Propheten zwischen Wut und Hoffnung

Verborgene Rettungen, das Leben des Propheten, der Löwe mit den zwei Gesichtern und das versteckte Hemd in der Übersicht der Haftarot des Monats Juli.

„Jeremiah auf den Ruinen von Jerusalem“ von Horace Vernet (1844)© WIKIPEDIA

Von Rabbiner Elischa Portnoy

Die Stimmung ist hierzulande momentan nicht besonders gut: die Folgen der Corona-Pandemie machen sich immer mehr bemerkbar, die Arbeitslosigkeit steigt, der Konsum zieht nur langsam wieder an und immer mehr Unternehmen melden Insolvenz an. Sehr passend zu dieser Tristesse sind die Haftarot im Monat Juli vor allem deshalb, weil große Teile des Monats auf die sogenannten „drei Trauerwochen“ fallen. Deshalb gibt es keine spannenden und filmreifen Geschichten, dafür aber bitterernste und vorwurfvolle Prophetien.

Alles jedoch ist bekanntlich eine Frage der Einstellung. Man muss zwar Realist sein und die auftretenden Probleme als solche klar erkennen, man muss aber auch das Licht am Ende des Tunnels sehen können. Auch unsere Weisen wussten das und haben für diese Haftarot solche Abschnitte ausgewählt bzw. zusammengesetzt, so dass man auch dort Hoffnung, Zuversicht und ewige Weisheit finden kann.

 

Die verborgene Rettung

Am ersten Schabbat im Juli werden mit den Parschjot „Chukat“ und „Balak“ wegen der Besonderheiten des jüdischen Kalenders gleich zwei Wochenabschnitte zusammen gelesen. Und auch wenn jeder Wochenabschnitt eine eigene Haftara hat, gilt hier die allgemeine Regel, dass bei zwei zusammengelesenen Parschijot, als Haftara der Prophetenabschnitt des zweiten Wochenabschnittes gelesen wird. In unserem Fall wird die Haftara von Parascha „Balak“ und entsprechend die Prophetie von Micha vorgelesen. Diese Prophetie ist eigentlich noch die Positivste im Gegensatz zu den anderen Haftarot des Monats. Auch der Zusammenhang mit dem Wochenabschnitt ist klar ersichtlich: in der Parascha wird vom Versuch Juden zu verfluchen erzählt:

Der König von Moab, Balak ben Tzippor, hat den mächtigen Zauberer Bilam ben Beor angeheuert, um das jüdische Volk zu verfluchen. Seine Bedenken, dass die Juden auf konventionelle Weise nicht zu besiegen seien, waren durchaus berechtigt. G’tt aber hat die Tragödie abgewendet und ließ Bilam die Juden segnen statt fluchen. Und genau daran erinnert Micha in seiner Ansprache an seine Zeitgenossen: „Mein Volk, bedenke doch, was Balak, Moabs König, beschlossen, und was Bilam, Sohn Beors, ihm erwidern musste – [was sich ereignet] von Schittim bis Gilgal – um zu erkennen die Gnade des Ewigen“. Und damit spricht der Prophet eine sehr wichtige Idee an.

Wenn dieser Versuch des Verfluchens nicht in der Thora beschrieben würde, hätten die Juden wohl nie erfahren, welcher Gefahr sie ausgesetzt waren. Und erst aus der Thora wissen wir von diesem Komplott und der Tatsache, dass G’tt es war, der die Juden gerettet hat. Micha sagt es im Kontext eines Vorwurfs: „Liebe Juden, G’tt hat uns so viele Gefallen getan, so viele Wunder. Und sogar vor Gefahren, die wir nicht einmal kannten, hat Er uns gerettet. Wie können wir so undankbar sein?“

