Und ewig grüßt der jüdische Sündenbock – das Feindbild Rothschild

Warum steht ausgerechnet die jüdische Familie der Rothschilds, aber nicht die nicht-jüdischen Quandts, Albrechts oder Fuggers im Zentrum von Missgunst und Weltverschwörungstheorien?

Porträt des Jakob Fugger, Albrecht Dürer (um 1519)

Von Kristof Benninger

Entfesselte Finanzmärkte, korrupte Eliten und geheime Absprachen hinter verschlossenen Türen – so in etwa stellen sich bestimmte Kreise die Welt einer dubiosen Hochfinanz vor, zu der aus deren Sicht auch die Familie Rothschild zählen soll. Doch warum muss ausgerechnet immer genau diese eine Familie als Paradebeispiel für mutmaßliche Intrigen und Verschwörungen in der Politik und Finanzwelt herhalten?

Antisemitische Vorurteile und Ressentiments haben im Laufe der Geschichte sowohl stereotype Vorstellungen vom äußeren Erscheinungsbild jüdischer Mitbürger geprägt – man denke nur an die Darstellungen im Dritten Reich – als auch von deren charakterlichen Eigenschaften. Dem Juden haftet unter (Neo-)Nazis, Islamisten, christlichen Fundamentalisten und Verschwörungstheoretikern das Image an, hinterlistig und gerissen zu sein. Aus diesem Grund wähnen alte und neue Antisemiten den Juden als Archetyp des kaltschnäuzigen und abgezockten Spekulanten und Finanzjongleurs.

Dabei bleibt es aber nicht. Als mit allen Wassern gewaschener Intrigant geht er noch weiter. Er verbündet sich mit seinesgleichen und schmiedet Verschwörungen aller Art: Finanzkrisen, den 11. September, Pest und Cholera – all das wird in antisemitischen Kreisen mit dem Vorhaben des „Weltjudentums“ in Verbindung gebracht, eine neue Weltordnung zu schaffen. Aus den Ressentiments entstanden krude Verschwörungstheorien und Mythen, die Hass, Ablehnung, Ausgrenzung und Schlimmeres zur Folge hatten.

Wenn es um die Rolle des Judentums in der internationalen Politik und Finanzwelt geht, wird recht schnell die „ominöse“ Familie Rothschild exemplarisch als Musterbeispiel für konspirative Verkommenheit herangezogen. Seit jeher ranken sich Verschwörungstheorien um die Rothschilds: Sie sollen das Finanzsystem kontrollieren, die wahren Strippenzieher der Schoah sein, Wetterkatastrophen steuern können. Doch welche Personen und Geschichte verbirgt sich hinter dem Etikett „Rothschild“?

Die Grundsteinlegung für den Erfolg der jüdischen Großfamilie reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Die Wurzeln der Rothschilds liegen in Frankfurt am Main. Dort legten sie einen fast beispiellosen Aufstieg aus dem Ghetto in die internationale Bankenwelt hin. Und das obwohl schon damals, lange vor dem Aufstieg der Nationalsozialisten, Juden gesellschaftlich stark diskriminiert wurden. So durften die Rothschilds damals ihr Frankfurter Ghetto nur zu bestimmten Uhrzeiten verlassen. Außerdem war ihnen – wie allen Juden – die Ausübung eines Handwerks untersagt.

 

Staatsanleihen

Möglicherweise lag genau in dieser beruflichen Diskriminierung der Grund dafür, warum sich viele Juden zwangsweise in anderen Berufszweigen probieren mussten, so auch in der Finanzbranche, die unter allen Alternativen noch am aussichtsreichsten erschien. Dieser berufliche Pfad sollte sich für die Rothschilds jedoch als Glücksfall entpuppen.

Besonders die Idee von Staatsanleihen erwies sich nämlich als einträglich. Damit ermöglichte es Mayer Amschel Rothschild, der Begründer der Rothschild-Dynastie, dass wohlhabende Bürger den Staaten Kredite gewähren konnten. Dafür erhielten die Inhaber der Staatsanleihe jedes Jahr einen festgelegten Zinsbetrag und am Ende der Laufzeit die gewährte Kreditsumme wieder vollständig zurück.

Später stiegen Mayer Amschels Söhne in das Geschäft ein. Einer der Brüder, Nathan Mayer Rothschild, immigriert ohne Englischkenntnisse – dafür aber vom Vater mit reichlich Kapital ausgestattet – nach England. Ihm gelang es, in London eine Niederlassung zu gründen. Sein Bruder Jakob wiederum eröffnete 1811 im Alter von gerade mal 20 Jahren eine weitere Niederlassung in Paris. Die anderen Brüder taten es Nathan und Jakob mit Gründungen in Wien und Neapel gleich. Letztlich entstand somit ein europäisches Bankenkonsortium, das sich im Krisenfall gegenseitig mit Kapital versorgte.

