Deutschland, die zahnlose Garantiemacht
Der Gratismut deutscher Schreibtisch-Politiker mag bei der Weltmeisterschaft im „Haltung zeigen“ Punkte einbringen, einen entschlossenen Ex-KGB Agenten mit Finger am Atomknopf beeindruckt man damit aber nicht.
© AFP
Verbal ist die deutsche Politik in diesem Krieg jetzt ganz entschlossen auf der Seite der Verteidiger der Ukraine gegen die russischen Aggressoren. Manch deutscher Verantwortungsträger ist so voll der starken Worte, dass sich bei sensibleren Naturen unter den Zuhörern nahezu zwangsläufig die Zuschreibung „Maulheld“ als Gedanke aufdrängt. Aber im Krieg ist es nicht üblich, auf sensiblere Naturen Rücksicht zu nehmen.
Und es sind nicht nur Worte, mit denen das offizielle Deutschland Partei in diesem Krieg ergreift. Mag das Land militärisch kaum noch etwas Wesentliches zu den Weltläufen beizutragen haben – große Opferbereitschaft können unsere Regierenden immerhin noch anbieten. Die Bürger werden darauf eingestimmt, künftig für die Freiheit der Ukraine gegebenenfalls auf Energie verzichten zu müssen oder diese noch teurer als gedacht zu bezahlen.
Sanktionen werden ersonnen und beschlossen und jeder Verband beeilt sich, seine Kontakte zum Lande Putins, des Aggressors, demonstrativ abzubrechen, ohne darüber nachzudenken, wer damit wirklich getroffen wird. Der Herrscher im Kreml wird in manchen Fällen kaum traurig sein, wenn seinen Bürgern die bislang gepflegten Kontakte in den Westen von dort abgebrochen werden. Es war beispielsweise am Montagmorgen schon eine eigentümliche Nachricht, dass der Deutsche Behindertensportverband für einen Ausschluss der russischen Mannschaft von den anstehenden Paralympischen Spielen wirbt. Im Deutschlandfunk konnte man zum Morgenkaffee hören:
„Verbandspräsident Beucher sagte der Zeitung „Die Welt“, es sei zwar korrekt, dass russische Athletinnen und Athleten nichts für die russische Invasion in der Ukraine könnten. Es gehe aber um ein Zeichen gegen den völkerrechtswidrigen Angriff. Eine vollständige Absage der Paralympics in China lehnt Beucher ab. Das würde den russischen Präsidenten Putin nicht beeindrucken. Ein Verbot der Teilnahme russischer Sportlerinnen und Sportler hingegen könnte seiner Einschätzung nach das nationalistische Bewusstsein Putins berühren, so Beucher.“
Optionen, an die niemand denken will
So gewinnt man vielleicht die Deutschen Meisterschaften im Zeichensetzen, doch Putins „nationalistisches Bewusstsein“ wird der Behindertensport mit diesem Ausschluss bestimmt nicht „berühren“. In ganz anderer Weise werden wohl die Behindertensportler „berührt“ sein. Aber es geht ja ums Zeichen setzen, und da fühlt das offizielle und das Verbände-Deutschland in Bezug auf die Ukraine vielleicht auch etwas Nachholbedarf, denn sonderlich entschieden war der deutsche Auftritt bis zum aktuellen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine nicht.
Nun sind „Zeichen setzen“, große Worte und ein gezücktes Scheckbuch, gepaart mit eher minderer praktischer Tatkraft, kein neues Phänomen in der deutschen Politik. Neu ist, dass der Krieg uns plötzlich so nahe gerückt ist, dass die Kampfgebiete nur noch zwei Staatsgrenzen entfernt sind. Und eigene praktische Tatkraft in einem Krieg ist für heutige Deutsche kaum noch denkbar. Deshalb sind viele Bürger sicher auch dankbar, dass ihre Regierung an solche Optionen nicht denkt.
Dagegen ist grundsätzlich nichts zu sagen, nur an irgendeinem Punkt ist dennoch militärische Abschreckung vonnöten, um nicht militärisch erpressbar zu sein. Über diese Punkte hat bekanntlich niemand diskutiert.
Wir sahen uns von Freunden umzingelt und konnten die Bundeswehr Ministerinnen überlassen, die beim Militär ihre Art der Zeichensetzung pflegten und es nicht so wichtig fanden, dass die Truppe genug funktionierendes Material hat, um fahren, fliegen und, wenn nötig, schießen zu können. Das erweist sich nun aber als fatal.
Und dann hatte Deutschland vor einigen Jahren noch eine Verantwortung übernommen, der seine letzten Regierungen nicht gerecht wurden.
In diesen Tagen fallen die Worte „Normandie-Format“ und „Minsker Abkommen“ häufig in der Rückblicke auf den Weg in den aktuellen Krieg. Ja, man erinnert sich vielleicht daran, dass sich Deutschlands damaliger Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Februar 2014 gemeinsam mit seinem polnischen Kollegen Sikorski auf den Weg nach Kiew machte, um nach den Maidan-Protesten einen möglichst friedlichen Machtwechsel vom russlandfreundlichen Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu einer Übergangsregierung zu begleiten. Im gleichen Jahr eskalierte der russisch-ukrainische Konflikt, Putin organisierte die Besetzung und Annexion der Krim und förderte die aufständischen „Volksrepubliken“ in Lugansk und Donezk. In der Ostukraine wurde gekämpft, Deutschland und Frankreich sahen sich bemüßigt, sich um einen Frieden zu kümmern. Im Sommer wurden in der Normandie am Rande der Feierlichkeiten des 70. Jahrestages der Landung der Alliierten zwischen den Regierungschefs Russlands, Frankreichs, Deutschlands und der Ukraine Gespräche vereinbart, um zu einem Waffenstillstand und später einem Frieden in der Ostukraine zu kommen.
