Die „Drei Wochen der Trauer”

Im Monat Juli gedenken wir der Zerstörung des ersten und des zweiten Tempels von Jerusalem.

„Die Zerstörung des Tempels von Jerusalem“ von Francesco Hayez (1867)© WIKIPEDIA

Von Dovid Gernetz

Was kommt Ihnen als erstes in den Sinn, wenn Sie an Sommer denken?

Ich denke Sonne, Meer und Ferien sind die Assoziationen, die den meisten Menschen einfallen würden, wobei dies sicherlich davon abhängt, wo man in der Regel seinen Urlaub verbringt. Schon allein der Gedanke an den Sommer bringt eine gewisse Entspannung mit sich und mancher wird sich sogar dabei ertappen, von seiner Fantasie an sein Traumziel „getragen“ zu werden.

Doch im Judentum ist dies nicht unbedingt der Fall. Nicht, dass es im Judentum keine Ferien gibt, aber normalerweise findet vor dem Urlaub ein gewisses Ereignis bzw. eine Kette von Ereignissen statt, welche die Vorfreude auf den Sommer trübt: Die „Drei Wochen der Trauer“.

 

Das zerbrochene Glas bei jüdischen Hochzeiten

Auch fast 2.000 Jahre nach der Zerstörung des Zweiten Tempels trauert das jüdische Volk noch immer und erinnert jedes Jahr daran, wie sehr uns der Tempel fehlt. Auch werden zahlreiche Bräuche während des Jahres praktiziert, die uns an den zerstörten Tempel erinnern sollen:

Wer eine neue Wohnung baut, lässt ein kleines Stück der Wand (ca. 0,5 m x 0,5 m) als Andenken an den zerstörten Tempel unbearbeitet und bei jeder jüdischen Hochzeit zerbricht der Bräutigam vor der Trauung ein Glas als Zeichen der Trauer.

Aber es gibt drei Wochen im Jahr, an denen die Trauer besonders intensiv ist, weil die Zerstörung des Tempels in dieser Zeitspanne passierte.

Diese schicksalshaften drei Wochen beginnen mit dem 17. Tammuz, einem Tag, der schon seit jeher von Unglücken heimgesucht wurde:

In der Mischna (Taanit Kap. 4, Mischna 6) werden 5 Unglücke aufgezählt, beginnend mit dem Zerbrechen der Tafeln durch Mosche (siehe Schmot Kap. 32). Doch im Zusammenhang mit der Zerstörung des Tempels wurde an diesem Tag, nach monatelanger Belagerung, die Mauer von Jerusalem von der römischen Armee durchbrochen.

 

Drei Wochen lang töteten die Römer die Juden von Jerusalem

Nach der Meinung des Jerusalemer Talmuds (Taanit 4:5) wurde bei der Zerstörung des Ersten Tempels auch die Jerusalemer Mauer am 17. Tammuz durch die Babylonier durchbrochen und nicht am 10. Tevet, wie es im Buch des Propheten Jeremia (Kap. 39,Vers 2) zu stehen scheint.

Doch der Babylonische Talmud (Taanit 28a) ist der Ansicht, dass es sehr wohl am 10. Tevet passierte und der 17.Tammuz lediglich deshalb ausgewählt wurde, weil die Zerstörung des Zweiten Tempels eine noch größere Tragödie für das jüdische Volk darstellte.

Nach dem Durchbruch der Mauer begann das römische Heer erbarmungslos zu plündern und zu morden, bis das Blut in Strömen floss. Dieses Gemetzel dauerte fast drei Wochen an.

Nachdem die Römer die kostbaren Schätze, unter ihnen die goldene Menora (siebenarmiger Leuchter), aus dem Tempel entwendet hatten, zündeten sie ihn am Abend des 9. Av an und er brannte den ganzen 10. Av.

