Die ungenannten jüdischen Opfer: Jedes der Opfer, das nur deshalb ermordet wurde, weil es jüdisch ist, hat auch einen Namen.
In Deutschland bleiben die Morde an Juden durch Politik und die Medien häufig deshalb entthematisiert, weil die überwiegend islamischen Täter nicht in das heile Multikulti-Bild unserer Politik passen. Aber ohne Namensnennung und Veröffentlichung der Bilder werden jedoch selbst jene jüdischen Menschen, die erst in den letzten Jahren ermordet wurden, schnell von der Öffentlichkeit vergessen.
Die Familie von Rina Shnerb betrauert den Verlust der 17-jährigen Jüdin, die am 23. August 2019 von Arabern, die der PFLP angehören, ermordet wurde.© JACK GUEZ, AFP
Die Geschichte der Juden ist von Anbeginn geprägt von Hass und Mord – nicht nur die Bibel zeugt davon, auch die spätere Geschichte bietet immer wieder beredtes Zeugnis. Die historische Ausgrabungsstätte Masada zeugt vom jüdischen Behauptungswillen, zugleich ist sie für das heutige Israel zum Symbol für den Widerstand gegen übermächtige Besatzer geworden – auch wenn nach heutigem Kenntnisstand wohl nur zwei Frauen und fünf Kinder den kollektiven Mord und Selbstmord überlebten, der in auswegloser Lage verhindern sollte, in die Hände des Feindes zu fallen.
Seitdem hat es immer wieder Morde – und Massenmorde – an Juden gegeben. Pogrome und der Holocaust in deutschen Konzentrationslagern waren traumatische Erfahrungen und bleiben es bis in die heutigen Tage, nicht nur in den arabischen Staaten, in denen die Vertreibung fortgesetzt andauert, sondern auch im Rest der Welt. Sogar in Israel – und besonders im jüdischen Kernland Samaria und Judäa, einem Landstrich, der in weiten Teilen der Welt gerne als „Westjordanland“ bezeichnet wird. 1947 war der Landstrich einem neuzugründenden arabischen Staat zugesprochen worden, 1948 wurde er von Jordanien besetzt und 1950 schließlich annektiert. Im Sechstagekrieg 1967 wurde das Land von Israel erobert und steht seither unter israelischer Militärverwaltung. Ein Status quo, der gerade im Hinblick auf die Sicherheit des restlichen Landes für Israel unabdingbar ist. Nicht zuletzt aus militärisch-strategischer Sicht wurden so auch die Siedlungen wichtiger Bestandteil israelischer Defensivpolitik, darüber hinaus sind die Gebiete für religiöse Juden auch ein Teil des Landes, in dem einst ihre Vorfahren lebten.
Tote in Judäa und Samaria
Auch wenn die jüdischen Siedlungen gut geschützt, die Bewohner bewaffnet und militärisch durch Armeeangehörige abgesichert sind, kommt es selbst in diesen Gebieten immer wieder zu Mordanschlägen auf Juden – von der deutschen Öffentlichkeit nur wahrgenommen, wenn über „Vergeltung“ berichtet werden kann – wobei die deutschen Medien vor kruden Formulierungen wie „Rachemord schaukelt Gewalt in Jerusalem hoch“ nicht zurückschrecken. Mit dieser Überschrift präsentierte t-online am 2. Juli 2014 die Folgen der Ermordung dreier junger Israelis, jüdischer Religionsschüler, die über zwei Wochen nach ihrer Entführung am 12. Juni 2014 tot aufgefunden worden waren. Die Jugendlichen waren so unvorsichtig gewesen zu trampen und hatten offensichtlich nicht darauf geachtet, wer für sie angehalten hatte. Sie wurden südlich von Jerusalem entführt, ihre Leichen wurden später auf einem Feld in der Nähe von Hebron gefunden. Dass dies den Zorn der jüdischen Bevölkerung zur Folge hatte, ist nicht verwunderlich. Dass die Gewalt angesichts existentieller Bedrohungen besonders hoch kocht, sicher auch nicht.