Diese Gedanken sollten auch wir vor Augen haben. Es gibt oft Tage in unserem Leben, an denen alles nach Plan läuft, an denen es keine Probleme, keine Ärgernisse und auch keine „kleinen Zwischenfälle“ gibt. Und man denkt selten daran, dass es hochwahrscheinlich G’tt war, der uns diesen ruhigen Tag beschert hat und vor Problemen, Unfällen und unliebsamen Vorkommnissen bewahrt hat. Was wäre passiert, wenn wir eine Minute früher abgebogen wären? Oder was wäre, wenn wir eine bestimmte Person getroffen hätten? Das werden wir nie erfahren. Es kann jedoch sein, dass G’tt uns vor Unfällen bzw. vor unerwünschten Treffen gerettet hat. Manchmal erfahren wir es im Nachhinein, in den meisten Fällen bleibt diese Chessed (Wohltätigkeit) von G’tt jedoch unbemerkt für uns. Wir müssen uns diese Idee verinnerlichen und bei G’tt jeden Tag bedanken, besonders, wenn alles gut läuft und ruhig ist.

 

Der große Prophet und die rechtschaffenen Mütter

Mit dem Fastentag 17.Tammuz (dieses Jahr fällt er auf den 9. Juli) beginnen die drei „Trauerwochen“, die mit dem großen Fastentag Tischa beAw (9. Aw) im August enden. Unsere Weisen haben beschlossen, dass bei drei Schabbosim, die in diesen „Drei Wochen“ stattfinden werden, unabhängig von den Wochenabschnitten spezielle Haftarot gelesen werden. Diese drei Haftarot prangern Sünder an und mahnen zur T’schuwa (Rückkehr zu G’tt). Deshalb wird als Haftara statt einer spannenden Geschichte, wie z.B. der Prophet Elijahu auf dem Berg Karmel die Priester von Baal besiegte, die erste Prophetie des Propheten Jeremia gelesen (1-2:3).

Am Anfang unserer Haftara erfahren wir etwas über den Propheten selbst: „Reden Jeremias, des Sohnes Hilkias, aus den Priestern zu Anatot im Lande Benjamin, an welchen das Wort des Ewigen erging in den Tagen Josias, des Sohnes Amons, des Königs von Jehuda, im dreizehnten Jahre seiner Regierung, und auch in den Tagen Jojakims, des Sohnes Josias, des Königs von Jehuda, bis zum Ende des elften Jahres Zedekias, des Königs von Jehuda, bis zur Gefangenführung Jerusalems im fünften Monat“.

Es stellt sich natürlich die Frage, warum wir über Jeremia lesen sollen, wenn das Ziel der Haftara doch ist, uns zur Reue zu bringen! Unsere Weisen erklären, dass die Abstammung von Jeremia einen Hinweis darauf beinhaltet.

Der Prophet Jeremia, der neben Jesaia und Jezeckiel zu den drei größten Propheten der Könige-Ära zählt, war kein einfacher Mensch. Er war ein Kohen (Priester), der väterlicherseits von Itamar ben Aaron haKohen stammte und mütterlicherseits von Rachab, der berühmten Gijoret von Jericho, die Hauptprotagonistin der Haftara zum Wochenabschnitt „Schlach“ ist. Rachab war nach mehreren Meinungen eine Prostituierte (bzw. eine Buhlerin). Deshalb war, laut unseren Weisen, die Absicht von G’tt Folgendes: „Soll Jeremia kommen, der Nachkomme eine Sünderin und selbst rechtschaffen ist, und er soll die Sünder, die von rechtschaffenen Müttern geboren sind, zurechtweisen“.

Jeremia, der ein großer Gelehrter und Kabbalist war, lebte in sehr turbulenten Zeiten und hat viel erlebt. Wegen seiner Kritik und Vorhersage der kommenden Katastrophe war er von Zeitgenossen so angefeindet, dass es sogar zu einem Versuch kam ihn zu vergiften. Kurz vor dem Untergang von Jerusalem war er verhaftet, die Elite forderte ihn hinzurichten, er war infolgedessen in eine tiefe Grube geworfen worden und stand schon kurz vor dem Tod. Jedoch hatte G’tt mit dem Propheten anderes vor: er wurde gerettet, erlebte die Eroberung von Jerusalem und die Zerstörung des ersten Tempels (genau so, wie er es vorhergesagt hatte!). Er kam mit den jüdischen Gefangenen nach Babylon und kümmerte sich dort um sie. Dort schrieb Jeremia das herzzerreißende „Klagelied“ („Megilat Ejcha“) über die Zerstörung und das Leid, welches die Juden deswegen ertragen haben.

