Erinnerung an die Shoah und jüdisches Leben in Aserbaidschan
Aserbaidschan pflegt seine Freundschaft zu Israel und ist reich an lebendiger jüdischer Kultur. Als eines der wenigen Länder mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung begeht es den Internationalen Holocaust Gedenktag.
Aschkenasische Synagoge in Guba.
Am 27. Januar beging Aserbaidschan als eines der wenigen Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit den Internationalen Holocaust-Gedenktag. Bei einem Treffen mit Rabbiner Marc Schneier aus New York, der sich seit Langem für die jüdisch-muslimischen Beziehungen engagiert, erklärte Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev im Dezember 2021 diesen Schritt und kündigte im gleichen Zuge die Förderung der wachsenden jüdischen Schule „Chabad Ohr Avner“ in der Hauptstadt Baku an. Die Entscheidung des aserbaidschanischen Staatsoberhauptes, ein klares Signal der Verbundenheit mit dem jüdischen Volk und für die Förderung der jüdischen Gemeinde des zehn Millionen Einwohner zählenden Landes zu setzen, ist umso bemerkenswerter, da sich Aserbaidschan in einem geopolitisch brisanten Umfeld zwischen Russland, dem Iran und der Türkei befindet. Dies wird auch an der Frage der regionalen Zugehörigkeit des Landes deutlich: Aserbaidschan gehört zusammen mit Armenien und Georgien zum Südkaukasus, gleichzeitig teilt es die Grenze zum Kaspischen Meer mit Russland, Kasachstan, Turkmenistan und dem Iran. Als Mitglied der Östlichen Partnerschaft partizipiert Aserbaidschan an der Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union. Durch das Land verlaufen zentrale Verkehrswege der historischen wie der Neuen Seidenstraße; insbesondere seit der Wiederherstellung der territorialen Integrität im 44-Tage-Krieg von 2020 gegen Armenien und der perspektivischen Öffnung der Korridore von Lachin und Zangezur kommt diesem Aspekt eine wachsende Bedeutung zu. Aserbaidschan ist zugleich einer der Nachfolgestaaten der Sowjetunion und als solches Mitglied in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Die Liste der Einbindungen, welche die Identität des Landes beschreiben und prägen, ließe sich fortführen. Bei einem Blick in die aserbaidschanische Gesellschaft kommt zwei Elementen eine besondere Bedeutung zu, die von fundamentaler Bedeutung für die jüdische Minderheit des Landes sind: Die Verbindung von Nationalismus und Multikulturalismus als Grundkonstante einer Identität, die auf ein tolerantes Zusammenleben und staatliche Stabilität orientiert.
Prägende Geschichte
Die Ursprünge des Judentums im Kaukasus und auf dem heutigen Staatsgebiet Aserbaidschans lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Aus den bereits genannten geopolitischen Gegebenheiten ergab sich eine periphere Lage zwischen den imperialen Zentren des Russischen, des Osmanischen und des Persischen Reiches, die alle in variierendem Ausmaß die kulturellen Einflüsse auf das heutige Aserbaidschan prägen. Aus dieser Verbindung entstand eine große Heterogenität bei der Genese einer eigenständigen Identität, die stets auch die kaukasischen Bergjuden einschloss. Die heutige Nation blickt auf eine kurze Vorgeschichte republikanischer Tradition im 20. Jahrhundert zurück, der jedoch eine wichtige Bedeutung im historischen Selbstverständnis Aserbaidschans zukommt. Die von 1918-1920 zwar nur kurz bestehende Aserbaidschanische Demokratische Republik (ADR) war zur damaligen Zeit in vielen Bereichen ein Vorreiter nicht nur für muslimisch geprägte Länder: Ethnische Minderheiten waren in ihren Rechten und Pflichten weitestgehend gleichgestellt, Frauen verfügten über das Wahlrecht und Juden waren in der Person des Gesundheitsministers Yevsey Gindes in der Regierung der ADR vertreten. Während der darauffolgenden 70 Jahre der Sowjetherrschaft wurde die Ausübung der jüdischen Kultur und Tradition stark reglementiert. Nach der Unabhängigkeit 1991 und der Übernahme des Präsidentenamtes durch Heydar Aliyev 1993 entwickelten sich die Konstanten des gesellschaftlichen und politischen Lebens, die das Land und die Lebensbedingungen seiner zahlreichen ethnischen wie religiösen Minderheiten bis heute prägen.