Auch wenn die Ermordung eines „palästinensischen“ Jugendlichen durch nichts gerechtfertigt ist, muss man feststellen, dass eine Berichterstattung in den deutschen Medien erst dann erfolgt, wenn das Geschehen ins Bild passt. Jüdische Opfer interessieren in Deutschland wenig. Auch die Überschriften der Deutschen Welle, die das Geschehen ebenfalls nach dem Ausbruch weiterer Gewalttätigkeiten aufgriffen hat, lassen ein sehr eindeutiges Bild über den „Nahostkonflikt“ erkennen: am 9. Juli hieß es „Eskalation in Nahost – eine Chronologie“. Am 12. Juli 2014 „Rechte in Israel – In der Mitte der Gesellschaft angekommen“, wobei der einleitende Satz deutlich macht, dass es nicht um verbriefte Rechte, sondern eine nicht weiter ausgeführte politische Einstellung geht: „Nicht erst seit den jüngsten Mordfällen gibt es in Israel eine extreme Rechte, die gegen die Palästinenser hetzt.“
Namenlose jüdische Mordopfer
Ermordet worden waren, wenn man den deutschen Medien folgt, drei israelische Jugendliche und der junge „Palästinenser“ Mohammed Abu Khudair, 16. Während es ein Leichtes ist beim Recherchieren auf den Namen des „palästinensischen“ Jugendlichen und ein sympathisch wirkendes Foto von ihm zu stoßen, sucht man die Namen der jüdischen Jugendlichen, die von den meisten Medien nur als „jüdische Religionsschüler“ bezeichnet werden, vergeblich. Die „Zeit“ titelt am 30. Juni 2014 „Entführte israelische Jugendliche tot aufgefunden“ und würdigt sie immerhin mit einem Foto, das von einer Frau gehalten wird; das Foto wirkt fremd, da die Frau nach orthodoxer jüdischer Sitte ein Kopftuch trägt, die Jugendlichen wirken starr. Wahrscheinlich ist es eine Fotomontage, die die Botschaft „Bring back our boys“ – bringt unsere Jungs zurück – vermitteln soll. Die Opfer bleiben in dem Artikel konsequent namenlos und offensichtlich geht es den Autoren darum, dass nun die übliche „Gewaltspirale“ in Gang kommen wird, wie der Teaser zeigt: „Die Leichen der drei im Westjordanland verschollenen Siedlerkinder sind gefunden worden. Israels Ministerpräsident Netanjahu droht der Hamas mit Vergeltung.“ Es sind also „Siedlerkinder“ – mit anderen Worten, selbst schuld. Die ermordeten Jugendlichen, deren Namen den deutschen Medien keine Erwähnung wert ist, sind Naftali Fraenkel, 16 Jahre alt und aus Nof Ayalon, Gilad Shaer, 16, aus Talmon und Eyal Yifrah, 19, aus El’ad. Zwei Mitglieder der Hamas aus Hebron, die verdächtigt wurden die Tat begangen zu haben, wurden in einer Bodenoffensive getötet, ein dritter Tatverdächtiger wurde zu lebenslanger Haft und Zahlung einer Geldsumme an die Familien verurteilt.
