den Krieg 1973 nicht beginnen würden, obwohl der Leiter des "Mossad" Zvi Zamir eine Nachricht des ägyptischen Agenten Ashraf Marwan mit dem genauen Datum des Kriegsbeginns erhielt.

Der israelische Historiker Yigal Kipnis vertritt jedoch die Auffassung, dass diese und ähnliche Behauptungen nichts weiter als von Journalisten und Politikern erfundene Mythen sind. In seinem 2012 erschienenen Buch "1973: The Road to War" vertrat er die Ansicht, dass die Komplikationen im Oktober 1973 nicht in den Fehlern des Militärs und der Geheimdienste zu suchen seien, sondern in der Politik. Er untermauerte seine Ansicht mit Dutzenden von Dokumenten, die bisher nur einigen wenigen bekannt waren. Die neuen Dokumente, die er entdeckte und die laut dem Historiker als "streng geheim" bezeichnet werden, bestätigen seine Sicht der Dinge.

Alles begann, als Präsident Anwar Sadat den Amerikanern deutlich machte, dass er die sowjetische Schirmherrschaft aufgeben und einen Kurs der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten einschlagen wolle. 1972 begann Sadat, diesen Plan in die Tat umzusetzen und verwies die sowjetischen Militärberater des Landes. Und Anfang 1973 wandte er sich an Henry Kissinger, den damaligen nationalen Sicherheitsberater des US-Präsidenten, mit dem Vorschlag, zwischen Ägypten und Israel zu vermitteln. Gleichzeitig warnte Sadat, dass er nur einem vollständigen Rückzug Israels auf die Linie von 1967 zustimmen würde, aber bereit sei, die israelische Armee in der Pufferzone kasernieren zu lassen.

Das Interesse der USA an einer solchen Wendung der Ereignisse war klar, und Kissinger war von der Idee fasziniert. In aller Eile verfasste er ein Memo an Präsident Nixon und Außenminister Rogers, in dem er die grandiosen Aussichten für den Fall beschrieb, dass die USA in ihrer Rolle als Friedensstifter Erfolg hätten. Kissinger wurde im Mai 1973 Leiter des Außenministeriums und begann sofort mit der Umsetzung seiner Strategie. Er plante ein Zusammenkommen der Ägypter und Israelis vor Ende des Jahres wo Moshe Dayan am 8. Dezember in Washington mit einem der ägyptischen Minister zusammentreffen und die Verhandlungen in eine offene Phase übergehen sollten. Doch in der Aufregung vergaß der neue Außenminister, nach einer "Kleinigkeit" zu fragen: der Meinung der israelischen Führung.

 

Keine territorialen Zugeständnisse

Kissinger machte zunächst den israelischen Botschafter in den USA, Yitzhak Rabin, mit seinem Plan und den Forderungen von Sadat vertraut. Dieser unterstützte den Plan und versprach, ihn Golda Meir gegenüber positiv darzustellen. Wie groß war Kissingers Überraschung, als Rabin einige Tage später die Antwort von Golda Meir übermittelte: Sie sei zwar für den Frieden, aber territoriale Zugeständnisse gehörten nicht zu ihren Plänen. Schon allein deshalb, weil Sadat jetzt mehr an einem Frieden mit Israel interessiert sei als umgekehrt, außerdem glaube sie nicht an die Bereitschaft der Araber, den Vertrag einzuhalten.

Nach dem Gespräch mit Rabin wendet sich Kissinger an Golda Meir, in der Hoffnung, sie umzustimmen. "Frau Meir", sagte er. - Der ganze Trick besteht darin, dass Sie sich formell aus dem Sinai zurückziehen werden. Sadat braucht das, um sein Gesicht vor der arabischen Welt zu wahren. Aber in Wirklichkeit werden Sie weiterhin dort sein!"

Golda versprach, darüber nachzudenken, und übermittelte bald eine neue Antwort: Israel könne die Möglichkeit eines Rückzugs aus zwei Dritteln des Sinai im Austausch für einen umfassenden Frieden prüfen, aber ein Rückzug von der gesamten Halbinsel komme nicht in Frage.

 

Kissinger übte Druck auf

So blieb Golda Meir nichts anderes übrig, als zumindest bis zu den Wahlen auf die Bremse zu treten. Sadat verstand dies sehr gut und begann parallel zum Dialog mit den Amerikanern, die Armee an die Grenze zu verlegen. Dies wurde natürlich von den Israelis bemerkt, und Rabin übergab Kissinger eine Botschaft von Golda Meir: Wenn Ägypten sich weiterhin auf einen Krieg vorbereite, würde Israel gezwungen sein, einen Präventivschlag zu führen.

Es lag der Geruch eines neuen Krieges im Nahen Osten in der Luft, was dem frischgebackenen US-Außenminister nicht passte. Kissinger versicherte Golda Meir nicht nur, dass die Ägypter zumindest bis Ende 1973 keinen Angriff starten würden, sondern bat sie auch um ihr Wort, dass Israel nicht zuerst Ägypten oder Syrien angreifen würde. Außerdem würde es nicht mit der Einberufung von Reservisten beginnen oder die Armee an den Grenzen zusammenziehen, selbst wenn es den Anschein hätte, dass der Krieg in fünf Minuten ausbrechen würde. Golda war mit dieser Bedingung nicht zufrieden. Sie machte dies in einem Gespräch mit Verteidigungsminister Moshe Dayan und seinem Stellvertreter Yigal Allon deutlich und fügte hinzu, dass wahre Freunde keine solchen Bedingungen stellen.

