Europawahl: Deutschlands grüner Sonderweg
Der grüne „Erdrutsch“ blieb auf Deutschland beschränkt – ausgerechnet in Greta Thunbergs Heimat Schweden erlitten die Grünen hohe Verluste.
Wer die Europawahl analysieren will, muss dies aus zwei unterschiedlichen Perspektiven tun: Einem gesamteuropäischen Blick und einem speziell deutschen Blick. Denn größer könnten die Unterschiede nicht sein.
Das europäische Parlament setzt sich aus unterschiedlichen Fraktionen zusammen, deren Gewicht wiederum von den Wahlergebnissen der jeweils zugehörigen Parteien in den einzelnen Ländern abhängt. Das Parlament ist so aufgebaut, dass jedes Land entsprechend dem EU-Schlüssel eine feste Anzahl von Sitzen hat. So verfügt das EU-Parlament insgesamt über 751 Sitze, von denen Deutschland als bevölkerungsreichstes Land in Europa 96 Sitze besetzen darf, das kleine Malta hingegen hat sechs Sitze inne. In Praxis bedeutet dies, dass ein deutscher Abgeordneter 811.000 Bürger vertritt, ein Malteser hingegen lediglich 67.000 Bürger repräsentiert. Wenn beispielsweise eine FDP fünf Prozent im Bundesdurchschnitt erreicht, so darf sie auf die deutschen Sitze fünf Abgeordnete entsenden. Dieses Vorwissen ist wichtig, um die Konsequenzen einer Wahlentscheidung abschätzen zu können. Und genau hier liegt auch das erste Problem einer Europawahl – diese Systematik ist den Wählenden weitgehend unbekannt.
Was für eine Wahl war sie denn nun, diese Europawahl? Eine nationale Wahl mit europäischem Anstrich oder eine europäische Wahl mit nationalen Besonderheiten? Beides ist richtig.
Wäre die Europawahl eine Bundestagswahl gewesen, so wäre die mit 23,8 % stärkste Fraktion die Union (auf europäischer Ebene die EVP) bei einem Verlust von 4,92 %, gefolgt von einer 20 % SPD (S&D Socialists & Democrats), die ebenfalls 4,92 % verloren hätte. Danach folgten schon FDP (ALDE) mit 14,38 % und einem Zuwachs von 5,19 % und – hier wird es spannend – eine noch zu gründende, europakritische und -reformerische Partei (EKR) mit 13,4 % und ebenfalls einem Verlust von 2,39 %. Danach käme die AfD (ENF und EFDD) mit 9,45 % und einem Zuwachs von 4,66 %, jetzt erst die Grünen (Green/EFA) mit 9 % und einem Plus von 2 %. Die LINKE (GUE/NGL) wäre mit 5,05 % knapp über der Einzugshürde und hätte ebenfalls Verluste von 1,86 % hinnehmen müssen. Unter dem Strich hätten also die beiden großen Volksparteien gemeinsam einen Verlust von knapp 10 % zugunsten kleinerer Parteien wie den Liberalen, der AfD und den Grünen erlitten.
Was also die Verluste der großen Volksparteien auf Europa-Ebene angeht, so spiegeln diese durchaus die deutschen Tendenzen wider. Nur: So einfach ist es eben nicht. Auf europäischer Ebene schließen sich die diversen Parteien und einzelnen Abgeordneten zu Fraktionen zusammen, verlassen diese wieder und gründen neue Fraktionen oder benennen sich um. So mäanderten die Abgeordneten der AfD zwischen der EFFD und der ENF hin und her, je nach Parteiaustritt oder Gelegenheit. Die sogenannten „Rechtspopulisten und europakritischen Parteien“ sind in drei Fraktionen aufgesplittert. Das Europaparlament ist also kein statisches Konstrukt von Parteien, wie dies im Bundestag der Fall ist, sondern eher ein sich amorph veränderndes Gebilde von Fraktionen.
Salvinis Plan für die stärkste Fraktion
So ist der italienische Vorsitzende der Lega und Spitzenkandidat der ehemaligen ENF, Matteo Salvini bestrebt, neben den schon sicheren Fraktionsmitgliedern der AfD, der FPÖ, der französischen Rassemblement Nationale und der Lega Nord auch die derzeit in der EKR vertretene polnische PIS und die in der EVP etwas unglückliche, da unpassende ungarische Fidesz zu umwerben, um die Fraktion der national-konservativen Europaskeptiker auf eine breitere Basis zu stellen. Gesetzt den Fall, dass es ihm gelingt, hier nationale und parteiliche Dünkel zu überwinden und im besten Fall die Fraktionen der ECR und EFDD (mit der ehemaligen britischen UKIP) mit seinen Europaskeptikern zu verschmelzen, dann würde dieses Fraktionsschwergewicht über wenigstens 172 Sitze verfügen, sofern sich die Abgeordneten der ungarischen Fidesz nicht von der EVP trennen können. Damit wäre Salvinis ENF die zweitstärkste Fraktion im Europaparlament und in der Lage, das europäische Gesetzgebungsverfahren zumindest massiv zu beeinflussen. Gelänge ihm tatsächlich die Herauslösung der Fidesz aus der EVP, würde die ENF die EVP als stärkste Fraktion ablösen und könnte wichtige Positionen in der EU-Kommission für sich beanspruchen.