Hätte es Respekt für die Garantiemacht gegeben?
Die Gespräche mündeten in das Minsker Abkommen, dem etliche ähnliche Vereinbarungen folgten. Inhalt war immer, dass an der festgelegten Waffenstillstandslinie die Waffen schweigen sollten. Die Waffenstillstände waren brüchig, wurden aber immer wieder erneuert, und die Welt gewöhnte sich an diese neue de-facto-Grenze.
Soweit, so bekannt. Aber ein Umstand dieser Verträge bleibt unbeachtet. Denn Deutschland und Frankreich sind durch ihre Mitzeichnung zu Garantiemächten ebendieser Vereinbarungen geworden. Eine Verantwortung, die doch eigentlich schon in den letzten Monaten eine Rolle hätte spielen müssen. Gerade bei der Frage, ob Wladimir Putin von dem Einmarsch in die Ukraine hätte abgeschreckt werden können. Mit einem Preisschild wegen teurer Sanktionen ist das bekanntlich nicht gelungen. In Putins Welt ist bei Fragen von Krieg und Frieden militärische Stärke und die Entschlossenheit, von selbiger im Ernstfall auch Gebrauch zu machen, entscheidend. Da bekam er von den NATO-Staaten, geführt von den USA, eine klare Botschaft: Auf NATO-Soldaten werde man in der Ukraine nicht treffen. Der ganz große Krieg würde nur bei Überschreiten einer NATO-Grenze drohen. Das Risiko des Kriegseinsatzes wurde für den russischen Präsidenten auf diese Weise kalkulierbar.
Aber war das nicht alternativlos? Mit welchem Grund hätte die NATO Truppen in die Ukraine entsenden können, ohne nicht Putin gleich auch noch eine Legitimation für seinen Krieg zu liefern?
An dieser Stelle hätten die Garantiemächte des Minsker Abkommens ins Spiel kommen können. Interessanterweise hat Wladimir Putin nach der an die „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk adressierten Anerkennung und Hilfszusage einen Tag gewartet, bevor er auch offen jenseits der Waffenstillstandslinie in der Ukraine operierte. Wäre das ein Moment gewesen, in dem Kiew hätte die Garantiemächte Deutschland und Frankreich zu Hilfe rufen können? Hätte eine solche Hilfe Putin im Weitermarschieren zögern und zunächst nur die „Volksrepubliken“ eingliedern lassen?
Das ist reine Spekulation, und auch ohne einen Hilferuf wussten die Ukrainer längst, dass sie von den Garantiemächten keine entsprechende Hilfe zu erwarten hätten. Eine Garantiemacht, die für ihre Garantie nicht einsteht, ist allerdings nicht viel wert. Das wird auch den Wert mitbestimmen, den ihre Stimme hat, wenn es auszuhandeln gilt, wie die Nachkriegszukunft der Ukraine aussieht.
Hier hat Deutschland ganz klar versagt
Es mag sein, dass der Begriff Garantiemacht im Falle der Minsker Verträge juristisch vielleicht nicht ganz zutreffend ist bzw. zu keinem konkreten Handeln verpflichtet. Es ist eine Art Versprechen und eine – wie es die Prediger der Hochmoral sonst doch auch gern sagen – „moralische Verpflichtung“. Und hier hat Deutschland ganz klar versagt.
Das wurde allerdings auch schon vor dem aktuellen Krieg beklagt und nicht nur von den Ukrainern. In Russlands Propaganda-Kanal RT hieß es vor elf Monaten:
„Deutschland und Frankreich sind besorgt über die Eskalation in der Ostukraine. Die „Außenministerin" der Donezker Volksrepublik, Natalia Nikonorowa, kritisierte im RT DE-Gespräch, dass Berlin und Paris als Garantiemächte der Ukraine nicht genug zur Umsetzung des Minsker Abkommens täten.“
Die Reaktion der Garantiemächte laut RT:
Eine Sprecherin des französischen Außenministeriums und ein Sprecher des Auswärtigen Amtes brachten in einer gemeinsamen Erklärung vom 3. April ihre Besorgnis über die Lage in der Ostukraine zum Ausdruck.
„Deutschland und Frankreich sind besorgt über die steigende Zahl der Waffenstillstandsverletzungen, nachdem sich die Situation in der Ostukraine seit Juli 2020 stabilisiert hatte. Wir beobachten die Situation, insbesondere die Bewegungen russischer Truppen, sehr aufmerksam und rufen die Parteien zur Zurückhaltung und sofortigen Deeskalation auf."
Die Regierungen in Berlin und Paris unterstrichen erneut ihre Unterstützung für die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine in ihren international anerkannten Grenzen. Gleichzeitig wiesen sie auf die Notwendigkeit der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen hin, für die sie als vertragliche Garantiemächte der Ukraine auch eine gewisse Verantwortung tragen.
Die Worte klingen heutzutage immerhin kräftiger.
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