Das Unwort des Jahres 2019: „Polizeibekannt“
Die islamischen Messer-Attentate in West-Europa reißen nicht ab. Auch der Täter vom 2. Februar 2020 (London) war nicht nur polizeibekannt, sondern vor seinen lebensgefährlichen Angriffen in Haft – aus der er vorzeitig entlassen worden war.
Saskia Jones und Jack Merritt, die Opfer des Terroranschlags vom 29. November 2019 in der Nähe der London Bridge, setzten sich für die Resozialisierung von Häftlingen ein – auch für die ihres späteren Mörders.© Handout / AFP / METROPOLITAN POLICE
Der Terrorismus radikaler Muslime in Westeuropa und den USA ähnelt mehr und mehr demjenigen in Israel, sowohl was die Frequenz von Anschlägen betrifft als auch die Mittel.
Eine Art des urbanen Terrors, die immer häufiger wird, sind wahllose Messerangriffe im öffentlichen Raum. Einige Beispiele aus den ersten Tagen des Jahres 2020:
5. Januar 2020, Villejuif bei Paris: Ein Islamkonvertit sticht in einem Park auf mehrere Menschen mit einem Messer ein und ruft dabei „Allahu Akbar“ („Allah ist größer“). Ein Mann, der seine Ehefrau schützen will, wird dabei tödlich verwundet. Zwei Frauen erleiden lebensbedrohliche Verletzungen.
6. Januar 2020, Gelsenkirchen: Ein 37-jähriger Türke greift zwei Polizisten mit einem Knüppel und einem Messer an und wird erschossen. Die Staatsanwaltschaft will von Terrorismus nichts wissen, sondern spricht stattdessen von „Hinweisen auf eine psychische Erkrankung des Verdächtigen“. Gleichwohl wird bekannt, dass der Staatsschutz auf ihn aufmerksam geworden war und ihn als „Prüffall Islamismus“ führte.
7. Januar 2020, Metz: In der nordostfranzösischen Stadt „schwingt“ ein Mann laut der Nachrichtenagentur AFP ein Messer und ruft „Allahu Akbar“. Als die Polizei eintrifft, bedroht er die Beamten. Die Polizisten schießen daraufhin auf den Mann. Dieser wird verletzt, allerdings nicht lebensgefährlich.
8. Januar 2020, March/Cambridgeshire, Großbritannien: Im Hochsicherheitsgefängnis Whitemoor stechen zwei Insassen auf Gefängnisbeamte ein. Die Täter tragen Bombengürtelattrappen. Ein Wärter erleidet Verletzungen an Kopf, Gesicht und Brust. Er und vier weitere werden in ein Krankenhaus eingeliefert, aber bald darauf entlassen. Scotland Yard bestätigt, dass es sich um einen Terroranschlag handelt. Einer der Täter ist Brusthom Ziamani, der 2015 wegen der versuchten Enthauptung eines Soldaten verurteilt worden war. Er gilt als ein Anhänger des radikalen Predigers Anjem Choudary. Bei dem anderen Täter handelt es sich um einen Islamkonvertiten, der wegen Gewaltverbrechen verurteilt worden ist.
Vorgetäuschte Reue
Ein häufiges Merkmal bei Terroranschlägen radikaler Muslime in Westeuropa ist: Der Täter war den Behörden bereits vor der Tat bekannt. Der 28-jährige Usman Khan, der im November 2019 den Messeranschlag auf der London Bridge (nicht der erste derartige Vorfall dort) verübte – er griff Passanten an und tötete zwei Menschen, eher er durch das mutige Eingreifen von Bürgern gestoppt werden konnte – war rund ein Jahr zuvor vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Er war 2012 verurteilt worden, weil er zu einer Bande von neun Extremisten gehört hatte, die allesamt britische Staatsbürger pakistanischer oder bengalischer Herkunft waren. Der damals 19-jährige Khan hatte geplant, auf einem Grundstück in Kaschmir, das seiner Familie gehört, ein militärisches Ausbildungslager für Terroristen aufzubauen und einen Terroranschlag auf die Londoner Börse vorzubereiten.