Auch andere israelische Opfer werden in Deutschland nicht gern erinnert. Da ist der Mord in Itamar am 20. Juni 2002. Eine Gruppe militanter „Palästinenser“, die sich als „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ bezeichnete, drang gegen 21 Uhr in Itamar, einer kleinen Ansiedlung zwischen Ariel und Nablus, ein und schoss um sich. Schließlich brachen sie in ein Haus ein und erschossen eine Mutter mit ihren drei Kindern: Rachel Shabo, 40 Jahre, sowie ihre Kinder Neria (15), Zvika (12) und Avishai (5). Darüber hinaus wurde der Leiter des israelischen Sicherheitstrupps Yoseph Twito, 31 Jahre alt und Vater von fünf Kindern, bei dem Versuch, die Mörder zu stellen, erschossen. Insgesamt wurden acht Israelis, darunter zwei weitere Kinder der Familie, verletzt, ehe es israelischen Soldaten gelang, das Haus zu stürmen und die Angreifer zu töten. Der Vater der getöteten Kinder sowie zwei der Kinder blieben unverletzt. Das Haus der Familie ging in Flammen auf. In den deutschen Medien findet sich darüber nichts. Erst am 3. November 2019 berichtet die „Bild“-Zeitung von einem Überlebenden des Massakers, Asael Shabo, dass er im Alter von neun Jahren „durch die Hölle ging“ als seine Mutter Rachel und drei Geschwister grausam ermordet wurden. Spurlos ging der Anschlag an ihm selbst nicht vorüber: Sein rechtes Knie wurde zertrümmert, er verlor ein Bein. Seinen Lebensmut hat er nicht verloren, er wurde zu einem der besten Schwimmer des Landes. Das war immerhin eine Meldung wert – und ist wirklich eine außerordentliche Leistung.
Itamar war 2002 und 2011 Schauplatz von Familien-Massakern
Itamar war auch Schauplatz des Mordes an der Familie Fogel, der als Massaker in die Annalen der Gewalt gegen Juden einging und in den deutschen Medien ebenfalls so gut wie keine Aufmerksamkeit erhielt. Nur Jörg Lau von der „Zeit“ schreibt am 14. März 2011, drei Tage nach dem Anschlag: „Wegen anderer Nachrichten wird eine Tat nicht genügend wahrgenommen, die womöglich gravierende Folgen haben wird: Das abscheuliche Massaker an einer Familie israelischer Siedler im Westjordanland. Das Ehepaar Fogel und drei ihrer Kinder wurden vor wenigen Tagen in der Siedlung Itamar auf grausame Weise ermordet. Einem drei Monate alten Baby wurde die Kehle durchgeschnitten.“ Auch hier: Abgesehen vom Nachnamen bleiben die Opfer namenlos, und auch hier geht es um die „womöglich gravierenden Folgen“ – die natürlich nicht näher ausgeführt werden. Sonst wäre auch hier die Nachricht trotz der besonderen Umstände wohl keine Meldung gewesen. Das wird weiter im Text noch einmal ausführlich begründet: „Aber jenseits jeder Debatte über die israelische Politik muss man sich diese Tat vor Augen halten: Sie ist in ihrer Bestialität in der Tat so erschreckend, dass sich ein Abgrund öffnet. Eine Familie, im Schlaf abgeschlachtet. Das hat etwas von Ritualmord. Die Kombination der Bilder von den in ihrem Blut liegenden Fogels mit denen von den Süßigkeitenverteilern in Rafah wird nicht ohne Wirkung auf die israelische Psyche bleiben.“ Also wieder die Anspielung darauf, dass der Mord Rachegedanken nach sich ziehen wird.
In der Tat war dieser Mord besonders grausam und blutig und wieder traf es eine Familie, die sich zufällig im falschen Augenblick am falschen Ort aufhielt. Sie wurde im Schlaf überrascht: Am 11. März 2011 drangen zwei junge Araber aus dem Dorf Awarta in das Haus ein und ermordeten die Familie in ihren Betten: den Vater Ehud Fogel, die Mutter Ruth und drei ihrer sechs Kinder: Yoav (11), Elad (4) sowie den drei Monate alten Säugling Hadas, der enthauptet wurde. Die Bilder des Tatortes, die in der israelischen Presse gezeigt wurden, sind entsprechend blutig. Die Attentäter, die sich stolz zu ihrer Tat bekannten, wurden verurteilt, ohne dass sie Anzeichen von Reue zeigten. Auch wenn die Vereinten Nationen die Tat verurteilten, blieb der öffentliche Aufschrei moderat und laut einer Umfrage befürworteten die „Palästinenser“ mehrheitlich die Ermordung. Die Mörder wurden als Helden gefeiert – auch dies ein Fakt, den die deutsche Öffentlichkeit nicht bereit ist wahrzunehmen.
