Ungarns Juden denken nicht an Auswanderung

Interview der JÜDISCHEN RUNDSCHAU mit Dr. Péter Györkös, Botschafter von Ungarn in Deutschland, über das Verhältnis seines Landes zu Israel und die Lage der Juden in Ungarn im Vergleich zu Westeuropa

Urs Unkauf (links) und Botschafter Dr. Györkös

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Exzellenz, die Geschichte Ungarns ist reich an Elementen und Einflüssen jüdischer Kultur. Wie wird dieses historische Erbe heute gepflegt und bewahrt?

Botschafter Györkös: Unsere jüdischen Mitbürger und auch die zu Besuchszwecken anwesenden Touristen können sich in Ungarn sicher fühlen – und das nicht von ungefähr, dafür steht u.a. die von der Regierung eingenommene Haltung zur Migration. Vor allem jedoch konnte dies dank des Null-Toleranz-Prinzips gegen Antisemitismus erreicht werden, das die ungarische Regierung konsequent vertritt und das sich u.a. in einer strengeren Gesetzgebung und der tatsächlichen Durchsetzung niederschlägt.

Jüdische Kultur und ungarische Traditionen bilden seit jeher eine Einheit. Das Interesse der Gesellschaft und die Sicherheit der jüdischen Gemeinschaft haben dazu geführt, dass jüdische Kultur und jüdische Identität in Ungarn gerade eine Renaissance erleben. In Budapest und zunehmend auch in anderen ungarischen Städten und Gemeinden finden regelmäßig Festivals der jüdischen Kultur und Küche statt. Diese Werte, Traditionen und Events ziehen eine stetig wachsende Zahl von Besuchern aus aller Welt an.

Budapest ist in diesem Sommer Schauplatz der Maccabiade. Darin, dass wir das größte Sportereignis jüdischer Sportler von Berlin nach Budapest holen konnten, liegt auch eine wichtige Botschaft.

Ungarns Regierung stellt in bedeutendem Umfang Mittel für die Pflege, den Schutz und die Wiederbelebung des jüdischen Erbes zur Verfügung. Im Rahmen des Wiederaufbauprogramms für Synagogen, das sich auch über die Grenzen Ungarns hinweg erstreckt, konnten wir z.B. mit den Synagogen in Szeged oder Subotica weltberühmte Schätze für die Nachwelt retten, die emblematisch für die ungarisch-jüdische Baukunst stehen.

Wir fördern mehrere jüdische Bildungseinrichtungen und sorgen so auch für die Zukunft der ungarischen jüdischen Gemeinde.

Die Wahrung des Andenkens an vernichtete Gemeinden ist uns ebenfalls eine moralische Verpflichtung. Mit Unterstützung der Regierung konnten mehrere jüdische Friedhöfe restauriert und für unsere kommenden Generationen erhalten werden, die schon beinahe in Vergessenheit gerieten waren.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Heute leben in Ungarn über 16.000 praktizierende Juden – mehr als in den meisten anderen mitteleuropäischen Ländern. Worauf ist diese Entwicklung zurückzuführen?

Botschafter Györkös: Ungarns jüdische Organisationen gehen von etwa 150.000 Menschen jüdischer Herkunft aus, von denen etwa 10 % tatsächlich ihren Glauben praktizieren oder sich anders aktiv am Leben der Gemeinde beteiligen.

In Ungarn lebte historisch eine bedeutende jüdische Gemeinde, nach der Tragödie des Holocaust gewinnt das jüdische Leben nun langsam wieder an Dynamik, vor allem in Budapest.

Viele haben heute das Gefühl, jüdische Gemeinden in Westeuropa seien erheblichen Bedrohungen ausgesetzt, man sieht das an der Zahl der Auswanderer ebenso wie an der Zahl derer, die ihre jüdische Identität eher nicht preisgeben oder nur an besonders geschützten Orten leben. Das Problem haben wir in Ungarn nicht – bei uns können sich alle Mitbürger jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens sicher fühlen und sich offen zu ihrer jüdischen Identität bekennen. So hat auch die Einheit von Ungarns jüdischer Gemeinschaft durch die Abwanderung, die wir in den vergangenen Jahren in Westeuropa beobachten konnten, keinen Schaden genommen.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Zwischen den Regierungschefs von Ungarn und Israel besteht ein reger Austausch. Was sind die zentralen Ergebnisse dieser Treffen und Gespräche?

Botschafter Györkös: Lassen Sie mich das kurz präzisieren: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu war im Juli 2017 in Budapest, anlässlich des ersten V4+Israel-Gipfeltreffens; im Juli 2018 reiste Viktor Orbán zu einem offiziellen Staatsbesuch nach Israel, im Februar 2019 besuchte er Israel erneut, gemeinsam mit den Ministerpräsidenten Tschechiens und der Slowakei.

