Die Gestrandeten: Jüdische „Displaced Persons“

Ein Neubeginn im Nachkriegsdeutschland

© TIMOTHY A. CLARY , AFP

Von Dana Nowak (Israelnetz)

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Millionen Menschen aus ihrer Heimat herausgerissen und konnten nicht mehr zurück – sogenannte Displaced Persons. Unter ihnen waren Hunderttausende Juden, die die Gräuel der Scho‘ah überlebt hatten. Ausgerechnet in Deutschland begann für viele von ihnen ein neues Leben.

„Das bin ich. Und hier ist mein Zwillingsbruder“, ruft ein grauhaariger älterer Herr überrascht aus und zeigt auf eine Ausstellungstafel mit alten Schwarz-Weiß-Fotos. Dann umarmt er freudig und bewegt zwei Frauen. Alle haben Tränen in den Augen.

Es sind berührende Szenen, die sich am Abend des 22. September in der Katholischen Universität Eichstatt-Ingolstadt abspielen. Der Mann ist Yossi Zinger aus Israel. Er ist eines von zehn sogenannten Eichstätt-Babies, die in diesen Tagen in der bayerischen Kleinstadt zu Besuch sind.

In den Reisepässen der Israelis ist als Geburtsort Eichstätt vermerkt. Jahrzehnte lang wussten diese Menschen nicht, was es damit auf sich hat. Sie wurden zwar in Friedenszeiten geboren, doch ihre Eltern kommen aus einer Zeit des Krieges und haben die Gräuel des Holocaust überlebt. Nach dem Krieg waren sie sogenannte Displaced Persons – Menschen, die während des Zweiten Weltkrieges verschleppt oder deportiert wurden, und sich nach der Befreiung durch die Alliierten außerhalb der Grenzen ihrer Heimatländer wiederfanden.

 

Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Überlebende von Konzentrationslagern waren betroffen, Juden und Nichtjuden – vor allem aus Osteuropa. Für die vorübergehende Unterbringung dieser Menschen, die oft am Ende ihrer Kräfte waren, keine Papiere hatten und nicht wussten, wohin sie sich wenden sollten, richteten die Alliierten Lager ein. Eines davon befand sich in Eichstätt.

Wie viele Überlebende der Scho‘ah haben auch die Eltern der Eichstätt-Babies nicht mit ihren Kindern über die Vergangenheit gesprochen. Und so kam es, dass die meisten der in dem Lager geborenen Kinder fast nichts über ihre Geburtsstadt und die Geschichte ihrer Eltern in Deutschland oder Europa wussten.

 

Eine Einladung in die Geburtsstadt

Doch das sollte sich ändern: Die Historikerin Julia Devlin vom „Zentrum Flucht und Migration“ an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Lokalhistoriker und Psychologe Maximilian Ettle stellten Nachforschungen zu den Camps an. Sie suchten Sponsoren, um in Eichstätt geborene Juden einzuladen und ein Symposium veranstalten zu können. Ettle machte in Israel zehn Juden aus, die in dem Lager geboren wurden oder als Babies dort hinkamen. Er nahm Kontakt zu ihnen auf.

„Ich musste natürlich erst sichergehen, ob das die Personen sind, die ich ausfindig gemacht habe. Denn die Leute haben ja oft in Israel die Vornamen geändert. Viele Frauen haben natürlich die Familiennamen gewechselt.“ Auf die Nachfrage am Telefon sei dann meist Stille gefolgt, später ein „ja“. Nachdem er sich aus Eichstätt vorgestellt und die Einladung ausgesprochen habe, seien dann „merklich am Telefon auch Tränen geflossen“, erzählt Ettle gegenüber Israelnetz. „Das war schon eine Überraschung, wenn jemand nach 70 Jahren gefragt wird, ob er in seine Geburtsstadt kommen möchte. Das war sehr emotional.“

Zusammen mit insgesamt 16 Kindern und Enkelkindern machten sich die zehn Israelis schließlich auf den Weg, um ihre Wurzeln zu entdecken.