Doch der rasante Aufstieg hatte seinen Preis: Die Rothschilds wurden zum Opfer antisemitischer Anfeindungen, da ihr Erfolg in den Augen vieler ein Beleg dafür war, dass Juden geldgierige Abzocker seien. Das Imperium der Rothschilds hatte somit zwar keine neuen antisemitischen Vorurteile begründet, aber offensichtlich war es Wasser auf die Mühlen all derer, die bereits eine tiefsitzende Skepsis gegenüber dem jüdischen Teil der Bevölkerung besaßen und entsprechende Vorurteile verinnerlicht hatten.

Auch heutzutage verfügen die Rothschilds noch über ein beträchtliches Vermögen. Geblieben ist u.a. eine börsennotierte Finanzholding, die unter dem Namen „Rothschild & Co“ firmiert und im Bereich der Finanzberatung und Vermögensverwaltung tätig ist. Neben dem Geld haben allerdings leider auch antisemitische Ressentiments und Verschwörungsmärchen die Zeit überdauert.

Die Rothschilds sind nach wie vor unverzichtbarer Bestandteil einer wie auch immer gearteten „jüdischen Weltverschwörung“. Dabei lässt sich mittlerweile kaum noch ein einheitliches Familienbild der Rothschilds zeichnen, da die verschiedenen Familienzweige kreuz und quer über die gesamte Welt verteilt sind.

Antisemiten und „Israelkritikern“ dürfte das egal sein. Ebenso wie eine weitere interessante Tatsache: Gemäß der 2020 veröffentlichten Liste „The World’s Richest Families“ des Wirtschaftsjournals Bloomberg befindet sich unter den 25 reichsten Familien der Welt keine einzige jüdische – nicht einmal die Rothschilds. Stattdessen tummeln sich dort u.a. die saudische Königsfamilie, die deutschen Unternehmerfamilien Albrecht (Aldi) und Quandt (u.a. beteiligt an BMW) sowie Familien aus den USA, Indien, Frankreich, Schweden, Thailand, Italien und Südkorea.

 

Das Weltranking der Superreichen

Wenn man sich vor Augen hält, dass weder die Rothschilds noch irgendeine andere jüdische Familie im Weltranking der Superreichen mithalten kann, dann mutet es umso seltsamer an, dass bezüglich der Beeinflussung von Politik und Wirtschaft ausgerechnet immer wieder der Name „Rothschild“ fällt. Wurde jemals darüber spekuliert, ob die Albrecht-Brüder die Preise für Lebensmittel manipulieren? Waren die Quandts irgendwann einmal Bestandteil einer Verschwörungstheorie zur Beeinflussung der deutschen Politik? Fehlanzeige!

Selbst um eine totalitäre Organisation wie Scientology, die bekanntermaßen sowohl über ausreichend Einfluss als auch entsprechende Finanzmittel verfügt, und zudem in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird, wurde nie ein ansatzweise aufwendiges Verschwörungsfantasiekonstrukt aufgebaut. Das dem so ist, lässt sich einzig und allein auf eine Tatsache reduzieren: Keiner dieser Familien oder Gruppierungen ist jüdisch. Und genau aus diesem Grund ist die Erwähnung der Rothschilds im Zusammenhang mit etwaigen Verschwörungen und Finanzkrisen hochgradig antisemitisch.

Es geht nicht darum, dass es einen Einfluss auf die Politik gibt oder eben nicht. Es geht um den penetranten Fokus auf die Rothschilds, der antijüdische Ressentiments permanent am Leben hält. Würde sich der Blick auf die Machenschaften und Beziehungen der Waltons, Albrechts, Quandts, Ferreros, Kwoks und Lees mit gleicher Intensität wie im Falle der Rothschilds richten, dann müsste man wahrscheinlich das Narrativ des „geldgierigen“ und „gerissenen“ Juden auf viele andere Bevölkerungsgruppen ausweiten: Christen, Buddhisten, Hindus, Moslems usw.

Am Ende blieben nicht mehr viele Gruppen übrig, auf welche die genannten Attribute keine Anwendung fänden. Dann wären allenfalls noch ein paar altruistische Schintoisten und naturverbundene Schamanen über jeden Verdacht erhaben, „gierig“ und „konspirativ“ zu sein.

Sollte es in der Tat Familienclans geben, die über genügend Geld verfügen, um Politiker und Wirtschaftsgrößen zu korrumpieren und Gesetze nach eigenem Wohlgefallen anzupassen, dann muss eins klar werden: Dieses Verhalten ist weniger auf die Traditionen einer bestimmten Religionsgemeinschaft zurückzuführen, sondern viel eher auf das Wesen des Menschen an sich.

Und genauso wie der Mensch, der zu Einfluss, Macht und Vermögen gekommen ist, all dies mehren und behalten möchte, neigt der Mensch am anderen Ende der Skala dazu, den anderen ihren Erfolg zu neiden. Dies findet dann entweder Ausdruck in wilden Verschwörungstheorien oder auch in sozialistischer und antikapitalistischer Propaganda.

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