Anknüpfen an die Tradition der Preßburger Jeschiwa

Ein Interview mit dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Bratislava, Tomáš Stern

Der Eingang der einzigen Synagoge von Pressburg

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Herr Stern, 2019 jährt sich gerade zum 180. Mal der Todestag des berühmten Preßburger Rabbiners Chatam Sofer, der einst als der Hauptrabbiner und Vorstand der berühmten Preßburger Jeschiwa amtierte. Was für ein Gefühl ist es für Sie in die Fußstapfen einer solchen Tradition jüdisch-europäischer Bedeutung zu treten?

Tomáš Stern: Ja, es ist eine große Verantwortung gegenüber unserer Tradition, aber auch gegenüber unseren Gemeindemitgliedern und den Gläubigen der jüdischen Gemeinde in Bratislava. Mein persönliches Anliegen ist es Wege zu finden, wie man unseren Gemeindemitgliedern ihre fast verlorene Identität zurückgeben kann und sie vereinigen kann. Sowohl im geistigen Sinne als auch im Sinne der Förderung gemeinsamer Aktivitäten. Auch dank Chatam Sofer (geboren 1762 in Frankfurt am Main – gestorben in 1839 in Preßburg, Anmerkung der Redaktion) und der Preßburger Jeschiwa, die er leitete, war Preßburg (Bratislava) zu dieser Zeit vielleicht das wichtigste Zentrum der klassischen, jüdischen Ausbildung in Europa. In der Zeit ihrer Blüte verzeichnete die Jeschiwa 400 Studenten und man sagt, dass es die größte Jeschiwa seit den Babylonischen Zeiten war.

Sie hatte auch einen klaren Bezug zu Deutschland. In Preßburg studierten die späteren Hauptrabbiner von Berlin, Frankfurt am Main oder von Hamburg. Unter den Studenten waren auch der Wiener Hauptrabbiner, sogar der Hauptrabbiner von Jerusalem. Chatam Sofer (mit bürgerlichem Namen Mosche Schreiber) selbst war der Student des Rabbiners Nathan Adler in Frankfurt am Main und studierte auch in Mainz. Man kann sogar sagen, dass er zu seiner Zeit vielleicht der bekannteste „Deutsche“ in Preßburg war. Heute kämpfen wir mit den demografischen Folgen und Assimilationsfolgen des Holocaust und zwei Totalitätsregimen. Deswegen ist unser Versuch an diese komplexe Tradition anzuknüpfen heute leider fast unmöglich.

JR: Welche Kulturaktivitäten plant Ihre Gemeinde demnächst in Bratislava?

Tomáš Stern: In Zusammenarbeit mit der Stadt Bratislava planen wir eine Ausstellung zum 180. Todestag des bereits erwähnten berühmten Preßburger Rabbiners Chatam Sofer. Zum Grab von Chatam Sofer kommen jährlich mehr als 5.000 Juden aus der ganzen Welt nach Bratislava und wir erwarten, dass es dieses Jahr anlässlich seines Todestages noch mehr sein werden. In Bratislava haben wir zurzeit nur eine erhaltene und funktionsfähige Synagoge. Die übrigen zwei Synagogen gingen paradoxerweise in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts verloren. Das bedeutet, dass die Synagogen nicht zur Zeit des Slowakischen Staates, der Hitlers Verbündeter war, zerstört worden waren. Sie wurden erst während des kommunistischen Regimes, zusammen mit dem ehemaligen Ghetto und dem Großteil der Bratislaver Altstadt komplett abgerissen. Auch deshalb planen wir eine virtuelle 3-D-Rekunstruierung der Modelle von diesen zwei wichtigsten Bratislaver Synagogen. Die Modelle werden sich im neurekonstruierten Hof unserer einzigen Synagoge in Bratislava auf der Heydukova-Straße befinden. Wir haben die Herausgabe unserer eigenen Zeitschrift, die in ihrer Qualität jüdischen Periodika in Berlin oder Wien entspricht, neugestartet. Es gibt viele Projekte und noch größer ist unser Streben sie zu realisieren.

JR: Wie sieht es mit dem Feiern jüdischer Feiertage aus?

Tomáš Stern: Natürlich feiern wir alle jüdischen Feiertage – es ist ja die natürliche Tätigkeit unserer Gemeinde, die auch unsere Identität prägt und ausmacht. Einen anderen Charakter haben natürlicherweise die Begleitveranstaltungen der traditionellen jüdischen Feste. Beispielsweise anlässlich von Chanukka haben wir im Stadtzentrum einen großen Kerzenleuchter angezündet und eine traditionelle kulturelle Veranstaltung in einem Bratislaver Theater organisiert. Es kamen fast 150 Mitglieder unserer Gemeinde. In einem anderen Theater haben wir in Zusammenarbeit mit der christlichen Organisation ICEJ, mit dem Vorlesen der Namen der slowakischen Holocaustopfer, an dieses traurige Ereignis unserer Geschichte erinnert. Dieses Jahr war einer der Vorlesenden der Präsident der Slowakei, Andrej Kiska. Natürlich sind es nur einige von vielen Aktivitäten der Gemeinde.

JR: Die jüdische Gemeinde in Bratislava, die Sie leiten, möchte dieses Jahr systematisch an der Revitalisierung der geistigen Aktivitäten arbeiten. Können Sie das unseren Lesern näher beschreiben?