Beide Regierungen teilen ihre Sicht in Bezug auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, das macht uns zu natürlichen Partnern im Herangehen an Fragen beispielsweise zu Souveränität, Migration, Terrorismusbekämpfung oder Innovation als Motor wirtschaftlicher Entwicklung.

Zu den wichtigsten Ergebnissen zählt, dass wir auf der Grundlage der bei den Besuchen vereinbarten Zusammenarbeit zahlreiche gemeinsame Wirtschafts-, Wissenschafts- und Technologieprojekte initiieren konnten. Einen mindestens ebenso hohen Stellenwert wie konkrete, geldwerte Ergebnisse hat natürlich die Vertiefung der Beziehungen zwischen unseren Bürgern. An ungarischen Universitäten sind etwa 1.000 israelische Studierende immatrikuliert, was eine wichtige Brücke ist. In diesem Jahr veranstalten wir in Israel das ungarische Kulturjahr, von März bis Oktober zeigen wir in mehreren israelischen Städten die wichtigsten Werke aus Ungarns Kunst, Gastronomie und Musik.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Welche Rolle wird die am 19. März vom ungarischen Außenminister Péter Szijjártó eröffnete Handelsmission in Jerusalem zukünftig spielen?

Botschafter Györkös: Israelische Unternehmen entwickeln und nutzen modernste Technologien; Ungarns Wirtschaft schwenkt aktuell auf einen innovationsbasierten, qualitätsorientierten Entwicklungsweg ein, eine möglichst enge Zusammenarbeit mit Unternehmen aus Israel liegt also im Interesse der ungarischen Unternehmen, deshalb haben wir uns dafür entschieden, in Jerusalem eine Außenhandelsvertretung mit diplomatischem Status zu eröffnen, so können wir den Ausbau der Kontakte mit persönlicher Präsenz fördern.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Über die Position Ungarns zur unregulierten Zuwanderung nach Europa wird von den meisten Medien in Deutschland mehr geschimpft als berichtet. Wie würden Sie die Position der ungarischen Regierung in dieser Frage darstellen?

Botschafter Györkös: Die ungarische Lösung baut seit 2015 auf drei Elemente: Wir müssen unsere Außengrenzen schützen, vor Ort Hilfe zu denen bringen, die in Not sind, und wenn ein Mitgliedstaat entscheidet, Migranten zu übernehmen, kann er das freiwillig tun. Das ist sein gutes Recht. Unser gutes Recht ist es, in den für Ungarn lebenswichtigen Entscheidungen die mit einem demokratischen Mandat ausgestatte Regierung die Richtung bestimmen zu lassen. Sie hat eine starke Legitimation, schließlich hat Fidesz dreimal hintereinander den Wahlsieg mit einer Zweidrittelmehrheit davongetragen. Und die Menschen in Ungarn haben ihre Meinung in Bezug auf die Migration zum Ausdruck gebracht.

Ungarns Regierung hat von Anfang an und konsequent vertreten, dass die Probleme, die sich aus einer so massiven Völkerwanderung ergeben und zu denen nicht zuletzt auch das Problem des importierten Antisemitismus zählt, nicht auf dem Gebiet Europas lösen lassen. Wir haben zwei Aufgaben: zum einen den Schutz der eigenen Grenzen und der eigenen Bürger, was gleichzeitig den Schutz des einheitlichen Binnenmarktes als Europas Lebens- und Wirtschaftsmodell bedeutet; zum anderen müssen wir, statt Probleme zu importieren, die in Europa nicht zu lösen sind, für den größtmöglichen Kreis Bedürftiger so viel Hilfe exportieren, wie es nur geht. Wir müssen die Grenzen schützen und die Fluchtursachen bekämpfen. Wir haben bewiesen, dass wir die Grenzen nicht nur schützen müssen, sondern auch können. Der einzige Punkt, in dem wir eine harte Position vertreten, ist die Pflichtverteilung der Flüchtlinge, denn das führt höchstens zu einem Sogeffekt und löst das Problem nicht.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Was muss aus der Sicht Ungarns in Europa unternommen werden, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken? Inwiefern hängt diese Frage aus Ihrer Sicht mit der Zukunft jüdischen Lebens in Europa zusammen?

Botschafter Györkös: Antisemitismus hat heute eine neue Facette hervorgebracht: im Zuge der Migration ist mit den Massen, die nach Europa geströmt sind, leider auch die Feindseligkeit Juden und Israel gegenüber erstarkt. Dafür spricht, dass der Antisemitismus in Westeuropa wächst, während er in Mitteleuropa abnimmt. Hier fehlt Europa bislang ein Konzept. Aus unserer Sicht muss man dem Problem da begegnen, wo es seine Ursachen hat, die Migration muss gleich ganz am Anfang gestoppt werden. Nicht das Problem muss hierher, sondern die Hilfe muss da hin, wo das Problem ist.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Die Kritik Ungarns an den Aktivitäten von George Soros wird oftmals als antisemitisch dargestellt. Bitt erläutern Sie uns Ihre Position dazu.