Antijüdische Gewalt weltweit: Argentinien, München
Sicher ist es in diesem Zusammenhang noch einmal wichtig zu erwähnen, dass nach dem Bau der Sperranlagen, die von „palästinensischer“ Seite gerne als „Mauer“ bezeichnet und für Deutsche einleuchtend, aber fälschlicherweise gerne mit der Berliner Mauer verglichen werden, die Zahl der Selbstmordattentate im israelischen Kernland auf fast Null gesenkt werden konnte. Sprengstoffattentate sind gar nicht mehr möglich, vereinzelt erfolgen Messerattacken, die aber in der Regel schnell gestoppt werden können. Auch dies zeigt, dass die einzige Chance für Juden in Frieden zu leben eine offensive Defensive ist. Allerdings sind Juden und Menschen, die sich für das jüdische Leben interessieren, auch in anderen Teilen der Welt gefährdet. Am 18. Juli 1994 starben nach einem Selbstmordattentat vor dem jüdischen Gemeindezentrum in Buenos Aires 87 Menschen. Der Attentäter hatte mehrere hundert Kilogramm Sprengstoff aus Ammoniumnitrat und Heizöl zur Explosion gebracht. Bereits am 17. März 1992 hatte eine Autobombe vor der israelischen Botschaft in Buenos Aires 29 Menschen getötet und 242 verletzt. Die Ermittlungen – vermutet wurden Aktivitäten der vom Iran finanzierten schiitischen Hisbollah – liefen ins Leere. Die Ermittlungen nach dem zweiten Attentat, bei dem ebenfalls islamistische Drahtzieher vermutet wurden, verliefen nur schleppend und wurden von höchster Seite behindert. Der ermittelnde zuständige Sonderstaatsanwalt Alberto Nisman wurde wenige Tage, nachdem er Anklage gegen die Präsidentin Christina Kirchner wegen Behinderung der Ermittlungen erhoben hatte, in seiner Wohnung erschossen. Der Mörder wurde nie gefunden.
Auch in Europa werden die Zeiten für Juden wieder gefährlicher. In vielen Fällen ist es nur dem Glück zu verdanken, dass es keine Toten gab. Das war aber nicht immer so. Das Attentat während der Olympischen Spiele in München 1972 auf israelische Sportler mit 17 Toten darf genauso wenig in Vergessenheit geraten wie das Attentat auf das jüdische Altersheim in München 1970, bei dem sieben Menschen starben sowie der Rohrbombenanschlag am 27. Juli 2000 in Düsseldorf auf zehn russische Migranten mit jüdischem Hintergrund. Eine Schwangere verlor dabei ihr Kind. Die Liste lässt sich endlos fortführen, und es ist immer wieder glücklichen Umständen zu verdanken, dass es keine Katastrophen gibt – so wie zuletzt in Halle, wo der Täter allerdings frustriert darüber, dass es ihm nicht gelungen war, die Synagoge zu stürmen, zwei zufällig im Weg befindliche Passanten erschoss.
