Warum ist in der Schöpfungsgeschichte G‘tt in der Mehrzahl?

Statt „Eloah“ wird das Pluralwort „Elohim“ in Genesis verwendet – war G‘tt nicht allein?

Von Rabbiner Elischa Portnoy

Kabbala ist im Trend. Viele versuchen die Kabbala zu erlernen, um tiefe Geheimnisse des Lebens zu begreifen und das Leben insgesamt sinnvoller zu machen. Deshalb sind überall zahlreiche Kabbala-Zentren und Kabbala-Gurus zu finden, die mit dem Judentum oft gar nichts zu tun haben.

Jeder Mensch kann jedoch auch ohne Gurus so manche Geheimnisse, die die Kabbala beinhaltet, bei aufmerksamer Betrachtung in der Tora selbst finden.

Gleich im ersten Vers der Heiligen Schrift kann man etwas Interessantes bemerken:

„Im Anfang hatte Gott den Himmel und die Erde geschaffen“. Wenn dieser Satz in deutscher Übersetzung noch ganz normal erscheint, so ist er im Original viel spannender. Denn das Wort, was auf Deutsch als „Gott“ übersetzt wird, lautet auf Hebräisch „Elo-him“.

Für diejenigen, die sich mit Hebräisch auskennen, klingt dieser G’ttesname ziemlich komisch: Denn nach den Regeln der Grammatik steht dieses Wort im … Plural! Diejenigen, die Hebräisch noch besser verstehen, wissen, dass das Wort „Elokim“ auch noch andere Bedeutungen hat, wie z.B. „Richter“ oder sogar „fremde Götter“. Aber die größte Überraschung erwartet den Leser, wenn er zum zweiten Kapitel (2:4) kommt. Dort heißt es „Dies ist die Entstehung des Himmels und der Erde, da diese geschaffen wurden, am Tag, da der Ewige, Gott, Himmel und Erde fertigte“. Hier steht nun plötzlich, dass G’tt, der die Welt erschaffen hat, nicht nur „Gott“ (Elokim) heißt, sondern auch „der Ewige, Gott“ (HaSchem Elokim).

Was bedeutet das alles? Wie heißt G’tt denn nun wirklich?

Das ist eine sehr spannende Frage und wenn man nachforscht, so kann man einige echte Geheimnisse des Judentums entdecken.

 

Ein und nicht Viele

So wie die Menschen, die eigentlich keinen Namen brauchen (die Namen sind nur für die anderen nötig, um diesen Menschen zu rufen), braucht auch G’tt natürlichen keinen Namen. Deshalb ist G’ttes Name einfach seine Manifestation in dieser Welt. Und da sich G’tt auf sehr verschiedene Weisen in dieser Welt offenbaren kann, hat Er auch unendlich viele Namen. So umfasst zum Beispiel das Werk „Schorschej haSchemot“ („Wurzel der Namen“) von Rabbi Moshe Zacuto, das eine kurze Zusammenfassung von G’ttes Namen enthält, 5 Bände und mehr als 1.500 Seiten!

Auch im Tanach selbst finden wir mehrere Namen von G’tt: Ado-naj, Ke-l, Scha-daj, Ado-naj Tze-waot und andere. Man muss deshalb erklären, warum G’tt für den Anfang der Schöpfungsgeschichte ausgerechnet den Namen „Elokim“ ausgewählt hat, der außerdem auch noch mehrdeutig ist.

Die Mehrdeutigkeit des Namens „Elokim“ ist nur auf den ersten Blick problematisch. Schon im Talmud wurde die Lösung für dieses „Problem“ aufgezeigt. Es wird erzählt, dass einmal ein Römer zu den jüdischen Weisen kam und provozierend fragte: von wie vielen Göttern wurde die Welt erschaffen? Natürlich meinte er, dass G’ttes Name im Vers der Schöpfungsgeschichte im Plural steht, und somit auf mehrere Götter hinweisen kann. Doch die jüdischen Weisen musste nicht lange nachdenken, um diese Frage zu beantworten. „Für diejenigen, die die Heilige Schrift verdrehen wollen, gib es dort schon die Antwort: es steht nicht ‚Elokim haben erschaffen‘, sondern ‚Elokim hat erschaffen‘. Mit anderen Worten zeigt das Verb, das im Singular steht, dass es sich bei ‚Elokim‘ um nur einen G’tt handelt und nicht um mehrere Götter.“

 

Der „Hauptname“

Jedoch hat G’tt natürlich nicht umsonst den Namen „Elokim“ für die Schöpfungsgeschichte auserwählt. Um den Grund für diese Wahl zu verstehen, muss man die tiefe Bedeutung von G’ttes Namen betrachten.

Der „Hauptname“ von G’tt ist der sogenannte „Schem haMeforasch“ – „der spezielle Name“, der aus vier Buchstaben besteht: Jud-Hej-Waw-Hej. Während man andere G’ttesnamen nur nicht grundlos aussprechen darf (sondern nur im Gebet oder im Gericht beim Schören), ist dieser „Schem haMeforach“ so heilig, dass man ihn nie aussprechen darf. Nur der Hohepriester dürfte ihn am Jom Kippur im Tempel aussprechen. Beim Gebet wird dieser Name als „Ado-naj“ („Herr“) ausgesprochen.

