Die Hinrichtung des kleinen Velve

Erinnerung an die deutsche Massenerschießung der Juden im ukrainischen Babi Jahr im September 1941

In Babi Jar wurden 33.771 jüdische Menschen erschossen.

Von Dr. Rafael Korenzecher

Babi Jar, der in der Nähe von Kiew liegende Ort eines der entsetzlichsten Verbrechen der Nazis, an dem die Nazis Zigtausende Juden, vor allem Frauen, Alte, Kinder und Kranke erschossen und verscharrten, war eine der größten und tiefsten Kiewer Schluchten. Sie lag am Stadtrand von Kiew und grenzte an das Gelände des jüdischen Friedhofs. An der Stelle der meisten Erschießungen war sie etwa zehn Meter tief, am Boden war sie rund zehn Meter und am oberen Rand etwa 80 Meter breit. Die Länge belief sich etwa auf einen halben Kilometer.

Unter den Erschossenen befand sich auch Velvele, der kleine jüdische Junge auf dem Dreirad auf dem abgedruckten alten Foto. Sein voller Name war Valentin Pinkert. Er wurde einen Tag vor dem Yom Kippur-Fest 1941 von deutschen Mördern in Uniform erschossen.

Die Wehrmacht eroberte Kiew am 19. September 1941. Nur acht Tage später, am 27. September, wurden in der Stadt Mitteilungen ausgehängt, die die Kiewer Juden aufforderten, sich am Montagmorgen, dem 29. September, in der Nähe von Babi Jar zu versammeln. Der bereits von der deutschen Wehrmacht und SS beschlossene Massenmord wurde von den Deutschen als „Umsiedlungsmaßnahme“ inszeniert. Zur Täuschung über die wahren Absichten der deutschen Besatzer sollten die Opfer für die Reise notwendige Dinge wie Pässe, Geld, Wertsachen, warme Kleidung, Wäsche u.ä. mitbringen.

Von den ca. 930.000 Einwohnern Kiews waren etwa 200.000 Juden. Viele, auch jüdische Männer, waren bereits in die Rote Armee eingezogen worden.

Von den Juden zurückgeblieben waren in erster Linie Frauen, Alte, Schwache und Kinder. Die leisteten dem deutschen Aufruf Folge und versammelten sich am auf den Aushängen angegebenen Ort in einer die deutschen Erwartungen deutlich übersteigenden Zahl, um wie sie meinten evakuiert und umgesiedelt zu werden, wie es von Seiten der deutschen Besatzer offiziell hieß.

Die allermeisten Juden glaubten durchaus dieser Darstellung. „Die einen sagten, dass sie fürs Ghetto bestimmt seien, die anderen, dass sie auf Militärzüge geladen und nach Palästina geschafft würden. Dass man sie erschießen würde, das glaubte fast niemand“, erinnert sich S. Ruwim. Er war damals 15 Jahre alt und war einer der wenigen überlebenden direkten Zeugen des damaligen Kriegsverbrechens der deutschen Eroberer. Diese hatten bereits in einer gemeinsamen Besprechung der Einsatzbeteiligten wenige Tage zuvor die Ermordung der gesamten Kiewer Juden vereinbart.

Für die Vorbereitungen arbeiteten SS und Wehrmacht koordiniert und vertrauensvoll zusammen. Auf Seiten der SS wurden Männer des Sonderkommandos (SK) 4a der „Einsatzgruppe C“ unter SS-Standartenführer Paul Blobel sowie Angehörige des Sicherheitsdienstes (SD) gestellt. Die Einsatzgruppen waren bereits zuvor eigens aufgestellt worden, um massenhaft Juden im besetzten Gebiet zu jagen und zu erschießen. Außerdem nahmen Männer der Geheimen Feldpolizei des Polizeiregiments Süd der deutschen Ordnungspolizei teil. Beteiligt waren wohl auch die den Nazis bezüglichen ihres Judenhasses in nichts nachstehenden Mitglieder der mit den Deutschen kollaborierenden Organisation Ukrainischer Nationalisten OUN-M (Melnykisten) und der rivalisierenden OUN-B von Stepan Banderas, der von vielen West-Ukrainern bis heute als Nationalheld verehrt wird.

