Der Antisemitismus kapitulierte nicht am 8. Mai 1945

77 Jahre nach der Kapitulation ist Deutschland „Gedenkweltmeister“© JOHN MCDOUGALL, AFP

Der 8. Mai markiert dank dem Einsatz der westlichen Alliierten und vor allem aber auch der Sowjetunion das Datum der Befreiung vom Nationalsozialismus und seinen unsäglichen Mordfabriken. Besonders für die Juden Europas ist der 8. Mai der Tag der Erlösung aus dem schrecklichsten Martyrium ihrer Geschichte. Er stellt das endgültige Ende der Shoah, des bestialischen Genozids an sechs Millionen unschuldigen jüdischen Opfern dar. Doch der Antisemitismus hat überlebt, in den Köpfen und in den Ministerien, auf deutschen Straßen und in Moscheen. Die Feinde der Juden inszenieren sich besonders heute wieder als Verfolgte und werden auf politischer Bühne unserer Zeit nur allzu häufig hofiert. 77 Jahre nach der Kapitulation Hitler-Deutschlands versuchen vor allem linke und grüne Kräfte die Singularität des Holocaust zu verwässern und stilisieren muslimische Israel- und Judenhasser als Opfer. (JR)

Von Monty Aviel Ott

Es ist nicht lange her, da haben wir uns eine Woche lang vom „Brot der Armut“ ernährt. Das trockene Gebäck braucht so einigen Erfindungsreichtum, um wirklich genießbar zu werden. Doch verbergen die staubtrockenen Mazzeblättchen, wie auch andere symbolische Handlungen in jüdischen Ritualen, eine tiefgründige Bedeutung: „Wir waren Sklaven in Ägypten“. Pessach ist das Fest der Befreiung an welchem wir uns zweierlei bewusst machen sollten: einerseits, welche Freiheit wir heute genießen und andererseits, von was wir uns heute noch versklaven lassen.

Doch kurz nach dem Ende von Pessach, liegt ein säkularer Tag der Befreiung vor uns. Und mit dem 77. Jahrestag dieser Befreiung wird es mal wieder Zeit für eine Bestandsaufnahme. Auch an diesem Tag sind wir von einem Übel befreit worden. Ein Übel, das keinen Vergleich kennt. Ein Unheil, das in seiner Monstrosität singulär in der Geschichte des Menschen ist. Der 8. (bzw. im russischsprachigen Raum der 9.) Mai markiert das Datum der Erlösung vom Nationalsozialismus, der Erlösung von den Mordfabriken, die unter anderem die Namen Auschwitz, Sobibor und Treblinka trugen.

Doch was meint eigentlich Erlösung bzw. Befreiung in diesem Zusammenhang? Wer ist befreit worden vom Nationalsozialismus? Und welche Lehren wurden daraus gezogen? Der Frankfurter Sozialpsychologe und Mitbegründer der sogenannten „Frankfurter Schule“ Theodor W. Adorno konstatierte in seinem Essay „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.“ Adornos Forderung aus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts hätte zur Leitmaxime der jüngeren bundesrepublikanischen Gesellschaft werden sollen. Doch weder der Fakt des industriellen Mordes noch sein Ausmaß besiegelten das Ende des Antisemitismus. Es wurde fast das komplette europäische Judentum ausgerottet und dennoch scheint die Vergangenheit in Deutschland „höchst lebendig“. Adorno stellte sich die Frage, „ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam“. Wie lebendig der Antisemitismus weiterhin ist, wird einem bewusst, wenn man die Anschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland und die Botschaft des Staates Israel liest, wie Monika Schwarz-Friesel es auf wissenschaftlicher Basis getan hat.

Auch in Teilen der deutschen Gesellschaft leben antisemitische Vernichtungswünsche fort. Diese äußerten sich sehr offen während militärischer Konflikte im Nahen Osten oder während der Beschneidungsdebatte im Jahr 2012. Zuletzt zeigte sich die Fratze des antisemitischen Hasses auf deutschen Straßen während der Anti-Israel Aufmärschen in Berlin oder Hannover.

„Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“, hätte auch eine „Stürmer“-Überschrift lauten können. So manch einer, der gerade diese Zeilen liest, wird wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, oder er wird die Seite mit meinen Worten herausreißen und wegwerfen. Alles Paranoia, alles übertrieben! Doch frage ich mich, wie übertrieben kann die Angst vor den antisemitischen Vernichtungswünschen sein, hinsichtlich der Mordanschläge, die in den letzten Jahren auf Juden in Europa abzielten? Wer hier von Übertreibung redet, der vergisst, dass jüdische Gemeinden Hochsicherheitstrakten gleichen. In meiner Gemeinde werden wir beim Beten durch kugelsicheres Glas geschützt. Übertrieben ist nicht das jüdische Sicherheitsbedürfnis, sondern der Hass der Antisemiten. Und das auch in Deutschland nach 1945.