Jeremia, der 92 Jahre lang als Prophet fungiert hatte, hat auch immer wieder Positives für das jüdische Volk vorhergesagt, was seine große Liebe zu seinen Mitmenschen zeigt. So hatte er unmissverständlich vorhergesagt, dass nach 70 Jahren im babylonischem Exil die Juden zurückkehren werden, und den zweiten Tempel aufbauen. Auch unsere Haftara endet, nach vielen kritischen Versen, positiv und mit starker Botschaft an unsere Feinde: „So spricht der Ewige: ich denke noch an deine jugendliche Zuneigung, an die Liebe deiner Brautzeit, da du mir nachgezogen hast in der Wüste, in einem unbebauten Lande. Ein Heiligtum ist Israel dem Ewigen, Erstling seines Ertrages, alle die ihn essen, werden büßen; Unheil wird über sie kommen, ist der Spruch des Ewigen“.

 

Der brüllende Löwe

Das 4. Buch der Thora „Bamidbar“ wird am 3. Schabbat mit noch einem Doppelabschnitt „Matot-Masej“ beendet. Auch hier wird als Haftara die Prophetie des 2. Abschnittes (Masej) gelesen.

Diese Haftara ist die zweite aus der Reihe der drei speziellen „Anklage-Haftarot“. Interessanterweise wird auch hier die Prophetie von Jeremia gelesen, und zwar die direkte Fortsetzung der Prophetie der vorherigen Haftara (2:4-28).

Jeremia beschuldigt seiner Zeitgenossen in vielen Vergehen, hauptsächlich aber, dass sie ihrem G’tt den Rücken gekehrt haben und sich neue Götzen gefunden haben. Der Prophet benutzt eine sehr schöne und bildhafte Sprache, um die Sünden eindrucksvoll zu beschreiben. Jedoch ist diese besondere Sprache nicht zufällig und die benutzten Ausdrücke wurden sorgfältig ausgesucht: hinter der Metapher und Gleichnissen sind sehr spannende und lehrreiche Hinweise versteckt.

So finden wir zum Beispiel im Vers 2:15 die Metapher eines brüllenden Löwen: „Warum ist es zur Beute geworden? Junge Löwen brüllen es an mit lauter Stimme und machen sein Land zur Wüste, seine Städte zu Brandstätten, die niemand bewohnt“. Auch wenn der brüllende Löwe in sich ein eindrucksvolles Bild gibt, hat diese Metapher noch eine, ganz spezielle für diese Zeit, Bedeutung.

Der Wochenanschnitt „Masej“ wird immer vor der Woche gelesen, auf welche Rosch Chodesch (Monatsanfang) des Monats Aw fällt. Und das Sternzeichen des Monats Aw ist… Löwe! Damit ist der Löwe aus der Haftara ein Hinweis auf den kommenden Monat und sogar auf seinen Charakter! Denn ein brüllender Löwe verspricht nichts Gutes und das gilt auch für den Aw: laut unseren Weisen ist dieser Monat für die Juden der gefährlichste und schwierigste im ganzen Jahr. Das ist ein Monat, in dem uns viele Unglücke und Tragödien passiert sind: am jeweils 9. Aw wurden beide Jerusalemer Tempel zerstört und Juden ins Exil vertrieben. Am 7. Aw im Jahre 5252 (31. Juli 1492) wurden die Juden aus Spanien vertrieben, was für viele Vertriebene Tod oder Elend brachte. Am 5. Aw des Jahres 5674 (28. Juli 1914) begann der Erste Weltkrieg, der Juden viel Leid (durch Vertreibungen und Pogrome) gebracht hat. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass das Sternzeichen „Löwe“ das einzige Raubtier im Zodiak-Kreis ist…

Jedoch ist nicht der ganze Monat schlecht und gefährlich. Es ist auffällig, dass fast alle tragischen Ereignisse in der ersten Hälfte des Monats vorgefallen sind. Nach Vollmond (15. Aw) beginnt das jüdische Mazal sich zum Guten zu ändern. Schon der 15. Aw selbst ist nach der Abschluss-Mischna im Traktat „Taanit“ ein ganz besonderer Tag, der früher sogar ein großer Feiertag war. Heutzutage ist der 15. Aw in Israel zu einer Art „Valentinstag“ mutiert und wird jährlich als „Tag der Verliebten“ gefeiert. An diesem Tag finden in Israel zahlreiche Hochzeiten statt und um den Saal für die Hochzeitsfeier an diesem Tag zu bekommen, muss man ihn fast ein Jahr im voraus reservieren.

