Jüdisches Leben in den USA bedroht – Bereits nahezu 40% aller Juden fühlen sich heute nicht mehr sicher

Gedenktafeln vor der Tree of Life Synagoge nach dem Attentat im Jahr 2018© Official White House Photo by Andrea Hanks, WIKIPEDIA

Das American Jewish Committee (AJC) hat eine Untersuchung in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse alarmierend sind: Fast 40 Prozent der Juden in den USA haben Angst vor der täglichen Anfeindung. Dabei geht heute die Bedrohung für jüdisches Leben in den USA zumeist von radikalen Afroamerikanern, muslimischen Messerattentätern aber auch von Neonazis aus. Gerade in den USA, dem Land, das jahrzehntelang ein „safe haven“ für Juden war, ist die Politik gefordert, ihr Sicherheitsversprechen gegenüber den Juden einzulösen und diesem Missstand entgegenzutreten. Es ist bedenklich, dass sich die Sicherheitslage der Juden besonders in der Amtszeit Präsident Bidens und der Democrats derart verschlechtert hat. (JR)

Von Julian M. Plutz

Man kann es als Ironie bezeichnen, dass Guy Taieb vor etwa 15 Jahren aus Frankreich ausgewandert ist, weil dort der Antisemitismus bis ins unerträgliche zunahm. Nun ist er in den USA, mehr als 9000 Kilometer entfernt, selbst Opfer von Judenhass geworden. Doch einschüchtern will sich der 73-Jährige nicht lassen. Ganz im Gegenteil.

Es war mild am Morgen des 16. Februar 2023, selbst für kalifornische Verhältnisse, als Jamie Thanh Tran das Feuer von seinem Auto aus eröffnete. Pico-Robertson, ein Viertel im Westen der Stadt, gilt als ein Stadtteil, in dem viele Orthodoxe leben. Der Morgengottesdienst fand gerade sein Ende und die Gemeinde verließ ahnungslos die Synagoge. Man kann von Glück sprechen, dass der Täter schlecht vorbereitet und offenkundig kein guter Schütze war.

Das sah auch der hiesige Polizeichef so. Zwar solle niemand glauben, nur weil Jamie Thanh Tran hinter Gitter sitzt - bereits kurz nach der Tat konnte er gefasst werden - solle man die Wachsamkeit aufgeben. “Aber im Vergleich zu einigen anderen Vorfällen, die wir gesehen haben, war dies kein gut geplanter Angriff, der darauf abzielte, so viele Juden wie möglich zu verletzen oder zu töten,” so Ivan Wolkind. Wäre das das Ziel gewesen, so hätte er wahrscheinlich effektiver sein können.

 

Die ersten Juden in Nordamerika waren meist Niederländer

Umso schmerzvoller müssen Anschläge wie diese sein, wenn man bedenkt, dass die Kolonialgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika auch eine jüdische Geschichte ist. Der erste zugewanderte Jude, der namentlich bekannt war, hört auf den Namen Joachim Gause und seine Geschichte geht auf das Jahr 1583 zurück. Gause, der in Prag geboren wurde, kam für eine Expedition nach Nordamerika. Von Beruf war er Metallurge, eine Beschäftigung, die sich auf die Gewinnung und Verarbeitung von Eisen, Stahl, Zink, Kupfer und Aluminium spezialisiert hat. Zwar verließ er die Staaten bald wieder, ihn zog es ins englische Bristol, dennoch wurde das jüdische Leben in den USA geboren.

Die ersten Juden, die sich ab 1649 dauerhaft in Nordamerika niederließen, hießen Solomon Franco, Solomon Pieterson und Jacob Barimson. Die kaufmännischen Mitarbeiter waren bei einem niederländischen Handelsunternehmen beschäftigt, wie es Arthur Hertzberg in seinem Werk “The Jews in America” beschreibt. Etwas später brach das sogenannte “Goldene Zeitalter” an. Die Niederlande befreiten sich von der spanischen Besatzung, was dazu führte, dass Religionen weitaus größere Freiheiten genossen als in anderen Ländern. Viele sephardische Juden, die noch Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien und Portugal vertrieben wurden, siedelten sich dort an. Sehr viele Kaufleute aber zog es in eine niederländische Kolonie, die in Brasilien lag: Pernambuco, heute Recive.

 

Auf der Suche nach einer neuen Heimat

Doch der Wind drehte sich. Nur wenige Jahre später eroberten die Portugiesen die Kolonie zurück, was zur Folge hatte, dass die Juden das Land wieder verließen und über Kuba nach Nieuw Amsterdam, dem heutigen New York City, weiterreisen. Weitere Juden aus Spanien und Portugal folgten, nachdem die Verfolgung in beiden Ländern immer unerbittlicher wurde. Zum ersten Mal siedelten sich auch vereinzelnd aschkenasische Juden aus den Niederlanden an.

Man sieht also, dass noch vor der Unabhängigkeit des Landes die Kolonien für annähernd gleiche Rechte für Juden sorgten. So auch in der britischen Kolonie New York. Seit sie dem “Domination of New England” einverleibt wurde, also zur Kronkolonie umgestaltet wurde, genossen Juden Bürgerrechte. Zumindest theoretisch. Oftmals mussten sie diese vor Gerichten mühsam einklagen. Das änderte sich, als im Jahre 1672 ein Präzedenzurteil gefällt wurde. Dem Kaufmann Raba Gouty wurde als ersten Juden zugebilligt, die britische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Viele weitere würden folgen. Dennoch sollte es fast 60 Jahre dauern, bis Juden in der Mill Street, heute South William Street in Manhattan, die erste Synagoge auf nordamerikanischem Boden überhaupt bauten.