Trotz des offensiven Auftritts antisemitischer Auswüchse der Migrationsjahre seit 2015, muss konstatiert werden, dass die bekennenden Antisemiten weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden sind. Da, wo es vor 1945 noch Antisemitenvereine gegeben hatte, wird der plumpe Neonazi-Antisemitismus weitgehend, das heißt in immer wiederkehrenden Beschwörungsformeln, geächtet. Aber wie Jean Amery bereits 1969 feststellte, „der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar.“ Dabei spielt Amery darauf an, dass es heute als politisch korrekt gilt, wo antisemitische Ressentiments qua Umwegkommunikation als „Kritik am Kapitalismus“ oder „freundschaftlicher Ratschlag an Israel“ geäußert werden.

Die Ironie ist, dass das Kriegsende, also die Niederlage Deutschlands und seiner Verbündeten, eine neue Form (anderes Äußeres, gleiche Substanz) des Antisemitismus begründete. Die sog. „unauflösliche Verbindung“ (ehemaliger Bundespräsident Joachim Gauck) zwischen Deutschland und Israel wird dabei immer wieder belegt mit Schuldabwehr und Projektionen. Und hierbei wird die politische Einordnung von „rechts“ und „links“ rissig, denn der antizionistische Antisemitismus ist, contraire zu manchen Faschismustheorien der 60er Jahre, kein dezidiert „rechtes“ Phänomen, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die negativen Eigenschaften bzw. das „Gerücht über die Juden“ (Adorno) wird mit der Staatsgründung Israels (die auch in diesem Monat wieder zelebriert wird), auf den Judenstaat übertragen. So erkannte das „gute Gewissen der Bundesrepublik“ in personae in Israel eine Bedrohung für den Weltfrieden. 100 Jahre zuvor sagte man noch ganz offen, dass „die Juden“ die Weltbrandstifter seien. Israel wird in dieser Projektion also zum „kollektiven Juden“, zum „Juden unter den Staaten“ und all das nur, weil man „uns nie verzeihen (wird), daß wir uns nicht haben erschlagen oder ein bißchen vergasen lassen“ (Zvi Rex).

Die Übertragungen auf Israel skizzieren den gekränkten kollektiven Narzissmus, wie es sich z.B. in den Nazi-Vergleichen eines bekannten deutschen Publizisten wiederfindet. Diese „Wunden“ spiegeln die psychische Nichtbewältigung der Jahre 1933 bis 1945 wider. Obwohl man sich international damit rühmt eine Art „Gedenkweltmeister“ zu sein, scheint doch eine breite Kluft zu einer gelungenen Aufarbeitung zu bestehen. Das kulminiert in dem Satz, dass „toter Juden gedacht wird, aber die lebendigen Juden vollkommen egal sind“. So kann man einerseits ein trauriges Gesicht auflegen, wenn die Gedenkstunde im Deutschen Bundestag oder der Besuch einer KZ-Gedenkstätte ansteht, sich allerdings mit aller Vehemenz dagegen wehren, dass sich Israel gegen das iranische Atombemühen verteidigt. In Deutschland wurden mit „Gleichgültigkeit“ (Hannah Arendt) die Trümmer weggeräumt, es wurde sich allerdings nicht bewusstgemacht, dass der zur Euphorie gesteigerte kollektive Narzissmus mit der militärischen Niederlage zerbrochen war. Damit überlebte die Identifikation mit diesem und sehnte sich fortan nach Heilung. Um diesem Wunsch zu entsprechen, musste die Realität – insbesondere die Vergangenheit – modelliert werden.

So fasste Franz Joseph Strauß zusammen: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen.“ Während die Vergangenheit immer weiter derealisiert wurde, schloss man den „großen Frieden mit den Tätern“, was der Publizist Ralph Giordano als die „zweite Schuld“ beschrieb. Victor Klemperer, dessen detaillierte Tagebücher der Jahre der nationalsozialistischen Diktatur jedem Historiker ein Begriff sind, erklärte bereits 1945, dass das „3. Reich (...) schon so gut wie vergessen (ist), jeder ist sein Feind gewesen, ‚immer’ gewesen“. Doch das Fortleben des Nationalsozialismus spiegelte sich nicht nur in dieser Massenpsychose wider, sondern auch in dem zunehmenden Wahlerfolg rechtsradikaler Parteien und eines sich als links begreifenden Israelhasses.

