„Mit der Wahrheit den Verstand erleuchten”- Zum Tode von Sally Perel, der „Hitlerjunge Salomon”

Salomon „Sally“ Perel überlebte den Holocaust, indem er seine jüdische Identität verborgen hielt. © StagiaireMGIMO - Eigenes Werk/WIKIPEDIA

Salomon Perel überlebte den Holocaust quasi „in der Haut des Feindes“. Sally konnte seine jüdische Identität vor den Nationalsozialisten verbergen und sich als „Volksdeutschen“ ausgeben. Seine Autobiographie „Hitlerjunge Salomon“ wurde zum Bestseller und erzählt über seine Zeit in der Hitlerjugend und als Dolmetscher der Wehrmachst. Mit 97 Jahren starb Sally in seinem Haus in Israel. (JR)

Von Julian M. Plutz

“Du sollst leben!” waren die letzten Worte, die Salomon “Sally” Perel von seiner Mutter hörte. Sie würden für den damals 14-jährigen Juden immer im Gedächtnis bleiben. Mehr noch: Für ihn waren die Worte Ansporn, am Leben zu bleiben und eine Entscheidung zu treffen, die, wäre sie nicht wahr, sich kein Drehbuchautor sich trauen würde, niederzuschreiben. Sally wurde 1925 in Peine als Sohn eines Rabbiners geboren. Seine Kindheit in der niedersächsischen Stadt schien zunächst unbeschwert. Doch wie in vielen Orten Deutschlands und Europas hatte der Antisemitismus auch dort eine lange Historie. Zwar existiert in Peine bereits seit dem Mittelalter jüdisches Leben, allerdings durften sie sich nicht innerhalb der Stadtmauer ansiedeln, ein Ort, bei dem sie geschützt hätten leben können.

Und so ist es kein Zufall, dass der erste urkundlich erwähnte Jude, Sloman Fan Peine im 13. Jahrhundert aufgrund der Verfolgung erwähnt wurde. Ab 1457 wurden die Juden dann systematisch vertrieben, unter anderem aus dem Hochstift Hildesheim, sodass kein Jahr später in Peine kein Jude mehr lebte. Erst mehr als 150 Jahre später erlaubte man Juden das Wohnrecht im Stadtgebiet. Langsam entwickelten sich zarte Strukturen. Gemeinden wurden gegründet, wie auch eine jüdische Schule. Am Ende des 17. Jahrhunderts lebten dort etwa 140 Juden. Doch das Zusammenleben mit den Christen lief alles andere als konfliktfrei. So wurde immer wieder von Schändungen von jüdischen Friedhöfen berichtet. Etwas, was sich bis heute nicht geändert hat.

 

Mutter und Vater überlebten den Holocaust nicht

1833 wohnten 211 Juden in Peine, 133 auf dem Damm und bereits 78 in der Stadt. Das Magistrat betrachtete dies als Bedrohung. Gerade christliche Kaufleute sorgten sich um ihr Geschäft. So bestünde die Gefahr, dass die “Handelsstraße” bald zur "Judenstraße" werde und “die Juden die herrschende, die Christen die dienende Nation” werden könnten. Also legte die Kaufmannsgilde immer wieder Einspruch gegen weitere Ansiedlungen jüdischer Kaufleute im Stadtgebiet ein. Dies hatte zur Folge, dass im Jahr 1900, 25 Jahre vor der Geburt von Sally Perel, lediglich rund 130 Juden in Peine lebten. Noch 1920, zur Einweihung des Gedenksteins für die jüdischen Gefallenen im Ersten Weltkrieg, ahnte kaum jemand, wie düster sich die Geschichte entwickeln würde und zu welchen Taten die Deutschen in der Lage waren.

Fünf Jahre später erblickte Sally das Licht der Welt. 1935 musste er mit ansehen, wie die Nazis das Schuhgeschäft der Familie verwüsteten. Es galt längst ein organisierter Boykott sämtlicher jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte, der viele in den Ruin trieb. Lange vor der Reichspogromnacht sahen sich die beiden größten Kaufhäuser in Peine, “Spiegelberg” und "Brunsviga" gezwungen, ihr Geschäft zu verkaufen. Den 10. November 1938 erlebte Sally nicht mehr in Peine, da seine Familie bereits drei Jahre zuvor nach Polen floh. Dort waren die Perels zunächst sicher.

Doch die Sicherheit hielt nicht lange an. 1939 marschierte die Wehrmacht in Polen ein. Seine Eltern reagierten prompt und schickten ihn in Richtung Sowjetunion. Mutter und Vater Perel überlebten den Holocaust nicht. In der Nähe von Minsk, der heutigen Hauptstadt von Weißrussland wurde Sally schließlich von der Wehrmacht verhaftet. “Mir war klar, wenn ich die Wahrheit sage, werde ich erschossen”, sagte er Jahrzehnte später in einem Interview. Also gab er sich als sogenannter Volksdeutscher aus und nannte sich Josef Perel. “Ich weiß nicht wieso”, so Salomon, “aber die Soldaten haben mir geglaubt. Allen anderen wurden die Hosen heruntergezogen. Wer beschnitten war, wurde getötet.”