Tod in Toulouse
Am 19. März 2012 fuhr ein Attentäter gegen acht Uhr vor dem jüdisch-orthodoxen College Ozar Hatorah vor und erschoss vier Menschen: den Rabbiner Yonatan Sandler und seine beiden Söhne Aryeh (3) und Gavriel (6) sowie die Tochter des Schulleiters Myriam Monsonego. Myriam Monsonego wurde acht Jahre alt. Mehrere Menschen wurden bei dem Anschlag verletzt. Bereits in den Tagen zuvor hatte es bei Anschlägen in Frankreich drei Tote gegeben, Fallschirmjäger nordafrikanischer Abstammung. Das Attentat löste eine Welle der Trauer und des Entsetzens aus – die Illustrationen zum Anschlag zeigen allerdings Mitglieder der orthodoxen jüdischen Gemeinschaft, es gibt ein Foto der Familie Sandler mit ihren Kindern. Myriam Monsonego bleibt als „die Tochter des Schulleiters“ nicht mehr als ein anonymes Opfer. In den deutschen Medien bleiben wieder alle Opfer namenlos. Im „Spiegel“ steht über den Mordanschlag: „Neben dem 30-jährigen französisch-israelischen Religionslehrer starben seine beiden kleinen Kinder sowie die zehnjährige Tochter des Schuldirektors, bevor der Täter auf seinem Motorroller davonfuhr. Ein 17-jähriger Schüler wurde schwerverletzt.“ Weiter heißt es in dem „Spiegel“-Artikel vom 19. März 2012: „Was die Franzosen schockiert, ist nicht nur der Tod unschuldiger Kinder und der schwerste Angriff auf eine jüdische Einrichtung seit 30 Jahren. Es ist auch die Tatsache, dass der Täter innerhalb der vergangenen acht Tage wahrscheinlich schon dreimal zuschlug – immer auf ähnliche Art. Eine Person fuhr demnach am helllichten Tag mit dem gleichen Motorroller vor und feuerte gezielt auf seine Opfer. In den ersten beiden Fällen schoss er auf Angehörige des französischen Militärs, von denen der Täter drei tötete und einen schwer verletzte“. Und auch die Politiker übten sich in den entsprechenden Phrasen. „Nichts ist unerträglicher als die Ermordung unschuldiger Kinder“, ließ der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso verlauten. Und der damalige Bundesaußenminister Guido Westerwelle äußerte sich „tief bestürzt“. In Berlin ließ er mitteilen: „Antisemitismus und Gewalt gegen jüdische Einrichtungen oder Menschen jüdischen Glaubens haben in Europa keinen Platz und müssen konsequent geahndet werden“. Über die Toten als Menschen wird der Mantel des Schweigens gehüllt. Es blieb den jüdischen Medien und der jüdischen Gemeinde Toulouse überlassen, ihre Namen bekanntzumachen. Die Bilder, die wir mit dem Anschlag verbinden, zeigen orthodoxe Juden und Polizisten, die den Tatort sichern – das rückt das Geschehen, das sich mitten in Europa ereignete, in exotische Ferne.
24. Mai 2014. Ein weiterer Anschlag erschüttert Europa. Diesmal ist das jüdische Museum in Brüssel das Ziel. Vier Menschen sterben: Ein Ehepaar aus Tel Aviv, eine französische Praktikantin und eine belgisches Museumsangestellte. Die „Frankfurter Allgemeine“ schildert den Vorfall so: „Nach Schilderung des Museums wurden die beiden israelischen Touristen im Eingangsbereich getötet. Dann habe der Mann auf zwei weitere Personen geschossen, die für das Museum arbeiteten. Mehrere Quellen berichten von Schüssen ins Gesicht und in den Halsbereich. Schließlich flüchtete der Mann. Das Museum teilte mit, es habe weder Informationen noch Erklärungen für den Überfall.“ Der Attentäter wurde zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilt, ein Komplize erhielt 15 Jahre Haft. Während die Namen der Attentäter problemlos im Internet aufzufinden sind, bleiben die Ermordeten anonym – daran ändert auch ein Artikel in Wikipedia nichts.
