Michel Houellebecqs Buch „Vernichten“: Unerwartet leise Töne

Michel Houellebecq hat wieder zur Feder gegriffen und zeichnet einen melancholischen Abriss Frankreichs vor den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2027. Der Roman ist ein Plädoyer für die Familie und die tradierten Werte. Die gewohnte, provokante Zunge Houellebecqs vermisst man diesmal allerdings, was eine Anpassung an die vermeintliche politische Korrektheit dieser Zeiten sein mag. (JR)

Von Filip Gašpar

Vernunft und Vorsicht müssten doch eigentlich perfekt zueinander passen. Das sind die Namen des Finanzinspektors im Wirtschaftsministerium Paul Raison (frz. Vernunft) und seiner Ehefrau Prudence (frz. Vorsicht), die als Schatzmeisterin ebenfalls im Staatsdienst beschäftigt ist. Doch die beiden Ehepartner haben sich auseinandergelebt. Das eingeschlafene Berufs- und Eheleben von Paul Raison bildet einen von drei Erzählsträngen im neuesten Roman „Vernichten“ von Michel Houellebecq. Der Roman erzählt einige Monate vor und nach der französischen Präsidentschaftswahl im Jahr 2027 und erinnert nicht zufällig an die kommende Wahl in Frankreich. Was erwartet uns? Wird sich nichts ändern oder wird man die Zukunft vernichten? Für Houellebecq ist das Abendland in einer Abwärtsspirale und der Pessimist sieht auch keine geistigen Kräfte, die diesen Untergang noch aufhalten könnten. Wer nach seinem Roman „Unterwerfung“ von 2015 erwartete, in dem er ein Frankeich unter islamischer Herrschaft zeichnete, dass es dieses Mal noch dunkler zugehen würde, wird zumindest in dieser Hinsicht enttäuscht werden. Doch trotzdem ist das Buch lesenswert, weil Houellebecq eben nicht immer der Provokateur ist, sondern die stellenweise Langeweile einkalkuliert hat. Wie erwähnt findet der Leser drei Erzählstränge im Roman vor. Ein hilflos agierender Inlandsgeheimdienst, der keine Antwort auf verschlüsselte Filmbotschaften von Cyberterroristen und Deep Fake Videos findet. Zu sehen bekommt man die Zerstörung eines chinesischen Frachters, die Torpedierung eines mit Flüchtlingen besetzen Bootes und die Scheinhinrichtung des amtierenden französischen Wirtschaftsministers. Doch verläuft die Suche nach den Drahtziehern irgendwann im Sand. Der zweite Erzählstrang zeigt, wie die Wahlkampfauftritte eines französischen Präsidentschaftskandidaten mithilfe einer ausgeklügelten Strategie durchgeführt werden und die Öffentlichkeit manipuliert wird. Der dritte erzählt vom bereits oben erwähnten Paul Raison und dessen Ehe und vom Sterben.

Die Ehe ist kinderlos geblieben, Freunde haben sie auch kaum welche und die letzte Intimität ist auch schon über zehn Jahre her. Die sichtbare Trennlinie in der Ehe sind die getrennten Fächer im Kühlschrank, da Prudence zu einer militanten Veganerin mutiert ist. Doch unter der Last der tödlichen Krankheit von Paul nähert sich das Paar einander wieder an und findet, wenn auch nur für die verbliebende kurze Zeit, wieder zueinander.

Auf den über 600 Seiten bleibt eigentlich nichts unvorhersehbar. Zeitweise weiß man nicht, ob Houellebecq dem Leser einen Polit- oder einen Spionageroman vorsetzen will, oder von beidem etwas und dann wieder nichts, denn unterm Strich bekommt man das Gefühl, dass die von ihm gesponnen Intrigen ihn selbst nicht interessierten. Ein weiteres stärker in den Vordergrund tretende Element ist die Religion als Behüter der eigenen kulturellen Identität. In Frankreich ist damit der Katholizismus gemeint, und die französischen Katholiken entpuppen sich als sie die wahren Patrioten, die um ihre Kultur und ihre Heimat kämpfen. Dazu gehören auch Begriffe wie Ehe und der Respekt den Alten gegenüber. Überhaupt liest sich „Vernichten“ stellenweise wie ein 600 Seiten langes Plädoyer für konservative Familienwerte, wie auch Religion. Tiefgläubige Personen, wie etwa Pauls erzkatholische Schwester Cécile werden nicht als altbacken, sondern im Vergleich zu den Hauptprotagonisten als glücklich und mit sich im Reinen, dargestellt.

Als am 7. Januar 2015 die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo über Houellebecqs am damaligen Tag veröffentlichen Roman „Unterwerfung“ diskutierte, und auf dem Cover sich Houellebecq als zahnlose Kassandra fand, stürmten Islamisten die Büroräume und ermordeten zwölf Menschen. Unter den Redakteuren befand sich auch Philippe Lançon, der „Unterwerfung“ rezensiert hatte und von sieben Kugeln getroffen, den Anschlag schwerverletzt überlebte. Danach musste er siebzehn Gesichtsoperationen über sich ergehen lassen und verbrachte mehr als ein Jahr im Krankenhaus. In seinem autobiographischen Buch „Der Fetzen“ zollt er dem Pflegepersonal und den Chirurgen seinen Respekt. In Houellebecqs Büchern wird in Krankenhäusern die Euthanasie mehr oder weniger offen praktiziert. Pauls Vater hat einen Schlaganfall erlitten und ist seitdem gelähmt, kann nicht mehr sprechen und ist auf Intensivpflege angewiesen. Der Autor attackiert offen die aktive Sterbehilfe und positioniert sich auf der Seite der Wehrlosen. Seine Romanfiguren werden zu Lebensschützern und entführen mithilfe eines „Kommandos zur Bekämpfung von Mord in Krankenhäusern“ Pauls Vater. Der Vater war früher ein Bewunderer des Inlandgeheimdienstes, doch ist er nun dazu verdammt, seine Tage damit zu verbringen, die Landschaft zu betrachten oder abwechselnd die Hand der Tochter oder der Lebensgefährtin zu halten. Bei Houellebecq kümmern sich Frauen noch um ihre Partner, Väter oder Brüder. Auch Prostituierte kommen im Figurenkosmos wieder wie selbstverständlich vor, auch wenn es dieses Mal keine Sexszenen gibt.

Wer bei „Vernichten“ aber reine Provokation erwartet, wird eines Besseren belehrt. Man kann sogar sagen, dass es sein vielleicht ruhigster Roman ist.

Der Roman schließt mit der Hoffnung auf ein Fortbestehen der Liebe nach dem Ableben ab und man darf gespannt sein, wohin Houellebecq literarische Reise weiter hinführt.

 

Michel Houellebecq: „Vernichten“, Roman, aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek, Dumont Verlag, Köln. 620 Seiten. 28 Euro.

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