Weil er gemeinsam mit zwei anderen der Rädelsführer gewesen war – ein „ernsterer Dschihadist als die anderen“, so der Richter – sollte er laut dem Urteil erst aus der Haft entlassen werden, wenn von ihm keine Gefahr mehr ausgeht. Diesen Eindruck konnte er in der Haft offenbar vermitteln bzw. vortäuschen, was die Frage aufwirft, was es wert ist, wenn Gutacher oder Gefängnispsychologen einem Dschihadisten einen Sinneswandel bescheinigen.
Khans langjähriger Rechtsanwalt Vajahat Sharif äußerte sich gegenüber dem amerikanischen Nachrichtensender CNN „völlig schockiert“ darüber, dass sein Mandant die Morde auf der London Bridge verübt hat – dem Anschein nach hatte Khan sich von Radikalismus distanziert. Sharif sagt, er habe begonnen, Khan zu vertreten, als er 2010 angeklagt wurde. Khan sei zu dieser Zeit ein Teenager gewesen. „Ich hatte nicht das Gefühl, dass er die Ideologie, der er folgte, nicht mit der nötigen Gründlichkeit verstand, und ich wollte nicht, dass sie zu seinem Leben wurde“, sagte Sharif. Ein von CNN veröffentlichter Brief zeigt, dass Khan 2012 aus dem Gefängnis schrieb und um Teilnahme an einem Deradikalisierungskurs bat. Sharif bestätigt, dass sein Team Khan zum Schreiben dieses Briefes geraten habe, in der Hoffnung, dass er sich mit einem „spezialisierten Interventionsberater“ treffen könne, der sich auf die Rehabilitation von Personen konzentriere, die wegen terroristischer Straftaten verurteilt wurden. In dem Brief schreibt Khan:
„Sie wissen von meiner Straftat, einer Terrorstraftat. Sie hat mehr mit den Absichten und der Geisteshaltung zu tun, die ich zu der damaligen Zeit hatte, auch mit meinen damaligen Ansichten. Von denen ich nun, nachdem ich einige Zeit darüber nachgedacht habe, begriffen habe, dass sie nicht im Einklang mit dem Islam und seinen Lehren sind.“
Gegenüber CNN sagte Sharif, dass die vom Gefängnis erlassenen Beschränkungen seinen Mandanten damals daran gehindert hätten, dieses „Reha-Programm“ wahrzunehmen. Dennoch wurde Khan im Dezember 2018 auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen. Er habe ihn kurz vorher noch getroffen, so Sharif, und keinen Anlass zur Sorge gehabt: „Er hat nicht über Politik geredet. Er hat nicht über Dschihad geredet. Er hat positiv geredet.“
Angesichts hunderter Dschihadisten, die derzeit in Europa inhaftiert sind, aber demnächst entlassen werden, zeige der Fall die Risiken, schreiben die beiden Terrorismusexperten Paul Cruickshank und Tim Lister in einem Beitrag für CNN:
„Das ist der Kern des Dilemmas für Behörden: Welches Ereignis oder Ereignis könnte einen ehemaligen Gefangenen radikalisieren? Und wen überwachen sie? Wer sollte für eine vorzeitige Freilassung in Frage kommen?“
Um eine potenziell gefährliche Person rund um die Uhr zu überwachsen, seien etwa 20 Beamte nötig, so die Autoren. Bei 100 Personen bräuchte man also schon 2.000 Beamte, was zeigt, dass eine solche Überwachung entlassener Dschihadisten nur in wenigen Ausnahmefällen überhaupt denkbar ist.
