Die Opfer schützen den ehemaligen Täterstaat: Israel liefert Arrow 3-Luftabwehrsystem an Deutschland
© TOMER APPELBAUMPOOL / AFP
Deutschlands militärische Abwehrfähigkeit liegt am Boden – und selbst dort weist sie extreme Mängel auf: Der deutsche Verteidigungsetat wurde über Jahrzehnte immer weiter gekürzt, die Streitkraft der Bundeswehr während der Regierungskoalition unter Angela Merkel ausgehöhlt. Der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen waren maßgerechte Uniformen und Panzer für Schwangere eben wichtiger als Entwicklung und Bereitstellung neuer Verteidigungssysteme. Noch brisanter aber ist die Lage in der Luft: Das Raketenabwehrnetz über Deutschland ist tatsächlich nicht viel mehr als ein Netz mit zahlreichen Löchern.
Das wurde nun auch der aktuellen Ampelkoalition unter Bundeskanzler Olaf Scholz bewusst: Als Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine hatte die deutsche Bundesregierung im vergangenen Jahr Verhandlungen über den Ankauf des israelischen Raketenabwehrsystems „Arrow 3“ aufgenommen. Durch dessen große Reichweite – die über einen Bodenradar lenkbaren Abwehrraketen sollen an die 2400 Kilometer weit und mehr als 100 Kilometer hoch fliegen können – können mit ihm weitreichende feindliche Flugkörper bereits außerhalb der Erdatmosphäre zerstört werden. In Israel ist das System Teil des „Iron Dome“, dem dichten und effizienten Luftabwehrschild des Landes.
Schutz aus Israel
Entwickelt wurde „Arrow 3“ gemeinsam von Israel und den USA, daher haben letztere ein Mitspracherecht bei dessen Verkauf. Diese Zustimmung wurde am 17. August erteilt, den Israels Premierminister Benjamin Netanjahu als „historischen Tag“ wertete: „Vor 75 Jahren war das jüdische Volk auf dem Boden Nazi-Deutschlands zu Asche zermahlen worden. 75 Jahre später gibt der jüdische Staat Deutschland, einem anderen Deutschland, die Werkzeuge an die Hand, sich zu verteidigen."
Tatsächlich haben sich die Verhältnisse gewandelt; die Nachkommen der Opfer schützen nun die Nachkommen der Täter – oder helfen ihnen zumindest zum Selbstschutz. Die Verhandlungen zwischen dem israelischen und dem deutschen Verteidigungsministerium sowie der Israel Aerospace Industries (IAI) werden nun fortgeführt. Sofern die Parlamente beider Länder zustimmen, wird für November mit dem endgültigen Vertragsabschluss gerechnet.
"Es ist auch besonders bedeutsam für jede jüdische Person, dass Deutschland ein israelisches Verteidigungssystem kauft," wertete Israels Verteidigungsminister Joav Galant die Verhandlungen. Nicht zuletzt werde dies auch der Wirtschaft Israels dienen. Denn die Hilfe zur Selbsthilfe geschieht selbstredend nicht aus reiner Menschenliebe: Derzeit wird von einem Ankaufspreis von 4 Milliarden Euro gesprochen; der Verkauf von „Arrow 3“ an Deutschland ist damit der bisher größte Waffenverkauf der israelischen Geschichte.
Auch hier haben sich die Verhältnisse gewandelt: Die Lieferung von U-Booten und Kriegsschiffen steht seit fast drei Jahrzehnten im Zentrum der deutschen Militärhilfe für Israel. Doch im Bereich Raketenabwehr benötigt nun also Deutschland Unterstützung: Das IRIS-T Waffensystem, das sich zur 360°-Rundumverteidigung gegen Angriffe aus der Luft inklusive ballistischer Kurzstreckenraketen eignet, wurde zwar hier entwickelt und wird aktuell in der Ukraine eingesetzt, die Bundeswehr selbst besitzt das System jedoch noch nicht: Es wurde von der Industrie direkt an die Ukraine geliefert. Da mittels der „Zivilklausel“ an deutschen Hochschulen alle Forschung untersagt ist, die sicherheitspolitisch und sicherheitstechnisch relevant sein könnte, wird Deutschland auch in Zukunft in hohem Maß auf die Entwicklungen aus anderen Ländern bauen und den Preis hierfür bezahlen müssen.