Immer wieder Frankreich
Am 9. Januar 2015 traf es erneut Juden in Frankreich. Die Täter drangen in Paris in einen koscheren Supermarkt ein und nahmen Geiseln. Der in Mali geborene muslimische Angestellte des Geschäfts, Lassana Bathily, brachte mehre Juden in Sicherheit und erhielt in Anerkennung für seine Verdienste eine Auszeichnung sowie die französische Staatsbürgerschaft. Der Überfall endete mit vier Toten – jüdische Franzosen, die bereits vor dem Eingreifen der Polizei erschossen worden waren: Yohan Cohen, 22, Angestellter des Supermarktes, Yoav Hattab, 21, Sohn eines tunesischen Rabbiners, der in Marseille studiert hatte und sich in der Synagoge des Pariser Vororts Sarcelles engagierte, Philippe Braham, 45, IT-Berater und Familienvater sowie François-Michel Saada, der ebenfalls aus Tunesien stammte und dessen Kinder in Israel leben. Alle vier wurden in Jerusalem beigesetzt. Über die Opfer berichteten die deutschen Medien nicht. Die Überschrift im „Spiegel“ lautete: „Sabbat der Ängste“. Und die Einführung in den Titel gibt die Richtung vor, in die die europäischen Juden nun zu gehen haben: „Nach dem Anschlag auf den koscheren Supermarkt in Paris wächst die Furcht vor einem mörderischen Antisemitismus: Manche französische Juden entscheiden sich für den Exodus – Richtung Israel.“
Paris blieb im Fokus des Hasses. Am 4. April 2017 wurde die jüdische Französin Sarah Halimi schwer misshandelt und anschließend aus dem Fenster gestoßen. Halimi war pensionierte Ärztin und Mutter dreier Kinder. Die „Jüdische Allgemeine“ berichtete unter dem Titel „Kennen Sie Sarah Halimi?“ und kritisierte, dass in Frankreich „ein antisemitisch motivierter Mord bloß als irgendeine Gewalttat dargestellt“ wurde. Mörder war ein junger muslimischer Nachbar. Am 23. März 2018 wurde die in Paris geborene Mireille Knoll in ihrer Wohnung mit elf Messerstichen getötet. Auch hier war ein muslimischer Einzeltäter der Mörder. Die „taz“ titelte am 20. März 2018 „Mord an Jüdin Mireille Knoll: Kein Einzelfall“.
In der Tat hatten sich die Schreckensmeldungen gehäuft. Nicht zuletzt deshalb hat die EU seit 2015 eine Antisemitismusbeauftragte, die die Bekämpfung von Antisemitismus in Europa koordiniert. Damit sind zwar nicht alle Probleme behoben, aber zumindest ist das Bewusstsein gewachsen und ein politisches Instrument geschaffen worden, das handlungsbefugt ist, Antisemitismus zu identifizieren und gegen ihn vorzugehen. Seit Ende 2019 ist die Beauftragte Katharina von Schnurbein mit einem neu eingesetzten Team direkt beim Vizepräsidenten der EU in Griechenland angesiedelt, in dessen Zuständigkeitsbereich auch Bildung und Migration fallen.
Auch die USA sind kein sicherer Ort mehr für Juden
Düsterer sieht die Lage derzeit in den Vereinigten Staaten von Amerika aus, einem Land, in dem Juden einst relativ unbehelligt leben konnten. Seit wenigen Jahren mehren sich auch hier die Vorfälle, bei denen es Tote und Verwundete gibt. Dabei kommen die Täter nicht nur aus der islamistischen Ecke – die BDS-Bewegung ist mit Unterstützung der aus den entsprechenden Regionen stammenden Studenten und Professoren in den Universitäten der USA besonders stark vertreten –, sondern gerade auch aus einem rechtsextremen Spektrum, das schon immer virulent in Amerika vertreten und mehr oder weniger aktiv war. So bleiben auch die USA in den letzten Jahren nicht von antisemitischen Morden verschont. Zunehmend wächst die Bereitschaft zur Gewalt – besonders im Zusammenhang mit jüdischen Feiertagen, so wie zuletzt ja auch in Deutschland an Jom Kippur.