Auf einem Symposium vom 22. bis zum 24. September erhielten sie und weitere interessierte Gäste Einblicke in das Lagerleben. Dazu verhalfen Vorträge von Experten und eine Ausstellung mit historischen Fotografien sowie Werken der US-amerikanischen Künstlerin Krista Svalbonas. Es ist eine dieser alten Fotografien, auf der sich Yossi Zinger entdeckt und die ihn zu Tränen rührte. Auf dieser Reise wurde er von seinen beiden Töchtern begleitet.

Yossi hieß eigentlich Josef. Er wurde 1947 in Eichstätt geboren. Die gesamte Familie seiner Mutter wurde von den Nazis ausgelöscht. Wie die Mutter überlebte, hat sie ihren Kindern nie erzählt. Yossis Vater war bereits einmal verheiratet. Doch auch seine Familie, Ehefrau und sieben Kinder, wurde während der Scho‘ah ermordet. Der Vater war als Lederhändler unterwegs und nicht zu Hause, als die Verfolgung begann. Er gründete eine neue Familie und lebte mit ihr einige Jahre in Eichstätt, wo Josef zur Welt kam. 1949 wanderten die Zingers nach Israel aus. „Für meine Eltern war es eine große Errungenschaft, ein neues Leben zu beginnen und eine neue Generation aufzubauen“, erzählt Yossi.

 

Besuch in Polen unvorstellbar

Dass sich die Israelis zusammen mit Angehörigen auf den Weg nach Deutschland gemacht haben, ist nicht selbstverständlich. Es ist ein Zeichen der Versöhnung und der Hoffnung. Dabei seien die guten Beziehungen Israels zur deutschen Regierung von großer Bedeutung, betont Shulamit Zakay. „Wir sehen in Deutschland viele Bemühungen, sich an das zu erinnern, was passiert ist. Polen macht das nicht, sie vermeiden das.“ Aufgrund der deutschen Erinnerungskultur und des Umgangs mit der Geschichte sei es für Juden wieder vorstellbar, Deutschland zu besuchen. Eine Reise nach Polen komme für viele Israelis, auch solche aus der zweiten Generation der Holocaust-Überlebenden, jedoch nicht in Frage.

Eine weitere Besucherin aus Israel, Bella Steiner, erzählt: „Ich wollte nicht nach Deutschland, Polen oder Rumänien kommen. Ich habe die Geschichten über die Grausamkeiten gehört. […] Ich dachte, wenn ich die ganze Welt bereist habe, dann komme ich vielleicht auch nach Deutschland. Aber als ich von dem Symposium erfahren habe, habe ich dann doch nicht gezögert und bin gekommen. Ich möchte nicht, dass meine Kinder einmal in derselben Situation sind wie ich – und nichts über die Herkunft ihrer Eltern wissen. Ich möchte, dass sie wissen, was meine Eltern erlebt haben. Ich habe fünf Kinder und vier von ihnen sind hier.“

Und so erhalten die Anwesenden auf dem Symposium Antworten auf ihre Fragen und ausführliche Informationen über die DP-Camps. Wie der Historiker Holger Köhn erklärte, seien die Lager meist in Kasernen eingerichtet worden. Auch in Eichstätt war dies der Fall. Das Camp befand sich in der ehemaligen Jägerkaserne. Heute ist dort ein Ausbildungszentrum der bayerischen Polizei.

 

Beschlagnahmung deutscher Häuser

Nachdem jedoch die Kritik laut wurde, dass diese von der Bevölkerung abgeschotteten Camps an die Konzentrationslager der Nazis erinnerten, seien über einen kurzen Zeitraum auch Privatwohnungen beschlagnahmt worden. Zunächst seien dies Häuser von Nazis gewesen oder Wohnraum, der vor dem Krieg in jüdischem Besitz war. Um jedoch ein geschlossenes Wohngebiet einrichten zu können, seien dann sehr schnell auch andere Häuser beschlagnahmt worden – ungeachtet dessen, wer darin wohnte. So habe sich in der Bevölkerung Unmut gegen die Displaced Persons breit gemacht, erklärte Köhn weiter.