Deutsche Staatsräson
Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius sieht in den Verhandlungen „ein Zeichen unserer besonderen deutsch-israelischen Beziehungen". Besondere Beziehungen verbinden Deutschland und Israel unbestreitbar: Nichts hat die Notwendigkeit eines jüdischen Staates so deutlich gemacht wie der Holocaust, der mörderische Gipfel einer Jahrhunderte währenden Verfolgung des Judentums. Wie schon seine Vorgängerin betont daher auch Kanzler Scholz, dass die Sicherheit Israels zur Staatsräson Deutschlands gehöre. Zugleich sorgt man sich in Deutschland immer wieder um Moral und Anstand in der israelischen Politik, sieht gar die Demokratie im Land gefährdet. Tatsächlich wird Israel 75 Jahre nach Gründung durch schwere politische Konflikte erschüttert, dessen Krisenanfälligkeit nun durch Premierminister Natanjahus tiefgreifendes Reformpaket verringert werden soll. Daran Kritik zu üben, steht einem befreundeten Staat durchaus zu – doch die Häupter der deutschen Politik, allen voran Kanzler Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wählen hierfür nur zu gern die großen Bühnen statt vertraulicher Gespräche. Denn tatsächlich wird Israel in Deutschland, fleißig unterstützt von einer hohen Zahl der Mainstream-Medien, immer wieder heftig kritisiert – bis hin zu einer Diffamierung als Apartheids-Staat. Ron Prosor, Israels Botschafter in Deutschland, verwies kürzlich in der „Welt“ darauf, dass es in Deutschland neben einem „braunen, vulgären Antisemitismus“ einen wachsenden „linken Antisemitismus“ gebe, der mittlerweile „salonfähig“ geworden sei.
Wird „Arrow 3“ hier installiert, muss sich die „besondere deutsch-israelische Beziehung“ bald in einer persönlichen Zusammenarbeit vor Ort beweisen. Der Raketenschutzschirm für Deutschland soll an drei Standorten in Schleswig-Holstein, Bayern sowie nahe Berlins aufgespannt werden: Als erstes ist sein Einsatz auf dem Fliegerhorst Holzdorf/Schönewalde an der Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Brandenburg geplant. Unter Beteiligung von Angehörigen der israelischen Luftwaffe werde eine völlig neue Infrastruktur mit eigens geschultem Personal aufgebaut, erläuterte Mosche Patel, beim israelischen Verteidigungsministerium zuständig für Raketenabwehr. Eine erste Einsatzfähigkeit des Systems sei bis 2025 geplant, die volle Funktion bis 2030. Das Raketenabwehrsystem könne dann "alle deutschen Bürger in ganz Deutschland" schützen, so Patel.
Sicherheit für alle
Das ist eine interessante Formulierung. Geschützt werden dann ja auch zahlreiche weitere in Deutschland Lebende, die sich nicht selten als Feinde Israels bekennen. Immerhin hat das Bundeskriminalamt im ersten Halbjahr dieses Jahres 960 antisemitische Straftaten registriert. Laut Bundesinnenministerin Nancy Faeser handelten die Sicherheitsbehörden „entschlossen, um jüdische Einrichtungen in Deutschland zu schützen“, dennoch nehmen antisemitische Angriffe weiter zu, was zeitlich mit der Zuwanderung aus vornehmlich islamischen Ländern korreliert. Eine mögliche Kausalität scheint Faeser mit ihrem „Kampf gegen Rechts“ darin allerdings nicht zu erkennen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hatte hingegen nicht nur die Verteidigung Deutschlands im Sinn, als er angesichts des Ukrainekrieges im vergangenen Jahr die „European Sky Shield Initiative“ (ESSI) ins Leben rief. An dieser Initiative zum gemeinsamen Einsatz von Luftabwehrsystemen beteiligen sich bisher rund 15 Staaten der EU. Darüber hinaus wird der Ankauf von „Arrow 3“ von der Bundesregierung auch als Beitrag im Rahmen des Nato-Bündnisses angesehen, da das System in die Nato-Luftverteidigung integriert werden soll: Deutschland unterstütze damit auch die Sicherheit seiner Nachbarländer.
Doch der Einsatz von „Arrow 3“ stößt vor allem bei einem Nachbarn auf Kritik: Frankreich sollte eigentlich mit Zustimmung Deutschlands die Koordination eines europäischen Luftabwehrsystems übernehmen und setzt dafür auf Mambas, Abwehrraketen aus französisch-italienischer Entwicklung. Das israelische System könne aber durchaus für Doppelstrukturen sowie für Probleme bei der Integration in die gemeinsame europäische Sicherheitsinfrastruktur sorgen, so die Kritik. Im Gegensatz zur Bundesregierung behält Frankreich in dieser Frage zudem die industriepolitische Perspektive der eigenen Nation wie auch der EU im Auge. Nicht zuletzt tragen womöglich die unterschiedlichen Ansichten der beiden Staaten auf das transatlantische Verhältnis zur konträren Bewertung des Ankaufs bei, denn die USA dürften in jedem Fall davon profitieren.
Doch Netanjahus verbaler Pfeil trifft einen zukunftsweisenden Punkt: „Im Holocaust waren die Juden ohne Schutz vor Nazi-Deutschland. (…) Damals konnten wir uns nicht verteidigen - heute helfen wir anderen, sich zu verteidigen. Was für eine unglaubliche Wendung."
Regina Bärthel studierte Kunstwissenschaften und Germanistik. Sie leitete den Kommunikationsbereich verschiedener Kultureinrichtungen und veröffentlichte Texte zur bildenden Kunst. Heute ist sie als Journalistin und Essayistin tätig.
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