Welche Gefahr von aus der Haft entlassenen Dschihadisten ausgeht, zeigt auch der Fall von Khans Mitverschwörer Mohibur Rahman. Dieser war vorzeitig freigelassen worden, nachdem er sich für ein Deradikalisierungsprogramm beworben hatte. Er wurde jedoch im August 2017 erneut festgenommen, weil er mit zwei anderen Männern einen Großanschlag auf die Polizei oder ein militärisches Ziel geplant hatte. Bei Rahmans Komlizen Naweed Ali fand die Polizei eine Rohrbombe und ein Fleischerbeil mit dem arabischen Wort für „Ungläubiger“ darauf. Die Staatsanwaltschaft teilte mit, das Trio habe Nachrichten ausgetauscht, die einen „Handlungswillen“ auslösten, und Rahman selbst habe am Computer nach „Liquid Bomb Plot“ (Anschlag mit Flüssigsprengstoff; S.F.) gesucht. Das Trio, das als „Die drei Musketiere“ bezeichnet wurde, hatte sich im Gefängnis kennen gelernt und war nach Angaben der Polizei vom Islamischen Staat inspiriert. Der Richter sagte, die Männer hätten einen Terroranschlag geplant, der „einen erheblichen Verlust an Leben“ zur Folge gehabt, wenn die Behörden ihn nicht vereitelt hätten. Diesmal wurde Rahman zu einer Mindeststrafe von 20 Jahren verurteilt.
Die Deradikalisierungs-Programme taugen nichts
Ministerpräsident Boris Johnson machte Gesetzesänderungen unter der Labour-Regierung des ehemaligen Premierministers Gordon Brown für Khans Freiheilassung verantwortlich und sagte, es sei „lächerlich und abstoßend“, dass Khan nach der Hälfte seiner Haftstrafe automatisch freigelassen wurde. Jeremy Corbyn, Vorsitzender der Labour Party und Johnson-Gegner bei den bevorstehenden Wahlen, erklärte jedoch, es sei „nicht unbedingt“ richtig, dass verurteilte Extremisten ihre volle Strafe absitzen müssten.
Ely Karmon vom International Institute for Counter-Terrorism (ITC) in Herzliya, Israel, hat in einem Beitrag untersucht, welche Faktoren Khans Terroristenkarriere begünstigt haben und was ihn hätte aufhalten können. Er zitiert zwei Kollegen, die grundsätzliche Zweifel an sogenannten „Deradikalisierungsprogrammen“ haben. Kyle Orton, ein unabhängiger britischer Terrorforscher, sagt, es gebe keinen Zweifel daran, dass Khan hätte im Gefängnis sein müssen, da er offensichtlich gefährlich gewesen sei. Deradikalisierung kann Ortons Ansicht nach in einigen Fällen funktionieren – aber nur bei Leuten, die gerade erst anfangen, sich mit Extremismus zu beschäftigen, nicht bei Personen mit einem gefestigten Weltbild. Darum seien solche Programme kein Instrument, das für großflächigen Einsatz tauge.
Laut Orton liegt die Lösung in längeren Strafen: „In den USA werden Terroristen wegen materieller Unterstützung einer extremistischen Gruppe zu 20 bis 30 Jahren Haft verurteilt.“ Dschihadisten von der Straße fernzuhalten sei besser, als sein Vertrauen in eine „halbgare Läuterung“ der Täter zu setzen.
David Wilson, emeritierter Professor für Kriminologie an der Birmingham City University, sagt: „Die Leute wissen, was sie zu sagen haben, damit man ankreuzen kann, dass sie den [Rehabilitations-] Kurs absolviert haben.“ Niemand glaube wirklich, dass die Deradikalisierung in der Praxis bewirkt, was das Papier verheiße.
Ely Karmon weist auf einen weiteren Missstand hin: Durch die Stellenstreichungen der letzten zehn Jahre gebe es in Großbritannien zu wenige Polizisten. Das bedeutet weniger Sicherheit auf der Straße, weil es womöglich länger dauert, bis Beamte vor Ort sind.