Die Ausquartierten hätten recht schnell ihre Häuser verlassen müssen. Eine strikte Trennung zwischen Lagerbewohnern und der lokalen Bevölkerung habe es nicht mehr gegeben, da nur noch schwer ersichtlich gewesen sei, wo ein Camp anfing und wo es endete. Die Lager seien kaum noch kontrollierbar gewesen. Der Schwarzmarkt zwischen Einheimischen und Lagerbewohnern habe geblüht. Zum Teil habe es Deals zwischen der örtlichen Bevölkerung und den Lagerbewohnern gegeben: So hätten diese etwa den Besitzern erlaubt, ihre Gärten zu bewirtschaften, wenn sie einen Teil der Ernte an das Lager abgaben.

 

Vorbereitung auf die Auswanderung nach Israel

Doch die Lager waren keineswegs ein rechtsfreier und unorganisierter Raum. Wie viele Lager hatte auch das in Eichstätt eine eigene Polizei, einen Kindergarten sowie ein eigenes Schulsystem. Die Menschen im Camp wurden in Vorbereitung auf ihre Auswanderung nach Israel ausgebildet. Es gab Automechaniker, Optiker, Goldschmiede, Näherinnen, Krankenschwestern und Fotografen. Kultur spielte in vielen Lagern eine große Rolle, da für die Mehrheit der Bewohner regelmäßige Arbeit nicht vorhanden war. Und so hatte das DP-Camp in Eichstätt ein eigenes Kulturamt, es gab Konzerte, Theateraufführungen und Gesangsvorstellungen.

In dem Camp in Eichstätt lebten von November 1946 bis Oktober 1949 zwischenzeitlich bis zu 1.400 heimatlose Juden. Sie stammten vor allem aus Polen. Viele von ihnen waren während des Zweiten Weltkriegs nach Sibirien verbannt worden. Nach Kriegsende drohte ihnen in ihrer Heimat Verfolgung, ihre Häuser waren besetzt und so flohen viele von ihnen ausgerechnet nach Deutschland.

 

„In Eichstätt begannen wir, wieder zu leben“

So erging es auch den Eltern von Shulamit Zakay. Shulamit wurde 1938 in einem Teil Polens geboren, der heute zur Ukraine gehört. Nach der russischen Invasion in Polen wurde ihr Vater inhaftiert. Sie und ihre Mutter wurden nach Sibirien verbannt. 1942 starb der Vater, als das Gefängnis von den Deutschen bombardiert wurde. Nach Kriegsende kam Shulamit mit ihrer Mutter zurück nach Polen. Erst dort begannen die beiden zu verstehen, was in den vergangenen Jahren wirklich passiert war. Shulamits Großmutter, vier Tanten mit ihren Ehemännern und Kindern sowie zahlreiche weitere Verwandte waren ermordet worden. In Polen konnten das Mädchen und seine Mutter nicht bleiben, hier drohten antisemitische Übergriffe. Die Wohnungen und Häusern der einst hier lebenden Juden hatten sich längst andere Menschen angeeignet.

Shulamit und ihre Mutter flohen nach Eichstätt und kamen schließlich in dem DP-Camp unter. An diese Zeit habe sie nur gute Erinnerungen, erzählt Shulamit, die als Achtjährige nach Bayern kam: „Nach der Zeit in Sibirien gab es erstmals gutes Essen, ich habe hier mein erstes Eis gegessen, meinen ersten Kinofilm gesehen. Das Beste war die Schule. Wir begannen hier, in Eichstätt, wieder zu leben.“

Später wanderten die beiden in die Hafenstadt Jaffa nach Israel aus. Dort habe sie sich frei und sicher gefühlt, sagt Shulamit. Nach dem Holocaust hätten sich die Juden hier wieder eine Existenz aufgebaut. Allerdings sei sie als Kind verärgert über ihre Mutter gewesen. „Wir hatten ein neues Leben, ein neues Land, und sie weinte so oft und war so oft traurig.“ Die Mutter habe die Gräuel der Scho‘ah nie überwunden.