Lebendiges Judentum
Die Jüdische Gemeinde Aserbaidschans zählt gegenwärtig etwa 47.000 Mitglieder, wovon etwa 37.000 der Bergjuden sephardischer Tradition angehören. Die meisten Bergjuden leben in Baku sowie in und um die Städte Guba und Oghuz im Norden des Landes. Die „Rote Siedlung“ (russ. Krasnaja Sloboda) im Gebiet Guba wird mehrheitlich von Bergjuden bewohnt, die in friedlicher Nachbarschaft mit ihren sunnitischen, schiitischen und christlichen Nachbarn leben. Die übrigen Angehörigen der Gemeinde setzen sich aus aschkenasischen Juden verschiedener Abstammung zusammen, die seit der der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf aserbaidschanischem Territorium leben. In Aserbaidschan werden acht Synagogen, zwei Kindergärten und fünf jüdische Schulen betrieben, letztere werden von etwa 1.500 Schülern besucht. Anders als in vielen anderen europäischen Ländern müssen diese Einrichtungen nicht durch eine permanente Polizeipräsenz geschützt werden.
Am 9. März 2003 wurde die restaurierte Synagoge der europäischen und georgischen Juden aschkenasischer Abstammung in Baku eröffnet. Diese ist als eine der größten Synagogen im postsowjetischen Raum international bekannt. Im Oktober 2010 öffnete die über 200 Jahre alte Synagoge der Bergjuden nach einer vollständigen Renovierung wieder ihre Türen. Auf Initiative von Präsident Ilham Aliyev wurde dieses Projekt von staatlicher Seite umfassend unterstützt. Die Vitalität und historische Verwurzelung des Judentums in Aserbaidschan ist darauf zurückzuführen, dass es in der Geschichte Aserbaidschans nicht zu Pogromen, Vertreibungen oder antisemitischen Gewaltausschreitungen kam.
In der Erinnerungskultur Aserbaidschans nimmt der Kampf für die territoriale Integrität des Landes und besonders die Region Karabach sowie die Stadt Shusha, die als Hauptstadt des kulturellen Erbes Aserbaidschans gilt, eine zentrale Rolle ein. Auch hier finden sich jüdische Spuren, so beispielsweise im Gedenken an den jüdischen Nationalhelden Albert Aqarunov, der bei der Verteidigung Shushas im Jahr 1992 gefallen ist. Sein Andenken findet sich heute in zahlreichen Orten und Straßen Aserbaidschans.
Friedlicher Multikulturalismus
Aserbaidschan, dessen Bevölkerung sich zu über 90 % zum Islam bekennt, verfolgt eine auf friedliches Zusammenleben verschiedener Kulturen, Traditionen und Glaubensbekenntnisse orientierte Politik. Dieses sich aus historischen, sozialen, kulturellen und politischen Faktoren speisende Modell des Multikulturalismus ist gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich das Land in der Kontakt- und Konfrontationszone zwischen drei regionalen Mächten befindet, umso bemerkenswerter. Der moderne aserbaidschanische Staat fördert Toleranz als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Den religiösen Gemeinschaften ist es möglich, ihre Traditionen frei zu leben und gleichzeitig von der staatlichen Förderung zu profitieren.
Israel hat als eines der ersten Länder die Unabhängigkeit Aserbaidschans am 25. Dezember 1991 anerkannt und am 6. April 1992 die diplomatischen Beziehungen aufgenommen. Die israelisch-aserbaidschanischen Beziehungen sind heute von großem wechselseitigem Vertrauen und einer engen Zusammenarbeit in Fragen der Wirtschaftsentwicklung, Energiepolitik sowie in Bezug auf die regionale Sicherheit geprägt. Trotz starker Proteste aus dem Iran, wo 20-30 Millionen ethnischer Aserbaidschaner leben, werden die politischen Beziehungen mit Israel von Aserbaidschan aktiv gepflegt. Diese Partnerschaft bietet für beide Seiten noch zahlreiche Möglichkeiten, sie zu intensivieren. Als fester Bestandteil des kulturellen und sozialen Lebens bildet Aserbaidschans jüdische Gemeinde ein wichtiges Fundament für diese besondere Freundschaft zwischen der Republik am Kaspischen Meer und Israel.
Über den Autor:
Urs Unkauf studierte Geschichte und Soziologie in Tübingen, Aix-en-Provence/Marseille und Berlin. Seit seiner Teilnahme an der internationalen Sommerakademie der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva 2016 verfolgt er die Entwicklungen in Israel und dem Mittleren Osten.
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