Anschlag im jüdischen Viertel von Paris 1982: Gerechtigkeit nach 40 Jahren?
Nach Jahrzehnten hat Norwegen endlich einen der mutmaßlichen arabischen Attentäter von 1982 zur Aburteilung an Frankreich ausgeliefert. Damals wurden sechs Gäste eines jüdischen Restaurants ermordet.
Der damalige Tatort in Paris, das koschere Restaurant „Chez Jo Goldenberg” © Foto: Vladimir Pletinsky
Am 4. Dezember 2020 landete auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle Walid Abdulrahman Abu Zayed, 62, verdächtigt des tödlichen Attentats von 1982 in der Rue des Rosiers im jüdischen Viertel von Paris. Die Anti-Terror-Abteilung der Pariser Staatsanwaltschaft erhob gegen ihn Anklage wegen Mordes und versuchten Mordes. Der Angeklagte befindet sich in Haft.
In Folge eines von Frankreich im Jahr 2015 erlassenen internationalen Haftbefehls wurde Abu Zayed von Norwegen ausgeliefert, wo er sich seit 1991 unter dem Namen Osman aufgehalten und 1997 die Staatsbürgerschaft des Landes erhalten hatte. Am 9. September 2020 war er in Südnorwegen festgenommen worden. Bis dahin war die Auslieferung nicht möglich gewesen, da das norwegische Recht die Auslieferung von Staatsbürgern ausschließt. Dies änderte sich 2019 mit Inkrafttreten des bilateralen Abkommens über die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen Norwegen und Frankreich. Walid Abdulrahman Abu Zayed, Vater von vier Kindern, beteuert seine Unschuld und behauptet, zur Zeit des Attentats in Monte Carlo gewesen zu sein.
Diese Auslieferung fast vier Jahrzehnte später ermöglicht ein Gerichtsverfahren, auf das die Opfer und deren Angehörige lange gewartet haben. Im Zuge dieses Verfahrens wurden mehrere Haftbefehle erlassen, darunter gegen die „Palästinenser“ Zuhair Mohammed Hassan Khalid al-Abbasi und Mahmoud Hader Abed Adra, die sich mutmaßlich in Jordanien befinden, sowie gegen einen weiteren Verdächtigen, der sich vermutlich in den „palästinensischen“ Gebieten Judäas und Samarias aufhält.
Abu Nidal
Zur Erinnerung: Das Attentat in den Räumen des koscheren Restaurants „Chez Jo Goldenberg“ im jüdischen Viertel Marais in der Rue des Rosiers in Paris vom 9. August 1982 mit sechs Toten und 22 Verletzten reklamierte zunächst keine Organisation für sich. Die Ermittlungen, die bis 2007 von Jean-Louis Brugière geleitet wurden, wiesen auf den Fatah-Revolutionsrat als Hauptverdächtigen hin, besser bekannt als Abu-Nidal-Organisation. Erst circa 32 Jahre später konnten die Angreifer dank anonymer Hinweise identifiziert werden. Die Ermittler sind der Ansicht, dass an dem Attentat drei bis fünf Mitglieder der Abu-Nidal-Organisation beteiligt waren.
Das Restaurant im jüdischen Viertel von Paris in der Rue des Rosier zählte jahrelang zu den Anziehungspunkten der französischen Hauptstadt. So wurde es unter anderem von Prominenten besucht wie dem italienischen Schauspieler Marcello Mastroianni und Neil Armstrong, dem amerikanischen Astronauten und ersten Mann auf dem Mond. Auch waren Minister der französischen Regierung und Parlamentarier zu Gast, interessiert an koscherem Essen, das sie zu Recht als wichtigen Beitrag zu einem gesunden Lebensstil erachteten.
Am 9. August 1982 um 13:30 Uhr, zur besten Zeit also um zu Mittag zu essen, befanden sich etwa 50 Gäste im Restaurant. Von der Straße aus wurde eine Granate in den Saal geworfen; danach stürmten bewaffnete Terroristen das Lokal und eröffneten aus Maschinenpistolen das Feuer. Drei Besucher waren sofort tot, 22 wurden verletzt, einige von ihnen schwer. Die Attentäter verließen das Restaurant, durchquerten das jüdische Viertel, während sie weiter auf Passanten feuerten, um sich den Weg freizuschießen, und konnten entkommen.
Gedenktafel entfernen?
Der Restaurant-Inhaber Jo Goldenberg war zur Zeit des Attentats nicht zugegen. Zum Ort des Geschehens zurückgekehrt, sah er Bilder, die sich für immer in seinem Gedächtnis einprägten: Im Blut liegende, stöhnende Menschen, zerstörte und zerschossene Einrichtung, Glassplitter… inzwischen wurden sechs Tote gezählt. Die Medien bezeichneten diesen schrecklichen Pogrom als „den schlimmsten Angriff auf Juden im Frankreich der Nachkriegszeit“. Der Terroranschlag erschütterte das Land; an der Abschiedszeremonie für die Opfer nahm auch Staatspräsident François Mitterrand teil. Eine an der Wand des Restaurants angebrachte Marmortafel verewigt die Erinnerung an die Ermordeten. Zwar gab es Jahre später eine Diskussion, die Tafel zu entfernen mit der Begründung, über das „Ereignis“ sei die Zeit hinweggegangen. Doch konnten die jüdischen Organisationen mit ihrem Gesuch beim Pariser Bürgermeister erreichen, dass die Gedenktafel an ihrem Platz verblieb und restauriert wurde.