 

Die Nazi-Indoktrination

Josef, genannt Jupp, konnte sich als deutsch-russischer Übersetzer im Jahr 1941 beweisen. Er blieb unauffällig, musste aber stets mit der Angst leben, entdeckt zu werden. Kurze Zeit später musste er an die Front. In einer intimen Situation wurde von einem Kameraden seine wahre Identität entdeckt, da dieser als Homosexueller Interesse an Sally hatte. Doch statt ihn zu verraten, versicherte er, seine Tarnung nicht auffliegen zu lassen und es entwickelte sich eine tiefe Freundschaft.

Nach zwei Jahren Wehrmacht kam er zurück nach Deutschland, da ihn der Hauptmann von Münchow adoptieren wollte. Er sorgte auch dafür, dass er die Akademie für Jugendführung der Hitlerjugend in Braunschweig besuchen konnte. Diese Schule galt als höchste Schulungseinrichtung der Nationalsozialisten zur Ausbildung des Führungsnachwuchses für die Hitlerjugend. Hier wurde er indoktriniert, was er Jahre später offen zugab. Perel: “Sogar ich als Jude bin Opfer des völkischen Denkens geworden”, sagte er in einem Interview mit dem Spiegel. “Diese Ideologie war so überzeugend. Als ich damals in der Klasse mit den anderen Jugendlichen saß, fing ich an, daran zu glauben. Ich wurde mein Feind.”

Die Nazi-Indoktrination hatte sich so stark in seinem Unterbewusstsein verankert, dass er sie bis zu seinem Tod nicht mehr los wurde. “Ich reagiere manchmal als Nationalsozialist." Wenn in einem Film eine Hakenkreuzfahne erscheint und die Soldaten marschieren, da kommt bei mir - beim Hitlerjungen Jupp, der ich mal war - eine warme Nostalgie hoch. Ich marschiere mit. Und erst danach kommt Sally, der auch Teil von mir ist, und sagt: "Nein, da mache ich nicht mit."

 

In Israel fanden sich die Überlebenden der Familie wieder

1943 absolvierte er eine Ausbildung zum Werkzeugmacher bei Volkswagen. Auch hier hatte er Glück im Unglück. Die Ausbildung galt als Prestigeprojekt der Nazis und sollte die zukünftigen Facharbeiter auch zu Führungspersönlichkeiten in der Gesellschaft machen. Neben der handwerklichen Ausbildung erhielten sie auch ideologische und militärische Schulungen. Vor seinen Kollegen musste er nach wie vor seine Identität verbergen. “Ich überlebte in der Haut des Feindes”, so Sally. Die Mitschüler beneideten ihn um seine Fronterfahrungen. Er war beliebt. Doch die Angst, enttarnt zu werden, blieb. Am Tage war er Josef “Jupp”, nur nachts, wenn alle schliefen, durfte er der jüdische Junge Salomon sein.

Im Jahre 1948 ging Sally, wie viele andere Juden, in den frisch gegründeten Staat Israel. Seine beiden Brüder lebten bereits dort. Die Eltern, sowie seine Schwester, fielen der Shoa zum Opfer. In Israel merkte er rasch, dass seine Geschichte nicht nur auf Gegenliebe stieß. Dort galt es als problematisch, wenn Juden mit den Nazis kooperiert haben. Darum sagte er meistens, wenn er gefragt wurde, wie er in Deutschland überleben konnte, er habe einen gefälschten Ausweis gehabt. „Das war nicht ganz die Wahrheit und dennoch nicht gelogen“, sagt er einmal etwas augenzwinkernd im Rückblick auf die Geschichte.

 

Sallys Strahlkraft wird fehlen

Erst viel später, 1984, befasste er sich intensiv mit seiner Geschichte und schrieb diese auf. “Hitlerjunge Salomon” wurde zum Bestseller, die Verfilmung ein großer Erfolg. Seitdem besuchte Sally regelmäßig Schulen in Deutschland. “Die Zeitzeugen sind die besten Geschichtenerzähler”, sagte er mit fast 90 bei der Fernsehsendung Markus Lanz. “Die Schüler sind fantastisch. “Das deutsche Schulwesen tut sehr viel. Manchmal kommen Schüler mit Tränen und bitten bei mir um Verzeihung. Da fange ich auch an zu weinen. Aber ich habe der deutschen Jugend nichts zu verzeihen. Schuld erbt man nicht. Ich will nicht Schuldgefühle wecken, sondern mit der Wahrheit den Verstand erleuchten.”

Mit Sally Perel verliert die Welt einen weiteren Überlebenden der Shoah. Seine Strahlkraft und sein positives Gemüt werden fehlen. Mit seiner Geschichte als “Hitlerjunge Salomon” hat er im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte geschrieben. Auf die Frage, ob er gerne in Deutschland sei, antwortete er dem Spiegel: "Ja, Deutschland blieb doch immer mein Mutterland, trotz Hitler, trotz Auschwitz". Hier bin ich geboren, hier habe ich die Kindheit erlebt. Ich komme gerne nach Deutschland, und mein Hauptinteresse sind bei diesen Besuchen die jungen Leute. "An die wende ich mich mit meiner Geschichte.”

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