Eine andere Bezeichnung dieses Namens ist „Schem haEtzem“ – „der eigentliche Name“. Der Vilna Gaon (Gaon von Wilna, 1720-1797) erklärt, dass dieser Name zeigt, dass G’tt ewig existiert, sich nie ändert und von nichts anhängig ist. Im Gegensatz zu G‘tt sind G‘ttes Schöpfungen limitiert und ihre Existenz hängt nur von G‘tt ab. Deshalb ist dieser Name allumfassend: G’tt ist überall und allmächtig.

 

„Begrenzung“ für die Schöpfung

Der Name „Elokim“ hat eine ganz andere Bedeutung. Dieser Name steht für „Gwura“ – Stärke, Strenge, Härte. Die Strenge und Härte assoziieren wir mit Begrenzung (wenn Eltern ihrem Kind Strenge zeigen wollen oder es für ein Vergehen bestrafen wollen, dann begrenzen sie für ihr Kind z.B. Vergnügungen: kein Tablet, kein Fernsehen, keinen Ausflug usw.).

Deshalb ist es auch sehr logisch, dass genau dieser Name in der Schöpfungsgeschichte benutzt wurde: in der Kabbala wird erklärt, dass G’tt sich quasi „begrenzen“ musste, um „Platz“ für die zu erschaffende Welt „zu lassen“. Anders ausgedrückt, musste ein Raum geschaffen werden, wo „G’tt nicht zu sehen und nicht zu spüren war“. Nur so konnte dem Menschen der freie Wille garantiert werden. Und der Name „Elokim“ weist auf diesen Vorgang (die „Selbstbegrenzung“ von G’tt) hin.

Jedoch funktioniert der freie Wille nur dann, wenn man keine direkten Konsequenzen für die Taten zu spüren bekommt. Wäre jeder Täter direkt nach seiner Sünde vom Blitz getroffen, hätte natürlich niemand je etwas Schlechtes getan. Und das führt zu der Erklärung, warum in der zweiten Erzählung über die Schöpfung (Vers 2:4) nicht mehr „Elokim“, sondern „Ado-naj Elokim“ steht. Während „Elokim“ für die Härte und den strengen Gerichtsprozess steht, symbolisiert der Name „Ado-naj“ Liebe, Barmherzigkeit und Gnade.

Deshalb erklären unsere Weisen, dass die „Änderung“ des Namen bei der Schöpfung gerade für den freien Willen notwendig war: „Gott (Elokim) erschuf, und es heißt nicht, „der Ewige (Ado-naj) erschuf“; denn zuerst bestand Seine Absicht die Welt auf Grund der Gerechtigkeit (Strenge) zu erschaffen. Da Er aber sah, dass die Welt dann nicht bestehen könne, schickte Er die Barmherzigkeit voran und verband sie mit der Gerechtigkeit, darum heißt es „am Tage, da der Ewige, Gott, Erde und Himmel erschuf“.

Das bedeutet, dass wenn die Frevler etwas Schlechtes machen, sie nicht gleich von G’tt bestraft werden (kein sofortiger Blitz vom Himmel). G’tt wartet zuerst, ob der Mensch vielleicht doch seine Taten bereut und die T’schuwa (Rückkehr) macht. Und wenn nicht, dann bekommt der Bösewicht seine Bestrafung sowohl in dieser Welt als auch in der zukünftigen.

 

Wichtige Erkenntnis

Wenn man noch tiefer in den Namen „Elokim“ blickt, bekommt man ein sehr wichtiges Verständnis für G’ttliche Wege.

Kabbalisten bemerken, dass die Gematria (der Zahlenwert) des Wortes „Elokim“ 86 beträgt. Den gleichen Zahlenwert hat auch das hebräische Wort „haTewa“ (die Natur). Und das ist natürlich kein Zufall.

Unsere Weisen erklären, dass die Natur eine Art „Karnevals-Maske“ von G’tt ist. Wir sehen die Erde, die Planeten, Sonne, Mond, Pflanzen und Tiere und denken, dass alles „von selbst“ entstanden ist. Dass es keinen G’tt, keine höhere Macht gibt, die das alles erschaffen hat und ständig lenkt und steuert. Wenn man aber versteht, dass nichts „von sich selbst“ kommen kann, und es einen Schöpfer geben muss, dann erkennen wir hinter der „Maske“ der Natur den G’tt.

Und diese Erkenntnis soll uns helfen zum richtigen Verständnis des berühmten und wichtigen „Schma Israel“-Satzes zu gelangen. Wir sagen „Schma Israel, Ado-naj Elokejnu, Ado-naj Echad“ („Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig“). Wir sollen erkennen, dass der G’tt, der diese Welt erschaffen hat und sich weiterhin um diese Welt kümmert (Elokejnu) der gleiche G’tt (Ado-naj) ist, der ewig, allmächtig und unabhängig ist.

Mit diesem Verständnis vom tiefen und mehrdeutigen Namen „Elokim“ wird unsere Weltanschauung viel richtiger sein und mehr Sinn ins Leben bringen.

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