Wehrmachtssoldaten der 6. Armee unter Generalfeldmarschall Walter von Reichenau sicherten die Lage ab. Reichenau hatte zuvor die geplante Mordaktion ausdrücklich begrüßt: „Wehrmacht begrüßt Maßnahmen und erbittet radikales Vorgehen“, teilte er telegrafisch nach Berlin mit.

SS-Obersturmführer August Häfner, der an dem Massaker teilgenommen hatte, sagte später aus, dass die Erschießungen selbst zumeist von SS-Angehörigen verübt wurden.

Auf dem Gelände, zu dem sie vom Versammlungsort gebracht wurden, mussten sich die Juden etwa 300 Meter von der Schlucht entfernt vollständig ausziehen. Ihre Wertsachen wurden eingesammelt, Ausweise, Fotos und andere Dinge, die die Deutschen als überflüssig ansahen, verbrannt. Anschließend wurden die Menschen an den Rand der Schlucht geführt. Was dann passierte, schilderten nicht nur Juden, die das Massaker überlebten, sondern auch SS-Männer in späteren Gerichtsverfahren.

„Es ist unmöglich zu beschreiben, was an diesem Ort vor sich ging“, berichten überlebende Augenzeugen. Das Geschehen war beherrscht von Weinen, Verzweiflung und vor allem Betteln von Müttern um Gnade für ihre Kinder. Viele verloren das Bewusstsein. Ein Zeuge erinnerte sich an eine vollständig entkleidete junge jüdische Mutter, die ihre letzten Augenblicke damit verbrachte, ihrem Säugling die Brust zu geben. Als das Baby lebendig in die Schlucht geworfen wurde, sprang sie hinterher.

Auch Kurt Werner, ein Angehöriger des deutschen SK 4, erinnerte sich. Er hatte mit anderen Männern in die Schlucht hinunterklettern müssen. Dann kamen die ersten Juden. „Sie mussten sich mit dem Gesicht zur Erde hinlegen. In der Grube befanden sich drei Gruppen von Schützen, mit insgesamt etwa zwölf Schützen.“

Gleichzeitig wurden ständig neue Juden herangeführt. „Sie mussten sich auf die Leichen der zuvor erschossenen Juden legen. Die Schützen standen jeweils hinter den Juden und haben diese mit Genickschüssen getötet“, so Werner. Der Leichenberg wuchs so immer weiter, die Schlucht füllte sich mit immer mehr Getöteten. Besonders schrecklich seien die verzweifelten Schreie der Juden gewesen, wenn sie vom oberen Grubenrand zum ersten Mal die unten liegenden blutenden Leichen der soeben Erschossenen sehen konnten.

Mitleid mit den Opfern äußerte Kurt Werner auch später nicht. Wohl aber Mitleid mit sich und den anderen Männern des Sonderkommandos wegen der anstrengenden „Drecksarbeit“, wie er die Erschießungen nannte. Für Historiker ist es nach Befragungen Beteiligter übrigens erwiesen, dass jeder einzelne der Todes-Schützen sich hätte verweigern können, ohne dafür bestraft zu werden, was aber von Seiten der eingesetzten Erschießungskommandos nicht erfolgt ist.

Die Erschießungsaktion zog sich über 36 Stunden und war erst am darauffolgenden Tag beendet. Aufgrund der exakten deutschen Buchführung ist genau bekannt, wie viele Juden die SS-Männer am 29. und 30. September 1941 erschossen worden sind:

Es waren insgesamt 33.771 Juden. Die Erschießungsrate betrug somit fast 1.000 jüdische Menschen pro Stunde. Die SS berichtete mit deutlichem Stolz die erfolgreiche Ausführung der Morde an den wehrlosen Opfern an das Berliner Reichssicherheitshauptamt, die Zentrale der Sicherheitsdienste und lobte die hervorragende Zusammenarbeit mit der 6. Armee der Wehrmacht.

Auch Velvele, der kleine Junge mit dem Dreirad, musste in Babi Jar sterben.© WIKIPEDIA

Die daraufhin in Berlin zwei Tage später gefertigte „Ereignismeldung Nr. 101“ benötigte nur ca. zwei Dutzend nüchterne Worte zur Beschreibung dieses entsetzlichen Massenmordes an wehrlosen jüdischen Opfern:

„Das Sonderkommando 4a hat in Zusammenarbeit mit Gruppenstab und zwei Kommandos des Polizeiregiments Süd am 29. und 30. September 1941 in Kiew 33.771 Juden exekutiert.“

Mehr Worte waren nicht notwendig, um die höheren Etagen des SS-Apparates vom größten Einzelmassaker zu informieren, das deutsche Einheiten während des Holocausts begingen.