Mit den schrecklichen Erlebnissen des Holocaust mussten die Überlebenden allein klarkommen. „Nein, niemand hat sich um sie gekümmert“, antwortet Shulamit auf die Frage einer Gymnasiastin aus dem Publikum. Bella Steiner fügt hinzu: „Wir müssen daran denken, dass es in dieser Zeit, Ende der 40er Jahre, um 1950 herum, keine medizinische Behandlung wie heute gab.“

Die Israelin fügt hinzu: „Es gab außerdem viele Menschen, die den Verstand verloren hatten und in den Straßen umherirrten. Wenn jemand sich zu sehr beschwerte oder zu viel weinte, dann wurde ihm gesagt, er solle aufhören und stark sein. Sie mussten alleine damit klarkommen.“ Zudem sei der Staat Israel gerade erst gegründet worden, das medizinische System habe sich noch im Aufbau befunden.

 

Ein Babyboom unter den Juden

Die Juden im Eichstätter DP-Camp seien trotz der schrecklichen Vergangenheit ausgesprochen zukunftsorientiert gewesen, betont Maximilian Ettle. In der zum Lazarett umfunktionierten Jugendherberge der Stadt wurden 148 jüdische Kinder geboren, 31 jüdische Paare heirateten in dem Camp. Wie Julia Devlin erklärte, habe es gerade unter den jüdischen Displaced Persons in allen Camps einen großen Babyboom gegeben. „Es war ein Ausdruck des Lebenswillens, des Überlebenswillens und des Optimismus, dass man sich zu einer Familiengründung entschloss, auch wenn die Zukunft gar nicht so klar war.“

Das DP-Camp in Eichstätt wurde im Oktober 1949 geschlossen. Bis März desselben Jahres hatten es alle Juden verlassen. Die meisten von ihnen wanderten in den neugegründeten Staat Israel aus. Für die acht Eichstätt-Babies schließt sich nun mit dem Besuch in ihrer Geburtsstadt ein Kreis.

 

Hintergrund Displaced Persons

Nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 gab es in Deutschland zwischen 6,5 bis 7 Millionen sogenannte Displaced Persons – Zivilisten, die sich außerhalb der Grenzen ihrer Heimat befanden und nicht dorthin zurückkonnten. Unter ihnen waren Überlebende aus Konzentrationslagern, Zwangsarbeiter und Zwangsverschleppte aus ganz Europa, vornehmlich aber aus osteuropäischen Ländern. Auch etwa 300.000 Juden, die nach dem Krieg vor antisemitischen Übergriffen aus Osteuropa nach Deutschland flohen, wurden als Displaced Persons anerkannt.

Im Deutschen gibt es bis heute keinen entsprechenden Terminus für den englischen Begriff. Die Bezeichnung „entwurzelte Personen“ hat sich nicht durchgesetzt. Die Displaced Persons wurden in Lagern untergebracht, die sich in den westlichen Besatzungszonen befanden. Um diese kümmerten sich die Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen (UNRRA) und die Alliierten. Dabei wurden sie von jüdischen Wohlfahrtsorganisationen aus den USA unterstützt.

Der deutschen Polizei war es untersagt, die Lager zu betreten. Als letztes Camp wurde 1959 das DP-Lager Wehnen bei Oldenburg in der ehemals britischen Besatzungszone geschlossen. In der sowjetischen Besatzungszone gab es diese Camps nicht.

 

 

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