Die systematische Judenverfolgung in der NS-Zeit und die strukturelle Diskriminierung von Juden in der Sowjetunion taten ihr übriges. So konstatierte die Neue Freie Presse aus Wien folgendes: „Die jüdische Bevölkerung in Amerika seit fünf Jahren um vier Millionen vermehrt. Zwei Millionen Juden in New York.“ Nach den von der Statistischen Abteilung des Jüdischen Komitees in Amerika veröffentlichten Ziffern hat sich die jüdische Bevölkerung in den Vereinigten Staaten seit dem Jahre 1927 um mehr als vier Millionen vermehrt. Von der jüdischen Bevölkerung der Vereinigten Staaten wohnten etwa 85 Prozent in Städten mit 100.000 Einwohnern oder darüber. "In New York leben gegenwärtig über zwei Millionen Juden.” Bis heute gilt New York City als eine der florierendsten Gegenden lebendigen Judentums.

 

Anschläge auf Juden von allen Seiten

Trotz oder wegen der Sichtbarkeit nahmen auch die Anschläge auf das jüdische Leben nicht ab. Immer wieder verübten Extremisten Anschläge auf Synagogen, die sich für die Rassengleichheit einsetzten. In den 1960er Jahren verübte der Ku-Klux-Klan eine Reihe von Bombenanschlägen, wie 1967 auf der neuen Beth Israel Synagoge in Jackson. Der Grund: Der ansässige Rabbi Nussbaum engagierte sich im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung für die Gleichstellung von Schwarzen.

Zwar galt jüdisches Leben in den Staaten, im Verhältnis zu Europa, als vergleichsweise sicher, jedoch waren es immer wieder White Supremacists, also Menschen, die die weiße Rasse als überlegen sehen, die Gewalttaten verübten. Trauriger Höhepunkt war zweifelsohne Pittsburgh im Jahr 2018. Der 46-jährige Neonazi Robert Bowers tötete in einer Synagoge elf Menschen. „Es war die vermutlich tödlichste Attacke gegen die jüdische Community in der Geschichte der USA“, sagte Jonathan Greenblatt, Chef der Anti-Defamation League.

Doch es waren nicht nur Neonazis, die in den Staaten Juden töteten. Am 10. Dezember 2019 erschoss ein Mitglied der sogenannten „Schwarzen Hebräer“ sechs Menschen. Ihr Ziel war ein koscherer Supermarkt. “Schwarze Hebräer” ist eine Gruppe um Afroamerikaner, die von sich behaupten, von den Israeliten abzustammen. Zwar bedienen sie sich Rieten aus der Tora, jedoch werden sie von jüdischen Gemeinden nicht als Juden anerkannt. Bei vielen Experten gelten die „Schwarzen Hebräer“ als judenfeindlich und rassistisch. So warf im Jahr 2008 das Southern Poverty Law Center der Gruppierung vor, schwarzes Überlegenheitsdenken, genannt Black Supremacy, in den Communitys zu fördern. Nach ihrer Überzeugung sind Schwarze das wahre auserwählte Volk, das einst nach Israel zurückkehren würde. Nicht wenige bezeichnen Juden als „Wesen vom Teufel“, „Betrüger und Lügner“, während sie andere „Weiße“ als das eigentliche Böse sehen, das nur Sklaverei oder den Tod verdient.

 

“Ich bin Jude und wollte sagen ‘Danke Gott’”

Und so verwundert es wenig, dass das American Jewish Committee (AJC) eine Untersuchung in Auftrag gegeben hat, deren Ergebnisse Bände sprechen. Fast 40 Prozent der Juden in den USA haben aufgrund ihrer Angst vor Judenfeindlichkeit ihr Verhalten im vergangenen Jahr mindestens einmal verändert. 85 Prozent der Teilnehmer im Alter von 18 bis 29 Jahren gaben an, sie seien im Internet regelmäßig mit Antisemitismus konfrontiert. Mehr als 25 Prozent fühlen sich körperlich bedroht. “Was noch vor zehn Jahren unvorstellbar schien, ist nun bittere Realität«, so Ted Deutch, Chef von AJC.

Bei diesen Zahlen handelt es sich um Alarmsignale. Die Vereinigten Staaten von Amerika gelten für Juden neben Israel als wichtiger Rückzugsort. Dieser ist nun bedroht: Ob von radikalen Afroamerikanern, Neonazis oder muslimischen Messerattentätern. Die Politik im Land ist aufgefordert, ihr Sicherheitsversprechen auch einzuhalten.

Guy Taieb will sich nicht einschüchtern lassen. Bereits am Freitagmorgen, einen Tag nach dem Anschlag auf ihn, besuchte er das Morgengebet. “Warum nicht?”, antwortete der 73-Jährige. “Ich bin Jude und wollte sagen: “Danke Gott”. Für mich ist das normal.” Er trägt die gleiche blaue Calvin-Klein-Jacke wie gestern. Die Einschusslöcher sind gut zu erkennen. Guy Taieb nennt sie seine “Glücksjacke.” Vielleicht ist da ja etwas dran.

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