Wer das Gemetzel überlebt hatte, wurde in Ketten nach Rom verschleppt, um als Sklave verkauft zu werden. Dies war der Beginn des Exils.

Die Ursache für die Zerstörung des Tempels und das anschließende Exil sind offensichtlich die Römer, welche den Tempel zerstörten und das jüdische Volk nach Rom vertrieben. Aber wie immer im Judentum gibt es einen tieferen, spirituellen Grund, warum G´tt die Zerstörung seines Heiligtums und die Vertreibung seines Volkes zuließ, oder besser gesagt, in die Wege leitete.

„Der Erste Tempel wurde aufgrund der drei ‚Kardinalsünden‘ Mord, Ehebruch und Götzendienst zerstört, und der zweite Tempel wegen ‚Sinat Chinam‘ [Sinnloser Hass].“

Talmud Traktat Yoma 9b

Das Exil nach der Zerstörung des Ersten Tempels dauert nur 70 Jahre, wobei das Exil nach der Zerstörung des Zweiten Tempels noch immer andauert (alle Verfolgungen, wie die grausamen Kreuzzüge, Inquisition, Pogrome sind auch Teil des römischen Exils). Daraus entnimmt der Talmud, dass sinnloser Hass schwerwiegender ist als die drei Kardinalsünden.

Doch wie kann sinnloser Hass schwerwiegender als die drei Kardinalsünden sein, wo doch das Verbot einen anderen Menschen zu hassen „nur“ ein „einfaches“ Verbot ist (siehe Vaikra 19:17) und man dafür zur Zeit des Sanhedrin (oberstes jüdisches Gericht) nicht einmal „Makkot“ (39 Schläge) bekam? Für die Kardinalsünden hingegen wurde man mit dem Tod bestraft!

Die Antwort ist, dass für ein Individuum natürlich die Kardinalsünden schwerwiegender sind und entsprechend bestraft werden, aber für eine ganze Gesellschaft sinnloser Hass noch schlimmer ist und sehr zerstörerische Auswirkungen hat.

 

Was genau ist „sinnloser“ Hass?

Seinen ersten Auftritt hat dieser sinnlose Hass in der Wüste, nachdem die Kundschafter von ihrer Reise zurückkehrten. Sie behaupteten, dass die Bewohner des Heiligen Landes zu mächtig sind und es ein Land sei, das seine Einwohner „auffresse“.

Nach dieser bitteren Nachricht weinte das gesamte Volk die ganze Nacht hindurch und behauptete, dass G´tt sie hasse und vernichten möchte. Als Strafe musste das jüdische Volk weitere 40 Jahre durch die Wüste wandern, bis die gesamte Generation des Auszuges aus Ägypten mit wenigen Ausnahmen ausgestorben war.

Wie konnte das jüdische Volk denken, dass sie von G´tt gehasst werden, wenn doch der Prophet Malachi (Kap. 1, Vers 2) in G´ttes Namen verkündete: „Ich liebe euch [jüdisches Volk], spricht G´tt!”

Der Midrasch Sifri (Sammlung von rabbinischen Schriften) antwortet, dass sie selbst es waren, die eine Abneigung gegen G´tt hatten. Sie aber nahmen diesen einseitigen Hass und projizierten ihn auf G´tt. Sie redeten sich selbst ein, dass dieser Hass auf Gegenseitigkeit beruhe und machten ein Skandal daraus. Sie gingen damit so weit, dass sie wirklich daran glaubten, dass G´tt sie aus Ägypten geführt hatte, nur um sie anschließend in der Wüste zu vernichten – und das nach all den Wundern, die G´tt für sie vollbracht hatte! Es war vollkommen sinnloser und unbegründeter Hass, und daher sein Name: „Sinat Chinam” (Sinnloser Hass).

Die verhängnisvolle Nacht, in der das jüdische Volk geweint hat, war der 9. Av und G´tt sagte, dass dieses Datum auch in Zukunft ein Datum der Katastrophen sein würde.