Am 27. Oktober 2018 gegen 9:50 Uhr Ortszeit betrat ein bärtiger weißer Mann die Synagoge „Tree of Life“ – Baum des Lebens, in Pittsburgh und begann mit einer halbautomatischen Waffe um sich zu schießen. Als erstes ermordete er die Brüder Cecil und David Rosenthal, die sich in der Nähe des Haupteingangs aufhielten. Der nächste Tote war Melvin Wax, der sich zusammen mit drei anderen Betern in einem Schrank versteckt hatte. Der Mörder erschoss dann Richard Gottfried und Daniel Stein, die sich in der Küche befanden. Das nächste Opfer war der Arzt Jerry Rabinowitz, der nachsehen wollte, ob jemand verletzt worden war. Fünf weitere Beter wurden im Gebetsraum erschossen: Joyce Fienberg, Rose Mallinger, Bernice und Sylvan Simon sowie Irving Younger. Der 46-jährige Schütze, der noch weitere Personen, darunter drei Polizisten verletzte, wurde verhaftet. Während des Angriffs hatte der Mörder geschrien: „All Jews must die“ – alle Juden müssen sterben. Die Motivation des Täters war antisemitisch, inspiriert von rechten Kreisen und Neo-Nazis. Elf Juden starben innerhalb weniger Minuten – eine Tragödie, die schnell wieder in Vergessenheit geraten ist.
Am 27. April 2019 wurde bei einem Anschlag auf die Chabad-Synagoge in der kalifornischen Kleinstadt Poway Lori Gilbert-Kaye, eine 60-jährige Frau, die sich dem Attentäter in den Weg gestellt hatte, getötet. Der Attentäter, ein 19-jähriger aus San Diego, der zuvor polizeilich nicht auffällig geworden war, hatte die Synagoge, in der etwa hundert Personen den letzten Tag des Pessachfestes feierten, mit einem Sturmgewehr vom Typ AR-15 betreten und unmittelbar darauf angefangen zu schießen. Drei weitere Personen wurden verletzt, unter ihnen ein 8-järiges Mädchen und der Rabbiner der Gemeinde, Yirsroel Goldstein, der bei dem Anschlag zwei Finger verlor. Der Prozess in San Diego, bei dem dem Mörder die Todesstrafe droht, begann am 2. Juni 2020.
Im Dezember 2019 wurden in New York bei einer Anschlagserie mit mehr als einem Dutzend Vorfällen sieben Menschen getötet. Der folgenschwerste Vorfall ereignete sich am 10. Dezember in einem koscheren Supermarkt in New Jersey, bei dem sechs Menschen starben, darunter ein Polizist und die beiden Täter. Ermordet wurden ein Angestellter des Supermarkts, der 49-jährige Douglas Miguel Rodriguez aus Ecuador, Leah Mindel Ferencz, 33, die zusammen mit ihrem Mann das Geschäft geführt hatte und der Jeschiwa-Student Moshe Hirsch Deutsch, 24, aus Brooklyn. Die Täter, ein befreundetes Paar, hatten offenbar Verbindungen zu einer explizit antisemitischen Hassgruppe und sich entsprechend für ihrem Anschlag mit Waffen ausgerüstet. In dem von den Tätern gestohlenen Wagen wurde eine Rohrbombe gefunden.
Der zweite Vorfall bei dem ein Mensch getötet wurde ereignete sich bei Chanukkafeierlichkeiten im Haus des chassidischen Rabbiners Chaim Rottenberg in der Ortschaft Monsey, etwa 40 Kilometer nördlich von New York. Ein Mann brach am 28. Dezember abends in das Haus des Rabbiners ein und stach wahllos auf Gäste ein. Bei der Waffe des Täters handelte es sich um eine Art Machete mit einer über 40 Zentimeter langen Klinge. Auch bei dieser Tat handelte es sich offensichtlich um eine explizit antisemitische Hasskriminalität. Ermittler fanden auf dem Handy des Täters Links zu antisemitischen Webseiten und stellten fest, dass er potenzielle jüdische Ziele in Monsey ausgeforscht hatte. Der Anwalt des Täters erklärte, sein Mandant habe zum Tatzeitpunkt unter „Halluzinationen“ gelitten und sei unzurechnungsfähig gewesen. Der 72-jährige Rabbiner Josef Neumann, der bei diesem Messerangriff schwer verletzt worden war und monatelang im Koma gelegen hatte, starb am 29. März 2020 im Westchester Medical Center in Valhalla, wohin er nach dem Anschlag wegen der schweren Verletzungen gebracht worden war.
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