Nach den Erschießungen sprengte die Wehrmacht die Seitenwände der Schlucht, damit sie die Leichen begruben. 1943, nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad, kehrte SS-Standartenführer Paul Blobel zum Ort des Grauens zurück. Sein Auftrag: die Leichen ausgraben und verbrennen, denn die NS-Führung fürchtete, dass die Rote Armee Kiew zurückerobern könne und wollte unbedingt Spuren des Massakers verwischen.

Allerdings haben weder die Russen noch die Ukrainer aus unterschiedlichen Motiven großes Interesse an der Aufklärung des Geschehens gezeigt. Bis weit in die Gegenwart fand besonders die Ukraine keine Worte des Bedauerns für die ukrainische Kollaboration an dem Massenmord von Babi Jar und tat sich besonders schwer damit , klarzustellen, dass es sich bei den Opfern nahezu ausschließlich um unschuldige jüdische Menschen gehandelt hat.

Da in Babi Jar auch in der Folge Erschießungen und Verscharrungen erschossener Juden vorgenommen wurden, war die Zahl der Leichen bis 1943 auf etwa 60.000 Menschen angewachsen.

Die allermeisten der 300 Zwangsarbeiter, die 1943 die Ausgrabungen im Auftrag der Deutschen erledigen mussten, wurden anschließend von diesen erschossen. Einigen wenigen gelang die Flucht. Sie haben später über diese, mit dem Namen „1005 B“ kodierte Vertuschungs-Aktion der Deutschen berichtet.

Einige der Verantwortlichen wurden später vor Gericht gestellt. Der SS-Standartenführer und Einsatzleiter Paul Blobel wurde beim sogenannten Einsatzgruppen-Prozess schon während der Nürnberger Prozesse zum Tode verurteilt und 1951 hingerichtet. Generalfeldmarschall Reichenau erlag 1942 einem Schlaganfall, Stadtkommandant Eberhard beging 1947 Selbstmord, einige andere wurden Jahrzehnte später zu Haftstrafen verurteilt. Andere der Beteiligten kamen zwar vor Gericht, galten aber als „verhandlungsunfähig“.

Auch einigen Juden gelang es, das Massaker zu überleben. Sie waren nicht tödlich getroffen worden und blieben solange unter den Leichen liegen, bis die Deutschen abgezogen waren.

Auf Grund der Aussagen der Überlebenden und Zeitzeugen auf beiden Seiten des Grauens ist die jede Vorstellungskraft übersteigende, von der deutschen SS unter Beihilfe der deutschen Wehrmacht verübte vorsätzliche und willkürliche Erschießung von vielen kleinen Kindern auf dem Arm ihrer Mütter und der Massenmord an vollkommen unschuldigen jüdischen Menschen detailliert belegt und dokumentiert.

Die zwischenzeitlich von verschiedener Seite und aus verschiedenen, teilweise sehr durchsichtigen Motiven praktizierte Unkultur der Holocaust-Leugnung, der Schuldrelativierung, der Täter-Viktimisierung, der entlastenden Ehrung der Wehrmacht oder auch nur des Vergessens ist zutiefst widerwärtig und verlogen.

Sie hält vor dem unschuldigen Gesichtchen Velveles, des kleinen, mit tausenden anderen Kindern erschossenen jüdischen Jungen auf dem Dreirad nicht stand.

(Der Text und das Foto basieren auf Material und Artikeln aus Yad Vashem, der „taz“, dem „Focus“ und anderen deutschen und internationalen Quellen, von denen er teilweise übernommen wurde.)

Sehr geehrte Leser!

Die alte Website unserer Zeitung mit allen alten Abos finden Sie hier:

alte Website der Zeitung.


Und hier können Sie:

unsere Zeitung abonnieren,
die aktuelle oder alte Ausgaben bestellen
sowie eine Probeausgabe bekommen

in der Druck- oder Onlineform

Unterstützen Sie die einzige unabhängige jüdische Zeitung in Deutschland mit Ihrer Spende!

Werbung


Alle Artikel
Diese Webseite verwendet Cookies, um bestimmte Funktionen zu ermöglichen und das Angebot zu verbessern. Indem Sie hier fortfahren, stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Mehr dazu..
Verstanden