Auch die Zerstörung des Tempels kam infolge grundlosen Hasses zustande, wie es im Talmud (Gittin 59a) berichtet wird:

 

Verrat und das verletzte Tier

Ein angesehener Bewohner von Jerusalem wollte sich an den jüdischen Gelehrten rächen, weil sie sich nicht für seine Ehre eingesetzt hatten. Er entschied sich, den römischen Kaiser davon zu überzeugen, dass das jüdische Volk einen Aufstand gegen ihn plant. Der Kaiser fragte, ob er einen Beweis für diese Behauptung hat.

Der gekränkte Mann riet dem römischen Kaiser ein Tier nach Jerusalem zu schicken, damit es als Opfer im Tempel im Namen des Kaisers dargebracht wird. Falls sich das jüdische Volk weigern sollte, dann sei dies ein klarer Beweis der Untreue gegenüber dem Kaiser.

Der Kaiser war damit einverstanden und schickte ein Tier nach Jerusalem. Während der Reise von Rom nach Jerusalem fügte der Mann dem Tier eine Verletzung zu, sodass es nicht mehr geeignet war, um als Opfer im Tempel dargebracht zu werden.

Im Tempel wurde das Tier überprüft und wie erwartet wegen der Verletzung abgelehnt. Für den Kaiser war die Behauptung des Mannes dadurch bewiesen und so kam es zur Zerstörung des Tempels und der Vertreibung des jüdischen Volkes ins Exil.

„Mida Kneged Mida” (Strafe entsprechend zur Sünde) wurde der Tempel infolge von grundlosem Hass zerstört, denn der Kaiser war davon überzeugt, dass ihn das jüdische Volk hasse und gegen ihn rebellieren möchte, obwohl dies in Wahrheit gar nicht der Fall war.

 

Zerstörung der zwischenmenschlichen Beziehungen

Sinnloser Hass ist im Stande eine ganze Gesellschaft zu zerstören und die zwischenmenschlichen Beziehungen zu verderben. Wenn Menschen negativ übereinander denken und sich dementsprechend verhalten, dann kann kein friedliches Zusammenleben möglich sein. Wenn sich Menschen gegenseitig hassen, dann dauert es auch nicht lange, bis die Grenzen der Moral verschwimmen und danach gibt es kein Halten mehr.

Jetzt können wir verstehen, warum sinnloser Hass für eine Gesellschaft schlimmer ist als die drei Kardinalsünden. Wenn ein Mensch einer der drei Kardinalsünden begeht, dann übertritt er ein Verbot aus der Thora und verletzt im körperlichen oder geistigen Sinne andere Menschen, jedoch ist der Schaden relativ klein und lokal. Sinnloser Hass hingegen untergräbt die Grundlagen einer Gesellschaft und bringt viele Menschen dazu, ihre moralischen Werte niederzulegen.

Obwohl die Zerstörung des Zweiten Tempels fast 2.000 Jahre zurückliegt, scheint es, dass der Grund für die Zerstörung noch immer gegenwärtig ist, denn so lehren unsere Weisen (Jerusalemer Talmud Yoma 1:1): „Jede Generation, in welcher der Tempel nicht erbaut wurde, gleicht der Generation in welcher der Tempel zerstört wurde.“

Es scheint, dass es noch immer sinnlosen Hass zwischen uns Menschen gibt. Wenn Menschen für ihre Herkunft, Kultur und Religion gehasst werden, dann ist das ebenfalls sinn- und grundloser Hass.

Die Menschheit muss verstehen, dass wir alle Menschen sind und jedem von uns gebührt Respekt und Anerkennung. Wir müssen über die Unterschiede hinwegsehen und sinnlosen Hass aus der Welt vertilgen. Erst dann lässt sich erhoffen, dass wir den Fehler der Generationen beheben und würdig sind, den dritten und ewigen Tempel zu erhalten.

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