Bezüglich des Letzteren berichtet der bereits angeführte Theodor W. Adorno von einer Situation aus der Frankfurter Uni. Der jüdische Studentenverband hatte den israelischen Botschafter eingeladen, um über die Situation im Nahen Osten zu referieren. Asher Ben-Natan, der einst mit seiner Familie vor der nationalsozialistischen Verfolgung aus Deutschland geflohen war, wurde von einer Allianz aus rechtsradikalen, linksradikalen und „palästinensischen“ Studenten niedergebrüllt. Adorno schreibt an einen Freund: „Du müßtest nur einmal in die manisch erstarrten Augen derer sehen, die, womöglich unter Berufung auf uns selbst, ihre Wut gegen uns kehren.“ Unter ihnen waren auch eben jene Studenten, die sich unter anderem in „palästinensischen“ Terrorlagern ausbilden ließen, um später in Deutschland Attentate auf Prominenz aus Politik und Wirtschaft auszuführen. Unter jenen, die sich ausbilden ließen, waren auch zwei Flugzeugentführer, die bei der Entführung der Air-France-Maschine im Juli 1976 nach Entebbe Schützenhilfe leisteten. Die deutschen Terroristen waren es auch, die an Bord die Selektion jüdischer Passagiere vornahmen. Hierbei kam es dann zu einer nennenswerten Begebenheit: „Als ein Holocaustüberlebender Böse (Anm.: einer der beiden Terroristen) dabei seine eintätowierte Häftlingsnummer zeigte und ihn so an die Selektion in den Konzentrationslagern erinnerte, erwiderte Böse auf den darin implizierten Vorwurf, er sei kein Nazi, sondern Idealist.“

Zuvor hatten Gruppierungen deutscher Terroristen bereits Anschläge auf das jüdische Gemeindezentrum in Berlin und das jüdische Altenheim in München verübt. Das Weltbild, das diese Gruppierungen vertraten, ist bis heute in einem Teil der „Linken“ aktiv. Es ist eben jener Teil linker politischer Gruppierungen, die immer noch in Israel das absolut Böse sehen und versuchen durch Täter-Opfer-Umkehr ihr Gewissen zu beruhigen. Sie leben im Wiederholungszwang, frei nach dem Motto „die Geschichte beweist, dass der Mensch nichts aus der Geschichte lernt“. Der Status Quo ist, dass die Angst jüdischer Gemeinden nicht nur in Bezug auf faschistische Gruppierungen und pseudo-demokratische Parteien besteht, sondern dass sich Antisemitismus 77 Jahre nach der Befreiung quer durch die Gesellschaft bewegt.

Auf politischer und gesellschaftlicher Ebene gibt es weiterhin viele progressive und emanzipative Kräfte, die sich dem Kampf gegen Judenhass widmen. Auch im Alltagsleben kommt es immer wieder zu positiven Begegnungen. Doch muss man sich als Jude in Deutschland die Frage stellen, kann ich selbst, oder können meine Kinder (sobald/sofern ich welche habe, ihr) mein Judentum öffentlich leben, ohne Repression zu fürchten? Wir begehen den Tag der Befreiung, doch die Wahrheit ist, dass wir nicht endgültig von dem befreit wurden, was vor 77 Jahren so unsägliches Leid über Europa gebracht hat. Die Feinde der Juden befinden sich weiterhin auf dem Angesicht der Erde und einige greifen nach atomaren Waffen. Die logische Konsequenz, die gelebte Verantwortung nach der Schoah, nach dem Zweiten Weltkrieg, sollte also heißen: „Nie wieder Auschwitz“. Wie diese Grundmaxime in die Tagespolitik übersetzt werden kann, sollte am besten am Beispiel der Atomverhandlungen mit dem Iran gezeigt werden.

Sehr geehrte Leser!

Die alte Website unserer Zeitung mit allen alten Abos finden Sie hier:

alte Website der Zeitung.


Und hier können Sie:

unsere Zeitung abonnieren,
die aktuelle oder alte Ausgaben bestellen
sowie eine Probeausgabe bekommen

in der Druck- oder Onlineform

Unterstützen Sie die einzige unabhängige jüdische Zeitung in Deutschland mit Ihrer Spende!

Werbung


Alle Artikel
Diese Webseite verwendet Cookies, um bestimmte Funktionen zu ermöglichen und das Angebot zu verbessern. Indem Sie hier fortfahren, stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Mehr dazu..
Verstanden