2007 sah sich Jo Goldenberg aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, das Restaurant zu schließen. Nach Wiederherstellung der Räume wurde dort ein Markenjeans-Geschäft eröffnet. Heute finden sich an diesem Ort kaum noch Spuren der Tragödie von 1982. Ebenfalls spurlos verschwanden sind die Täter, die damals das Land ungehindert verlassen konnten. Die Hinterbliebenen verloren jedoch nicht die Hoffnung, dass die Terroristen eines Tages identifiziert und verurteilt würden.
Die französische Polizei war durchaus engagiert
Zu Ehren der französischen Polizei ist festzustellen, dass sie die Ermittlungen nie einstellte. Deren Spezialisten reisten in den Nahen Osten, und – mit einem erheblichen Risiko für das eigene Leben – unternahmen sie mehrere Versuche, einen Faden zu finden, der geholfen hätte, den gesamten Knoten zu lösen. So vermutete man ursprünglich irgendeine Neonazi-Gruppierung hinter der Gräueltat; eine Beteiligung der Irischen Republikanischen Armee wurde ebenfalls nicht ausgeschlossen. Und erst 2010 konnte man schließlich jene Organisation ausmachen, die den Terroranschlag vom 9. August 1982 wirklich zu verantworten hatte: Den Fatah-Revolutionsrat, die Organisation des internationalen Terroristen Abu-Nidal, auf dessen Konto nicht weniger als 120 Terrorattacken in 20 Ländern gingen, die mehrere hundert Todesopfer forderten. 2002 wurde Abu Nidal in Bagdad erschossen.
Im Zuge der Ermittlungen stellte man fest, dass der Terrorangriff auf das Restaurant „Jo Goldenberg“ als Antwort islamistischer Kämpfer geplant wurde auf die Vorstöße der IDF gegen die organisierten „palästinensischen“ Terrorgruppen während des Ersten Libanonkriegs (dem Ersten Libanonkrieg gingen zahlreiche „palästinensische“ Terrorangriffe auf den Norden Israels voraus, die in den späten 1970er Jahren vom Libanon aus verübt wurden. Am 6. Juni 1982 kam es dann zu einem „palästinensischen“ Attentat auf den israelischen Botschafter in Großbritannien, infolgedessen israelische Truppen in den Libanon einmarschierten, um die militante PLO aus dem Libanon zu vertreiben und die Nordgrenze Israels zu sichern, - Anm. d. Übers.). Die Terroristen verwendeten 9-mm-Maschinenpistolen, die in Polen angefertigt worden waren, um eigene Spezialeinheiten auszurüsten.
Ehemalige Abu-Nidal-Mitglieder halfen bei der Suche nach den Tätern
Die Namen der brutalen Angreifer vom 9. August 1982 konnten mit Hilfe ehemaliger Mitglieder der Abu-Nidal-Organisation nach Abu Nidals Tod festgestellt werden. Die Organisation fiel auseinander; ihre Mitglieder hatten im Laufe der Jahre zahlreiche „Schulden“ gegenüber den Strafverfolgungsbehörden angesammelt und verfügten über Informationen, die ihnen im Zuge eines entsprechenden Deals das Gefängnis hätten ersparen können.
So wurden die die Tat ausführenden Attentäter in einer Publikation der Illustrierten „Paris Match“ 33 Jahre nach der Tat namentlich erwähnt: Walid Abdulrahman Abu Zayed und Mahmoud Khader Abed Adra alias Hicham Harb. Der Erste hatte bereits die norwegische Staatsbürgerschaft erhalten und lebte in Oslo; der Zweite wechselte den Namen und hielt sich mutmaßlich irgendwo in Judäa oder Samaria auf. Ein weiterer, dritter Terrorist namens Zuhair Muhammad Hassan Khalid al-Abbasi alias Amiad Atta soll in Jordanien ansässig sein; ihm wird zur Last gelegt, die Attentäter versteckt, mit Waffen versorgt sowie die Fluchtwege nach dem Massaker gesichert zu haben.
Fast wäre er dank Norwegen unbehelligt geblieben
Im Februar 2015 wurde in Paris der internationale Haftbefehl gegen die drei mutmaßlichen Täter erlassen. Was dann geschah, hätte man vermuten können. Die Führung der „Palästinensischen Autonomiebehörde“ konnte mit ihren „Bemühungen“ den genauen Aufenthaltsort von Mahmoud Abed nicht feststellen, und Norwegen weigerte sich schlicht, seinen Bürger an Frankreich auszuliefern: Das norwegische Recht, ließ man aus Oslo wissen, läßt keine Auslieferung eigener Bürger zu. Mehr noch: Es wurde mitgeteilt, dass der „Palästinenser“, der seit 1991 in Norwegen lebt, auch nicht verhaftet werde, weil das erlassene Gesetz über die Aufhebung der 25-jährigen Verjährungsfrist nicht rückwirkend gelte. Abu Zayeds Frau betonte, dass ihr Mann an dem Terroranschlag in Paris nicht beteiligt und gar nie in Frankreich gewesen sei. Allein die jordanischen Behörden nahmen gemäß dem Haftbefehl der französischen Justiz al-Abbasi bereits im August 1982 als mutmaßlichen Drahtzieher des Pariser Anschlags fest.
Dennoch hat in diesem Fall die Hartnäckigkeit der französischen Polizei Wirkung gezeigt; so konnten die norwegischen Behörden überzeugt werden, Abu Zayed der französischen Justiz zu auszuliefern. Es ist davon auszugehen, dass diese über genügend Beweise seiner Beteiligung an dem Massaker vom 9. August 1982 in der Rue des Rosiers verfügt. Jo Goldenberg konnte diese Entwicklung, dass endlich die Chance da war, einen der Terroristen vor Gericht zu bringen, leider nicht mehr erleben (Jo Goldenberg starb im Mai 2014 in Israel im Alter von 91 Jahren, - Anm. d. Übers).
Übersetzung aus dem Russischen von Irina Korotkina
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