Tomáš Stern: Wie ich schon teilweise erwähnt habe, ist die Revitalisierung der geistigen Aktivitäten eines unserer langfristigen Ziele, wobei wir hier auch die Jugend der Gemeinde stärker einbinden möchten. Ohne die Jugend hat das Streben keinen Sinn. Wir als Gemeinde fördern und respektieren bei unseren Gläubigen sowohl den orthodoxen als auch den liberalen Glauben. Wir überlassen es den Gläubigen, für welche religiöse Richtung sie sich entscheiden. In diesem Sinne agieren wir also als eine Art von Einheitsgemeinde. In diesem Zusammenhang arbeiten wir mit vier Rabbinern zusammen. Zum ersten Mal seit 1968, als die meisten jüngeren Mitglieder unserer Gemeinde nach dem Prager Frühling die Tschechoslowakei verließen, wurde ein Hauptrabbiner gekürt. Es ist der schon seit 25 Jahren in Bratislava amtierende Lubawitscher Rabbiner Baruch Myers. Die Gemeinde arbeitet auch mit dem liberal orientierten Rabbiner Miša Kapustin zusammen, der zu uns von der Krim kam.

Man muss dabei betonen, dass die Bratislaver Gemeinde leider die einzige jüdische Gemeinde in der Slowakei ist, in der regelmäßige Gottesdienste stattfinden. Wir fördern auch die Übersetzung der hebräischen Gebetsbücher aus dem Hebräischen ins Slowakische. Hiermit möchten wir die geistigen Texte und Gebete auch den jungen Juden der Gemeinde und den Menschen, die kein Hebräisch beherrschen, zugänglich machen.

JR: Mit Ihrem Antritt als Gemeindevorsitzender wurde der Verein „Chevra Kadisa“ konstituiert. Was ist das Ziel dieses Vereines?

Tomáš Stern: Es handelt sich mehr um eine Neukonstituierung. Der Verein wurde in unserer Stadt schon im 17. Jahrhundert gegründet und funktionierte bis in die 1960er Jahre. Dann wurde er durch das damalige kommunistische Ministerium für Kultur zwangsaufgelöst. Jetzt fördert dieser Verein wieder unter anderem die traditionellen, rituellen Begräbnisse der Menschen jüdischer Herkunft. Wir wollen unsere Gemeindemitglieder überzeugen, den Traditionen treu zu bleiben. Die Kremation der verstorbenen Mitglieder unserer Gemeinde ist im Moment eins der aktuellen Probleme, dem wir entgegenwirken.

JR: Sie betreiben auch den Koscher-Speisesaal und fördern die Sonntagschule des Judaismus für die Kinder der Gemeinde.

Tomáš Stern: Ja, unsere Gemeinde möchte den Mitgliedern erschwingliches Koscher-Essen zugänglich machen. Hier essen vorwiegend unsere Senioren. Manche von ihnen leben im Seniorenheim OHEL DAVID, das sich im Gebäude des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses der Gemeinde befindet. Das geistige Leben der jüdischen Kinder fördern wir in der sogenannten Sonntagsschule der Gemeinde. Diese Schule besuchen durchschnittlich 15 Kinder im Vorschul- und Schulalter. Mit der Unterstützung der Stiftung durch Ronald Lauder, wird in Bratislava unter der Leitung der Frau unseres Hauptrabbiners Channie Myers, der jüdische Kindergarten Gan Menachem betrieben. Dies ist die einzige zertifizierte jüdische Ausbildungsinstitution in der Slowakei. Diesen Kindergarten absolvierten bis heute mehr als 120 jüdische Kinder. Leider ist Bratislava von einem einst großen Zentrum der jüdischen geistlichen Ausbildung „nur“ auf das Niveau eines jüdischen Kindergartens geschrumpft. Unsere Gemeinde hat zurzeit etwas mehr als 500 Mitglieder und die Arbeit mit der jüdischen Jugend gehört zu den wichtigsten Schwerpunkten. Es ist uns wichtig, dass es in unserer Gemeinde ein kontinuierliches Weitergeben des jüdischen Glaubens und der jüdischen Traditionen von einer Generation zu der anderen gibt. Das schulden wir unseren Vorfahren und uns selbst!

 

ZUR PERSON

Dr. med. Tomáš Stern entstammt einer Familie bekannter slowakisch-jüdischer Intellektueller. Sein Vater, Prof. Juraj Stern ist anerkannter Wirtschaftsexperte, ehemaliger Rektor der größten staatlichen Wirtschaftsuniversität der Slowakei und derzeitiger Rektor einer privaten Wirtschaftsuniversität in Bratislava. Seine Mutter Prof. Zuzana Sternová lehrt an der Fakultät für Bauwesen der Technischen Universität in Bratislava. Sein Urgroßvater – Adolf Stern war ein bekannter Publizist und Bankdirektor in Preßburg. Die größte Bedeutung hatte jedoch seine enge Zusammenarbeit mit Graf Coudenhove-Callergi. Er und der Graf beteiligten sich an der Gründung der Paneuropäischen Union – der ältesten noch bestehenden europäischen Einigungsbewegung. Er war in einem intensiven Briefkontakt mit mehreren europäischen Persönlichkeiten seiner Zeit, und schrieb sich auch mit dem deutschen Kanzler und Außenminister Gustav Stresemann.Tomáš Stern leitet als Mitinhaber und Chefarzt die größte private Klinik für ästhetische Medizin in der Slowakei namens Interklinik. Als Student fuhr er durch die ganze Slowakei und dokumentierte den trostlosen Zustand der dortigen jüdischen Denkmäler. Die Jüdische Gemeinde in Bratislava leitet er seit 2017 und knüpfte damit an die Tradition seines Ururgroßvaters an, der Rosch ha-Kehila der orthodoxen jüdischen Gemeinde im ostslowakischen Humenné war.

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