Und auch der Löwe kann positiv sein: Der Stamm Jehuda wird in der Thora mit dem Löwen verglichen (Bereschit 49:9). Auch das Wappen der Stadt Jerusalem beinhaltet neben der Mauer und Olivenzweigen auch einen stehenden Löwen.

 

Die wichtige Vision

Am letzten Schabbat des Julis wird mit dem Wochenabschnitt „Dwarim“ das fünfte Buch der Thora angefangen. Da dieser Schabbat immer vor dem großen Fastentag „Tischa beAw“ (9. Aw) ist, wird an diesem Schabbat die dritte und letzte „Anklage-Haftara“ gelesen.

Dieser Schabbat hat eine eigene, ganz spezielle Haftara, welche sogar den Namen für den Schabbat gibt. Der Prophetenabschnitt ist das 1. Kapitel aus dem Buch Jesaia und beginnt mit den Wörtern „Chazon des Jesaia, Sohn Amoz, der prophezeit hat über Jehuda und Jerusalem während der Regierungszeit des Usija, Jotam, Achaz und Hiskija, der Könige von Jehuda.“. Das Wort „Chazon“ bedeutet Vision, und dank dieses Wortes wird der Schabbat vor Tischa beAw „Schabbat Chazon“ genannt.

Nach kurzer Vorstellung des Propheten beginnen schon im 2. Vers die Vorwürfe über die Sünden von Jesaias Zeitgenossen. Der Hauptvorwurf des Propheten besteht darin, dass die Juden den Tempeldienst zwar verrichten, jedoch nur als Routine, ohne die richtige Einstellung, was gerade vor dem Fastentag ein sehr wichtiger Gedanke ist. Es bringt wenig zu fasten und zu beten, wenn man gerade an die Einkäufe oder an den kommenden Urlaub denkt. Wenn man schon Zeit für G’tt gefunden hat, soll man dann auch voll dabei sein.

Eine sehr interessante Idee finden die chassidischen Gelehrten im Namen dieses Schabbats.

Chazon bedeutet ja „Vision“, also ein Blick in die Zukunft. Deshalb wird im Chassidismus gelernt, dass an diesem Schabbat G’tt uns die Vision von 3. Tempel „zeigt“. Diese Idee wird mit folgendem Gleichnis illustriert: ein Vater hat seinem Sohn ein schönes und teureres Hemd gekauft. Der Sohn war aber leichtsinnig, unvorsichtig und hat dieses wunderbare Hemd kaputt gemacht. Der Vater hat dem Sohn noch ein schönes und teureres Hemd gekauft. Auch diesmal passte der einsichtslose Sohn nicht auf und wieder ging das teurere Geschenk kaputt. Der Vater kaufte dem Sohn das 3. Hemd. Jedoch gab er diesmal das Geschenk dem Sohn nicht, sondern versteckte es. Einmal im Jahr holte der Vater das Hemd aus dem Versteck und zeigte es dem Sohn: „wenn du besser wirst und es verdienst, wirst du diesen Augenschmaus auch bekommen“.

Das gilt auch für uns: wir hatten schon zweimal schöne und prächtige Tempel von G’tt bekommen. Jedoch wurden sie wegen unseren Sünden zerstört. Wenn wir die T’schuwa richtig machen und zu G’tt zurückkehren, werden wir den 3. Tempel verdienen, der laut unseren Weisen nie zerstört sein wird. Und die Vision von Jesaia, der nicht nur zurechtweisen konnte, sondern den Juden auch die Rückkehr ins Heilige Land vorhergesagt hat, kann uns enorm helfen.

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