Dies ist umso wichtiger, da, anders als der Bundestag, das europäische Parlament lediglich Gesetze annehmen oder ablehnen kann – das Initiativrecht zur europäischen Gesetzgebung liegt bei der EU-Kommission. Das Europaparlament hat lediglich das Recht, die Kommission zum Erlassen eines Gesetzes aufzufordern. Bezüglich einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik besteht sogar nur eine Informationspflicht des Europa-Parlaments, das sich darauf beschränken muss, weitgehend konsequenzlos zu nicken oder den Kopf zu schütteln. Somit halten sich möglicher Nutzen oder Schaden des EU-Parlaments in Grenzen. Die politische Musik wird im Orchestergraben der EU-Kommission gemacht – das Parlament besetzt den Zuschauerraum.
Genau diese Machtlosigkeit des europäischen Parlaments dürfte aber auch zu einer entsprechenden Verdrossenheit derjenigen europäischen Wähler geführt haben, die EU-skeptischen Parteien ihre Stimmen gegeben haben – und die nicht per se „europafeindlich“, sondern lediglich der Institution EU kritisch gegenüberstehen: Begriffe, die gerne durcheinandergewürfelt werden, aber völlig unterschiedlich sind.
Wer wird Junckers Nachfolger?
Bei der Niederschrift dieses Artikels ist noch nicht klar, wer Nachfolger von Jean-Claude Junker wird. Martin Weber (CSU) von der EVP beansprucht diesen Posten als Vorsitzender der größten Fraktion für sich, gilt aber bei den Franzosen als „Merkels Mann“. Außerdem würden die europäischen Regierungschefs diesen Posten, wie bisher üblich, gerne selbst besetzen. Macron bevorzugt hier die Dänin Margrethe Vestager, die sich einen guten Namen als Wettbewerbskommissarin gemacht hat und allgemein als konsensfähig gilt. Hier läuft also gleichzeitig ein Machtkampf zwischen EU-Parlament und Regierungschefs.
Kein Wunder: ein weiterer Sieger der Europawahl ist, anders als in Deutschland, die liberale Fraktion der ALDE, was vor allem dem französischen Ergebnis von Macrons „En Marche“ und den britischen Liberaldemokraten geschuldet ist und die mit gesamt 39 zusätzlichen Sitzen den höchsten Zuwachs verbucht. Macron hatte sich bereits vor der Wahl für eine Mitgliedschaft in der ALDE-Fraktion ausgesprochen, ob dies ein Etikettenschwindel war und „En Marche“ nicht besser in der EVP aufgehoben gewesen wäre, wird die Zeit zeigen. Bei einem Brexit würden die Sitze der Liberaldemokraten mutmaßlich von „En Marche“ übernommen.
Die Grünen gewinnen in Deutschland und verlieren in Schweden
Ebenfalls Zuwachs – aber bei Weitem nicht mit dem Zuwachs in Deutschland vergleichbar – erhielten die europäischen Grünen der „Green – European Free Alliance“. Diese konnten 15 Sitze oder umgerechnet 2 % hinzugewinnen und stellen nun 67 Abgeordnete. Tatsächlich entfallen hierbei auf Deutschland, Frankreich und England mit insgesamt 46 Abgeordneten der Löwenanteil, davon wiederum die Hälfte aus Deutschland. In Schweden, von dem die „Friday for Future“-Bewegung ausging, hat sich die Anzahl der Mandate für die Grünen nahezu halbiert, während die schwedischen Konservativen die gleiche Anzahl an Sitzen hinzugewinnen konnten. In Schweden scheint der Klima-Hype vorbei zu sein und sich auf Deutschland verlagert zu haben.
Offensichtlich sind die fast erdrutschartigen Zugewinne der Grünen in Deutschland, das damit allein 10 der 15 neuen Plätze für sich verbuchen kann, ein rein deutsches Phänomen. In keinem anderen Land Europas haben die Grünen sowohl prozentual als auch real mehr Wachstum verbuchen können. Das mag zum einen daran liegen, dass es die deutschen Grünen geschickt verstanden haben, sich auf ein zentrales Thema zu fokussieren und dieses propagandistisch derart aufzubereiten, dass sich für die Wählenden ein moralischer Wahl-Imperativ ergab, zum anderen aber auch an der typisch deutschen Lust an und zum Untergang für ein vermeintlich höheres Ziel. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet Europas stärkste Wirtschaftsnation ihren eigenen Kollaps herbeiwählt. Andererseits gilt für die Grünen-Fraktion, was auch für die EU-Skeptiker gilt: Es darf zwar über Gesetze entschieden werden, eingebracht werden dürfen keine. Das sollte wenigstens Frankreich vor europäischen „ökologischen“ Kapriolen schützen, da es grünen Ideen über die ALDE entgegenwirken kann.
Der deutsche Sonderweg: Polarisierung zwischen Grünen und AfD
Wer sich nur Deutschland betrachtet, sieht hier eine gesellschaftliche Katastrophe und Spaltung ersten Ranges. Während sich in den östlichen Bundesländern rechtspopulistische Kräfte – insbesondere in Sachsen und Brandenburg – durchsetzen konnten, sind die Grünen die großen Gewinner in den Städten und im Westen sehr stark aufgestellt. Die SPD wurde nahezu pulverisiert und übernimmt in Deutschland mehr und mehr die Position des Königsmachers, die früher die trotz Zugewinnen marginalisierte FDP innehatte.
Unter dem Strich bleibt ein vom gesamteuropäischen Wahlverhalten abgekoppeltes Deutschland, das mehr und mehr zum Sonderfall wird.
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