Europäische Gefängnisse als Brutstätten des Islamismus
Eine große Bedrohung, so Karmon, erwachse daraus, dass in Europa jedes Jahr eine dreistellige Zahl von Straftätern aus dem Gefängnis entlassen wird, die wegen islamischem Terrorismus verurteilt wurden. „Gefängnisse spielen eine entscheidende Rolle bei der Auslösung und Verstärkung des Radikalisierungsprozesses und haben als ‚Radikalisierungs-Inkubator’ an Bedeutung gewonnen“, so Karmon. „Viele der dschihadistischen Terroristen nach 2007 hatten eine kriminelle Vorgeschichte und wurden hinter Gittern radikalisiert.“ Zehn der 17 Terroristen des Paris-Brüssel-Netzwerks, das die Terroranschläge 2015/16 verübt habe, habe eine Vergangenheit der Kleinkriminalität gehabt.
Zu der Radikalisierung potenzieller Terroristen trage ein Netzwerk von Leuten bei, die Karmon „geistliche Zustimmer“ oder „Unternehmer“ nennt, die die salafistische Ideologie verbreiten und so die Basis für Terroranschläge schaffen. Als Beispiel nennt er den oben genannten Anjem Choudary, einen Dschihadisten, der lange Zeit in Großbritannien wirkte. Der Sohn pakistanischer Einwanderer war Führer der mittlerweile verbotenen islamistischen Gruppe Islam4UK (sprich „Islam for UK = Islam für Großbritannien) und gründete auch Ableger im Ausland („Islam4Belgium“ etc.). Schwerpunkt war die da’wa (Arabisch für „Aufbau“ = Rekrutierung durch Propaganda) auf der Straße, mit Flugblättern und Demonstrationen. Grenzübergreifend seien die einzelnen Organisationen über die sozialen Netzwerke im Internet verbunden gewesen, so Karmon. Im Sommer 2015 hätten sie eine maßgebliche Rolle bei der Rekrutierung für den Krieg des IS in Syrien und dem Irak gespielt.
Anjem Choudary wurde 2014 verhaftet, nachdem er sich zum IS bekannt hatte. „Der Treueid war ein ‚Wendepunkt’, der bedeutete, dass er vor Gericht gestellt werden konnte“, schreibt Karmon. „Choudary wurde am 6. September 2016 zu fünf Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Leider wurde Anjem Choudary wie Usman Khan im Oktober 2018 freigelassen, nachdem er nur die Hälfte einer fünfeinhalbjährigen Haftstrafe verbüßt hatte.“
In seiner Schlussfolgerung stellt Karmon fest, dass Europa keine Antworten auf wichtige Fragen habe:
Wie verfahren mit den IS-Heimkehrern?
Was passiert mit deren Frauen und Kindern?
Wie dem Problem der Radikalisierung in Gefängnissen entgegentreten?
Was tun mit freigelassenen Dschihadisten?
Das Beispiel von Usman Khan zeige, wie wichtig diese Fragen seien. In der Milde, die Europa gegenüber den „Ideologie-Unternehmern“ wie Choudary walten lasse, sieht Karmon ein großes Problem, denn diese seien in ihrer Wirkung viel gefährlicher als die „Fußsoldaten“ oder sogar als die Drahtzieher einzelner Anschläge. Eine Strategie müsse dies berücksichtigen, wenn sie wirksam sein wolle. Der Fokus, so Karmon, müsse dabei darauf liegen, Radikalisierung erst gar nicht zuzulassen – also in der Prävention –, nicht im Versuch, sie im Nachhinein zu kurieren. Leider ist zu befürchten, dass diese Ratschläge in den Wind gesprochen sind und es in Europa noch Tausende von Messeranschlägen geben wird, ehe die Politik endlich einen entschlossenen Kampf gegen die dahinter stehende Ideologie beginnen wird.
(Anm. d. Red. : Kurz vor Redaktionsschluss geschah am 2. Februar 2020 ein weiteres islamisches Messer-Attentat in London durch den Täter Sudesh Amman. Abermals war der Täter polizeibekannt.)
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