Botschafter Györkös: Ungarns Ministerpräsident hat erst kürzlich in der „Welt am Sonntag“ Ungarns Standpunkt klar dargelegt und die erhobenen Vorwürfe anhand der Tatsachen entkräftet.

Ungarns Regierung wäre die erste, die die Stimme erhebt, wenn jemand wegen seines jüdischen Glaubens oder seiner jüdischen Abstammung angegriffen wird. Dafür stehen nicht nur die Maßnahmen, die wir im eigenen Land ergriffen haben, sondern auch unser Einstehen auf internationalen Foren, ob EU oder Vereinte Nationen, bei ungerechtfertigten, einseitigen Angriffen gegen Israel.

Die Konfrontation mit Herrn Soros betrifft zwei grundsätzliche Fragen. Eine ist die der Migration. Hier reicht es, auf den am 26. September 2015 formulierten Plan zu verweisen. Der andere Konflikt hat seine Ursache in unserem unterschiedlichen Demokratieverständnis. George Soros selbst hat seine Prinzipien und sein Handlungsprogramm in der Ausgabe der „New York Times“ vom 17. Juli 2018 dargelegt.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Wie ist das Judentum heute im gesellschaftlichen Leben Ungarns präsent? Gibt es Probleme mit Antisemitismus, und was unternimmt Ungarns Regierung zu dessen Bekämpfung?

Botschafter Györkös: In Ungarn lebt heute die größte jüdische Gemeinde Mitteleuropas, als integrativer Bestandteil des Ungarntums. Was Kultur, Gastronomie und Glauben angeht, zeigen nichtjüdische Ungarn und Touristen ein reges Interesse am noch heute lebendigen, frei zugänglichen jüdischen Brauchtum.

Antisemitismus ist heute in Westeuropa ein viel größeres Problem als in Ungarn. Wir sind stolz darauf, dass sich unsere Landsleute und Gäste, die offen ihre jüdische Identität leben, sich in Ungarn sicher fühlen können – das ist leider in immer weniger Ländern so.

Wir haben unsere Null-Toleranzhaltung Antisemitismus gegenüber kommuniziert und haben auch darüber hinaus konkrete Schritte unternommen. Es war die erste Orbán-Regierung, die einen gesonderten Gedenktag für die ungarischen Opfer des Holocaust eingerichtet hat.

In unserem Grundgesetz ist zudem verankert, dass in Ausübung der Redefreiheit die Würde nationaler, ethnischer oder religiöser Minderheiten nicht verletzt werden darf. Das neue Strafgesetzbuch qualifiziert die Leugnung des Holocausts eindeutig als Straftatbestand. Erst kürzlich, im Februar 2019, hat Ungarns Regierung die Antisemitismusdefinition der „Internationalen Allianz für das Holocaust-Gedenken“ angenommen und einen Aktionsplan für deren Umsetzung in Bildungseinrichtungen, bei den Organen zum Schutz der öffentlichen Ordnung und der Justiz ausgearbeitet.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Abschließend ein Blick auf die deutsch-ungarischen Beziehungen: Trotz Differenzen in tagespolitischen Fragen verbindet Ungarn und Deutschland eine starke Freundschaft. Wie sehen Sie die Zukunft der Beziehungen vor dem Hintergrund der unterschiedlichen europapolitischen Positionen?

Botschafter Györkös: Die deutsch-ungarischen Beziehungen kennzeichnet eine tausendjährige, in Europa, aber auch in der Welt einzigartige, emotionale Affinität. Der historische Bogen lässt sich vom Grab der ersten Frau unseres Königs und Staatsgründers in Passau bis zum Brandenburger Tor schlagen, waren es doch die Ungarn, die den ersten Stein aus der Berliner Mauer geschlagen und der Wiedervereinigung Deutschlands und Europas den Weg geebnet haben. Ungarns Unabhängigkeit und Deutschlands Einheit sind eng verwoben. Infolge globaler Veränderungen gibt es immer neue Herausforderungen für Europa: Die auch für die Zukunft Europas so wichtige Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit ist beispielhaft. Ohne Zweifel hat die 2015 von der Migration verursachte Krise Spuren in den bilateralen Beziehungen hinterlassen. Unser besonderes Verhältnis, die kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern und den Menschen in unseren Ländern sind aber stark genug, um nach einer nicht einfachen Zeit unsere Energien und unsere Aufmerksamkeit auf unsere Bürger, die Stärkung unserer Länder und unseres gemeinsamen Europas, auf Freiheit und Wohlstand ausrichten zu können.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Exzellenz, herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Das Gespräch führte Urs Unkauf.

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