Am nächsten Tag übermittelte Dayan das Ergebnis des Gesprächs an die Mitglieder des IDF-Generalstabs. "Meine Herren, ich habe einige wichtige Neuigkeiten für Sie", sagte er. - Die erste ist, dass ein neuer Krieg vor Ende des Jahres fast unvermeidlich ist. Die zweite ist, dass der Krieg von Ägypten und Syrien angezettelt werden wird. Drittens: Jordanien wird sich nicht an diesem Krieg beteiligen. Viertens - wie gesagt, der Krieg wird von den Arabern angezettelt werden, und wir haben kein Recht, einen Präventivschlag zu führen, selbst wenn wir sehen, dass Waffen auf uns gerichtet sind. Wir reagieren erst, wenn die ersten Schüsse abgefeuert werden. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns nicht auf einen Krieg vorbereiten sollten. Im Gegenteil, als Antwort auf die ersten Salven müssen wir dem Feind einen vernichtenden Schlag versetzen."

 

Armee war vorbereitet

Diese Worte Dayans widerlegen Versionen, wonach der arabische Angriff die IDF überrascht habe. Fünf Monate lang hatte sich die israelische Armee auf den Krieg vorbereitet. Dies erklärt, warum die Reserven am Tag von Yom Kippur so schnell mobilisiert wurden und Panzer, Artillerie und Infanterie bereits in den ersten Stunden des Krieges an die ägyptische Grenze verlegt wurden. Die Armee war auf den Krieg vorbereitet und hat im Allgemeinen gut gekämpft - ohne sie hätte Israel einfach nicht überlebt.

Aber warum wurden dann die ersten Kriegstage zu einem Alptraum und stürzten Moshe Dayan und Golda Meir in solche Panik? Und stimmt es nicht, dass der Chef des Mossad, Zvi Zamir, von seinem Agenten das genaue Datum des Kriegsbeginns erfuhr und dass der Leiter des militärischen Geheimdienstes AMAN, Eli Zeira, Golda davon überzeugte, dass es in naher Zukunft keinen Krieg geben würde?

Das stimmt nicht, antwortet Kipnis. Zumindest nicht ganz. Zeira sagte nicht, dass es überhaupt keinen Krieg geben würde, sondern schätzte die Wahrscheinlichkeit eines solchen als äußerst gering ein: Sadat wolle vielmehr die Muskeln spielen lassen, um Israel zu Verhandlungen zu zwingen. Aber selbst wenn es zu einem Krieg käme, war es für Sadat nicht wichtig, Israel zu besiegen und den gesamten Sinai zu befreien, sondern einen vorzeigbaren Erfolg zu erzielen, was bedeutete, dass der Krieg begrenzt sein würde. Diese Ansicht wurde von Yitzhak Rabin, Yigal Allon und Moshe Dayan geteilt - drei renommierten Generälen, und Golda Meir verließ sich auf die Autorität dieser erfahrenen Fachleute.

Im Prinzip entlasten diese Informationen die israelische Militärführung endgültig von dem Vorwurf, dass sie etwas nicht vorhergesehen oder sich nicht vorbereitet hat. Heute ist bereits bekannt, dass auch der Durchbruch von Sharons Brigade durch den Suezkanal keine Improvisation war, sondern zum Gesamtplan der Kampagne gehörte.

Es bleibt die Frage, warum der Ausbruch des Krieges für das Oberkommando und die Feldoffiziere unerwartet kam, insbesondere angesichts des Berichts von Ashraf Marwan. Tatsache ist, dass Marwan als Schwiegersohn Nassers und Kumpan Sadats zunächst ein Doppelagent war und Zvi Zamir mit viel Geld aus Israel an der Nase herumgeführt hat. Er nannte zwar das genaue Datum des Kriegsbeginns, aber er tat es ... ein paar Stunden vor Yom Kipuur. Marwan sagte, der Krieg würde am Abend des 6. Oktober beginnen, aber er begann am Morgen. Die Ägypter hingegen wussten es schon am 3. Oktober: Die Juden würden denken, dass sie am Abend angegriffen werden würden. Diese zehnstündige Lücke erklärt vieles, und sie war der Grund für das Chaos an den Fronten am ersten Tag des Krieges.

Heute kann man darüber diskutieren, ob es richtig war, dass Golda Meir die Angebote Sadats damals abgelehnt hat. Wir können auch über das Verhalten von Moshe Dayan und Yigal Allon streiten, die Kissingers Plan hinter Goldas Rücken unterstützten. Und gleichzeitig eine weitere Diskussion darüber führen, wie sehr sich Israel auf die USA und ihre Führer verlassen kann. Aber es ist an der Zeit, sich von einigen der Mythen zu verabschieden, die die damalige militärische Führung diskreditieren. Ohne ihren Mut, ihre Professionalität und ihr militärisches Talent hätte es keinen Sieg in diesem Krieg gegeben.

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